Hilfe, Inflation!
Liebe Leserinnen und Leser,
Sie haben es schon gehört – die Preise steigen. Uns droht also, noch bevor die Corona-Krise überstanden ist, neues Ungemach: Ein Hauch von Hyperinflation! Zumindest wird die deutsche Urangst, „the German Angst“, gerade wieder kräftig bedient. „Die Nervenprobe steht bevor“, schreibt die WirtschaftsWoche, und das Handelsblatt titelt: „Die Inflation sollte uns Sorgen machen“.
Sorgen sollen wir uns immer, wenn die Preise um ein paar wenige Prozent steigen. Man kann fast die Uhr danach stellen. Inflation ist ein bisschen wie Staatsverschuldung. Sobald das Wort erwähnt wird, ist es mit der Vernunft am Ende. Rhetorik und Emotionen beherrschen die Debatte. Jeglicher Sinn für Proportionen verschwindet.
Da hilft es auch nicht, dass wir sehr sehr lange eine abnorm niedrige Inflation hatten (ein Nebenprodukt der neoliberalen Politik und der historischen Entwicklung). Über Jahre bewegte sich der Euro im deflationären Bereich – was aber kaum jemanden so recht interessierte – und nähert sich erst jetzt wieder der Zielinflationsmarke der EZB von 1,9 % an. Oder in den Worten unseres Konjunkturberichts: Lag die Inflationsrate im Dezember 2020 noch bei minus 0,3 %, liegt sie im März zum Ende des Ersten Quartals 2021 bei 1,3 % und damit auf einem Niveau, der für die Geldpolitik wünschenswert ist. Wie lange hatte die EZB verzweifelt versucht, dieses Ziel zu erreichen und die Staaten um unterstützende fiskalische Maßnahmen angefleht?
Vergessen. Doch wie einst die Altvorderen fürchtet sich eine ganze Generation schon vor den kleinsten Schritten hin zu einer Normalisierung. Doch was ist in diesen Zeiten schon normal?
Nicht die Inflation, schreibt unser Kolumnist Dirk Bezemer, sondern das Narrativ um die Inflation ist demnach die größte Gefahr für den Erfolg von „Bidenomics“ – die stark expansive Nachfragepolitik im Sinne eines aktiveren Keynesianismus. Joe Biden will eine anhaltende Stagnation und eine "Narbenbildung" in der Wirtschaft verhindern. Eine Politik, die auch EUropa gut stehen würde. Doch in den Medien kann man bereits sehen, wie die Begeisterung über die Wende unter Biden in besorgniserregende Kommentare umschlägt. Dieses Narrativ der moderaten Inflation als großes Problem ist eine ernsthafte Bedrohung für die Unterstützung seiner Politik.
Tatsächlich haben sowohl die Geldpolitik der Federal Reserve als auch die Fiskalpolitik in Washington zu extremen Mitteln gegriffen. Im April ist die Inflation dann um 4,2 Prozent angezogen – für nicht wenige Beobachter auch in den USA ein Grund zur Sorge. Allerdings, ähnlich wie in Europa, auf der Basis von zuvor niedrigen Produktpreisen. Anzeichen für einen baldigen rasanten Anstieg der Inflationsrate sind nicht auszumachen, so die Einschätzung unseres USA-Experten Jörg Bibow.
Ist die Inflation im Moment vielleicht sogar eher eine Lösung als ein Problem? Tatsache ist: Jeder Versuch, die Einkommen der "99 Prozent" wiederherzustellen, wird zu einer höheren Inflation führen. Und die ist vor allem Problem Nummer eins für die Reichen, die von ihrem Vermögen leben. Der reale Wert ihrer Aktien, Anleihen und Immobilien sinkt dadurch. Haben Fed und EZB mit ihrem Kampf gegen die niedrige Inflation Erfolg, würde das hohen Aktienbewertung den Boden entziehen, was die Gefahr eines Aktiencrash bzw. das Platzen einer Blase zur Folge hätte.
Die Kapitaleigner sind in Aufruhr – womit sich wiederum die teils hysterische Berichterstattung erklären ließe.