Nahrungsmittelspekulation

Der Krieg, die drohende Welthungerkrise und die Finanzmärkte

| 07. Juni 2022
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Der Ukraine-Krieg mag Auslöser der drohenden Hungerkrise sein. Ursache aber sind tiefgreifende Disfunktionalitäten der Agrarmärkte und nicht Putin.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine und der sich in die Länge ziehende Krieg verschärfen die durch die Corona-Krise ohnehin angespannte Ernährungslage in den armen Ländern der Welt dramatisch. Hinzu kommen weitere bewaffnete Auseinandersetzungen im Jemen, in Afghanistan und Äthiopien. Die Zahl der Hungernden, die seit 2017 wieder wächst, könnte nach UN-Schätzungen 2022 und 2023 „sprunghaft“ weiter ansteigen. Hauptursache ist der drastische Preisanstieg von Grundnahrungsmitteln: der FAO-Getreidepreisindex lag im Mai nahe dem Allzeithoch, 30 Prozent über dem Stand des Vorjahrs.

Ausgelöst wurde der aktuelle Anstieg durch den Ukraine-Krieg: Die Ukraine und Russland gehören zu den größten Getreideproduzenten der Welt. Außenministerin Annalena Baerbock behauptete vor den Vereinten Nationen, Russland führe einen „Kornkrieg“. Dagegen macht Russland die westlichen Sanktionen verantwortlich für die wachsenden Nahrungsmittelprobleme der armen Länder. Beide Behauptungen sind Teil von Propagandakampagnen, in denen sich Realität und Fiktion zu einem üblen medialen Gebräu vermischen, das den jeweiligen Gegner dämonisieren soll.

Doch die nüchternen Zahlen verweisen auf ganz andere Zusammenhänge: Globale Hungerkrisen sind nicht neu und haben – wie jene von 2008 – systemische Ursachen, unabhängig vom jeweiligen Auslöser. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Weizen verdeutlicht werden.

Der Weizenpreis stieg zwischen März 2021 und März 2022 von 240 Euro/Tonne bis auf 420 Euro, fiel dann nach Nachrichten über eine mögliche Öffnung der Schwarzmeerhäfen kurzzeitig auf 380 zurück. Innerhalb eines Jahres schwankte der Tonnenpreis um mehr als 100 Prozent, zwischen 197 und 438 Euro. Ursache des aktuellen Preisanstiegs sei, so die Lesart in den westlichen Medien, der durch den Krieg verursachte Ausfall ukrainischer Ernten, also ein Mengenproblem.   

Tatsächlich führt der Krieg zu einer deutlichen Verminderung der ukrainischen Weizenproduktion: Der globalen Weizenprognose des US-Department of Agriculture (USDA) vom Mai 2022 zufolge wird die Produktion 2022/23 weltweit bei 774,8 Millionen Tonnen liegen, ein Rückgang um 4,5 Millionen gegenüber der Vorperiode. Der globale Verbrauch wird auf 787,5 Millionen Tonnen geschätzt, ebenfalls etwas niedriger als im Vorjahr. Es ergibt sich ein rechnerisches Defizit von knapp 13 Millionen Tonnen, etwa 1,5 Prozent des Verbrauchs. Die Ukraine wird demnach nur noch 21,5 Millionen Tonnen Weizen produzieren, 11,5 Millionen Tonnen weniger als im Vorjahr. Dieser Rückgang könnte mengenmäßig leicht durch den Rückgriff auf bestehende Reserven in Höhe von ca. 280 Millionen Tonnen ausgeglichen werden.

