Achtung Sturmgefahr
Liebe Leserinnen und Leser,
die Corona-Pandemie spaltet die Gesellschaft. Ja, das ist nichts neues – und wir haben über die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie schon viel berichtet. Diese Spaltung betrifft aber auch die Debattenräume, beziehungsweise die Frage, wie die Pandemie einzuordnen ist. Das haben wir zuletzt in der Redaktion am eigenen Leib erfahren dürfen. Selten hat ein Beitrag solch heftigen, teils wütenden Widerspruch unserer Leserschaft ausgelöst, wie der Kommentar von Berthold Vogel.
Die Solidarität zerbricht von oben, konstatierte Vogel in unserer Ausgabe 16/2021 und übte scharfe Kritik an dem Auftritt mancher Intellektueller und Schauspieler gegen die Einschränkungsmaßnahmen der Bundesregierung. Es gibt aber auch MAKROSKOP-Autoren, die die Sache gänzlich anders sehen. Wir versuchen die Debatte im erhitzen Meinungsklima möglichst ausgewogen zu führen und uns nicht zu weit ins Minenfeld zu begeben. Nicht immer mag uns das gelingen.
Paul Steinhardt hat sich in ein eigenes Bild von einer öffentlichen Debatte gemacht, das wohl ebenfalls nicht auf Ihren ungeteilten Zuspruch stoßen dürfte. Die Reaktionen auf die Corona-Pandemie, so Steinhardt, zeigten vor allem eines: Die Macht des wirtschaftlichen und kulturellen Neoliberalismus sei ungebrochen. Die „Demokratie“ nur noch ein Kampfbegriff, um die Macht dieser Ideologie über Verstand und Herz zu bemänteln.
Das zeige schon die politische Prioritätenliste der Maßnahmen: vorrangig war immer „die Wirtschaft“. Ihre klügeren Vertreter haben sich, wie etwa der Ifo-Präsident Clemens Fuest, der sogenannten No-Covid Initiative angeschlossen, weil eine Überlastung des Gesundheitssystems unweigerlich auch Profitinteressen negativ tangieren würde. Was könnte klüger sein, als sich als Menschenfreunde zu geben, um Profite zu sichern? Im ersten Schritt schließt man aber lieber Sportvereine, in denen Jugendliche und Ehrenamtliche ohne jede Aussicht auf Profite „arbeiten“.
Schlechte Wetterlage aber auch andernorts: Die Rede ist von Shitstorms, die nicht nur jene erfassen, die sich in der Covid-Diskussion zu forsch nach vorne wagen – Stichwort: #allesdichtmachen. Der Shitstorm ist schon lange zuvor zu einem Alltagsphänomen geworden. Schon an kleinsten Petitessen entzündet sich seine soziale Empörungsdynamik. Da war zum Beispiel der Wirbel um Wolfgang Thierse und sein Verständnis von Identitätspolitik. Zwischenzeitlich erfasste der Sturm auch ein paar Gründer, die aus Versehen die falschen Hygieneartikel für Frauen gelauncht hatten. Dann die Causa Lehmann, Aogo und Boris Palmer.
Doch der Empörungssturm der vergangenen Wochen muss wohl als neuer Normalzustand gelten. Die Ursachen sind längst bekannt. Da das Geflecht zwischen digitalen und öffentlichen Räumen immer enger wird, wirken sich die im Netz entfachten Empörungsstürme auch immer direkter auf die Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung aus. Auf Kontextbedingungen des politischen Handelns wird selten bis gar nicht mehr eingegangen.
Während Lappalien und Bagatelldelikte zu bedeutenden gesellschaftlichen Kontroversen hochstilisiert werden, rangieren systemische Probleme und materielle Missstände, die Milieus abseits der digitalen Wortführerschaft betreffen, im Empörungskanon unter ferner liefen. Die Gefährdungslage ist akut, schreibt Dorian Hannig, seitdem die digital natives im Mainstream angekommen sind und die Debatten entscheidend mitbestimmen. So ist es dem Sozialcharakter des digitalen Trendsetters zu verdanken, dass immaterielle Werte, kosmopolitische Haltungen und der Geist einer take it easy-Lebensphilosophie zu Normgrößen des gesellschaftlichen Miteinanders werden konnten.
Just diese Normgrößen haben nicht zuletzt in Großbritannien zu Disruption der Parteienlandschaft und sozioökonomischen Gemengelage geführt. Labour, so das Urteil eines langjährigen Parteifunktionärs, sei von bürgerlichen “woke”-Kriegern faktisch gekapert worden und treffe wichtige Entscheidungen nur noch auf Social Media Plattformen. Plötzlich gewann Boris Johnsons Tories Anfang Mai die Nachwahl in der Stadt Hartlepool, dabei ist die Gegend im Nordosten des Landes jahrzehntelang eine Labour-Hochburg gewesen. Von einer Sensation war die Rede. Nicht viel besser sah es für Labour bei der Regionalwahl in zahlreichen anderen Landkreisen aus.
Einer, der diese Neujustierung der Parteien vorhergesagt hat, ist der konservative Journalist und Autor Nick Timothy. Timothy, der kurzzeitig Berater der früheren Premierministerin Theresa May war, stammt ebenfalls aus Birmingham und aus einfacheren Verhältnissen. Im März letzten Jahres erschien sein Buch, “Remaking One Nation”. Anschaulich beschreibt Timothy, warum die britische Arbeiterklasse derzeit Boris Johnsons Tories wählt. Und Sabine Beppler-Spahl hat dieses Buch anschaulich rezensiert.