Der globale Weizenhandel dagegen wächst weiter auf einen Rekordwert von knapp 205 Millionen Tonnen. Allerdings werden die Ausfuhren der Ukraine auf 10 Millionen Tonnen sinken, 9 Millionen weniger als im Vorjahr. Aber: „Die Exporte werden nach dieser Einschätzung durch erhöhte Lieferungen aus Russland und Kanada steigen, was die Rückgänge für die Ukraine und Australien mehr als ausgleicht“, heißt es im USDA-Report vom Mai. Russland, größter Weizenexporteur der Welt, erwartet eine Rekordernte von mindestens 87 Millionen Tonnen. Die Exporte werden auf 41 Millionen Tonnen geschätzt, 7 Millionen Tonnen mehr als in der Vorperiode. Dies trotz westlicher Sanktionen, die zwar Lebensmittel ausnehmen, aber wegen der Behinderung der Transport-Logistik und der Zahlungsströme auch Auswirkungen auf die Weizenexporte haben. Der partielle Exportstopp, den die russische Regierung zur Sicherung der eigenen Versorgung verfügt hatte, wird voraussichtlich zum 1. Juli 2022 aufgehoben.

Die oben dargestellten Fundamentaldaten für Produktion, Verbrauch und Exporte von Weizen können – trotz der Ausfälle in der Ukraine – die markanten Preissprünge und die daraus folgenden Wirkungen für die ärmsten Länder nicht erklären. Der Krieg in der Ukraine ist zwar Auslöser, nicht aber Ursache der drohenden Hungerkrise: im Moment gäbe es keine Knappheit von Nahrungsmitteln, konstatiert ein aktueller Report. Tatsächlich verweist die aktuelle Entwicklung auf tiefgreifende Disfunktionalitäten der Agrarmärkte. Diese sind zwar seit langem bekannt, die dominierenden Akteure aber sind weder willens noch in der Lage, daran etwas zu ändern.

Auf drei Aspekte sei hier kurz eingegangen:

Agrarländer, die sich nicht selbst ernähren können

Von den 46 von der UNCTAD als „least developed countries“ (2021) definierten Länder sind die meisten Netto-Nahrungsmittelimporteure. Obwohl es sich dabei um Agrarländer handelt, können sie sich nicht selbst ernähren. „Fast alle Agrarländer sind Nettoimporteure von Nahrungsmitteln …“ stellte die Weltbank schon 2008 fest.[1]

Ein dem UN-Welternährungsgipfel von 2021 vorliegende Studie bezeichnet die westlichen Agrarsubventionen als eine der wichtigsten Ursachen für die Schwäche der Agrarwirtschaft in den armen Ländern: Mit mehr als 500 Milliarden US-Dollar jährlich wird die Agrarindustrie in den reichen- und Schwellenländern subventioniert. So werden landwirtschaftliche Systeme stabilisiert, die sich die armen Länder und die Millionen von Kleinbauern nicht leisten können.

Mehr als die Hälfte der Hungernden weltweit sind Bauern. Millionen von Bauern stehen wenigen Handelsketten, Agrarkonzernen und Lieferanten agrarischer Inputs gegenüber, ein Marktungleichgewicht, das schon der Weltentwicklungsbericht der Weltbank von 2008 skandalisiert hatte.[2] Geändert hat sich seither nichts.

Falsche Prioritäten der internationalen Gemeinschaft

Der Kampf gegen den Hunger in der Welt wäre leicht zu gewinnen, würde die ‚internationale Gemeinschaft‘ richtige Prioritäten setzen. Das International Institute for Sustainable Development (IISD) legte 2020 eine Studie vor, in der es berechnete, „was es die Regierungen (kostet), bis zum Jahr 2030 den Hunger zu beenden, die Einkommen der Kleinerzeuger zu verdoppeln und das Klima zu schützen.“

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die entwicklungspolitischen Geber im Agrarbereich in der laufenden Dekade zusätzlich 12 Milliarden US-Dollar jährlich aufbringen müssten, um 490 Millionen Menschen vom Hunger zu befreien und die Einkommen von 545 Millionen Kleinerzeugern zu verdoppeln. Weitere 19 Milliarden jährlich müssten von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen über Steuern erbracht werden. Zusammengerechnet wären also im laufenden Jahrzehnt rund 300 Milliarden US-Dollar zusätzlich erforderlich – eine gemessen an den mehr als 20 Billionen, die im gleichen Zeitraum weltweit für Rüstung ausgegeben werden, geradezu lächerliche Summe.

Allein das am 3. Juni 2022 auf den Weg gebrachte deutsche „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro würde reichen, um den innerhalb von zehn Jahren erforderlichen zusätzlichen Geberanteil zu finanzieren.

Finanzspekulationen als Preistreiber

Ein globales Produktionsdefizit von 1,5 Prozent der jährlichen Weizenproduktion kann Preissprünge von mehr als 50 Prozent nicht erklären. Die Ursachen der dramatisch gewachsenen Preis-Volatilität an den Nahrungsmittelmärkten sind bekannt: Die große Mehrzahl der Akteure an den internationalen Rohstoffbörsen, wo die Preise der meisten Nahrungsmittel gebildet werden, sind inzwischen „non-commercial traders“, das heißt, sie haben keinerlei Beziehung zum gehandelten Produkt, sondern sind reine Finanzinvestoren.

Kurz nach Kriegsbeginn flossen zusätzliche Milliarden in Agrarfonds, einzelne Fonds verhundertfachten ihre Tagesumsätze unmittelbar nach dem russischen Einmarsch.[3] Der Kriegsbeginn hat Spekulanten auf den Plan gerufen, die einmalige Gewinnchancen witterten. Im Kontext der globalen Hungerkrise von 2008 wurden diese Zusammenhänge gut erforscht: An der weltweit wichtigsten Börse für Agrarprodukte, der CBOT in Chicago, wurde schon 2011 das 73-fache der verfügbaren Weizenmenge gehandelt: Jedes Weizenkorn wechselte – vermittelt über Derivate und andere Finanzprodukte – 73 Mal den Besitzer, bevor es beim Verarbeiter ankam.[4]

Daran hat sich seither wenig geändert, obwohl es nach 2008 Versuche gab, den Umfang der Finanzgeschäfte mit Nahrungsmitteln zu begrenzen. Diese sind weitgehend gescheitert. Ein aktueller Bericht des Institute für Agriculture & Trade Policy (IATP) verweist auf die dominierende Rolle der Finanzspekulation über Index-Fonds, ETFs und Future-Contracte: Das Versagen der Regulationsbehörden habe „ein System geschaffen, das die Preisschocks im Kontext der russischen Invasion eher vergrössert als abfedert.“

Der Bericht macht deutlich, dass unter den US-Präsidenten Obama und Trump die Regulierungsversuche der einflussreichen US-amerikanischen „Commodity Futures Trading Commission“ (CFTC) systematisch untergraben wurden mit dem Argument, man solle die Märkt lieber sich selbst überlassen. Am 15. Oktober 2020 verlor die CFTC endgültig ihren zehnjährigen Kampf gegen die Wall-Street: Die Kontrolleure hatten versucht, den Umfang der Finanzinvestitionen bei 26 kritischen Waren, darunter Weizen, zu begrenzen. Der Versuch wurde am besagten Datum mit einer knappen Mehrheit der CFTC-Kommissionäre gestoppt.

Diese Zusammenhänge sind Fachleuten und politisch Verantwortlichen durchaus bekannt. Während öffentlich von ‚Hungerkriegen‘ schwadroniert wurde, befasste sich die außerordentliche Zusammenkunft der G7-Finanzminister am 11. März 2022 unter anderem mit der Rolle „spekulativer Verhaltensweisen“, und der „future markets“ als Preistreiber bei Lebensmitteln: Man würden diese Entwicklungen „aufmerksam überwachen“ und „volle Transparenz sichern“. Konkrete Maßnahmen gegen die Spekulation wie etwa Positionsbegrenzungen der Finanzinvestoren oder Börsenumsatzsteuern – alles bekannte Instrumente – hatten die Minister allerdings nicht im Angebot.  

[1] Weltentwicklungsbericht 2008, Washington DC. 2007, 109
[2] Ebd., 159
[3] IPES, ebd., 11
[4] Wege aus der Hungerkrise. Die Erkenntnisse des Weltagrarberichtes und seine Vorschläge für eine Landwirtschaft von morgen, Spekulation mit Nahrungsmitteln
Vgl. auch: Jörg Goldberg, Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, in: Michael Bergstresser, Franz-Josef Möllenberg, Gerd Pohl (Hrsg.), Globale Hungerkrise. Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung, Hamburg 2009, 100-116