Ukraine-Krieg

Der vorletzte Sargnagel für das deutsche Exportmodell

| 07. Juni 2022
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Der Ukraine-Krieg und die Corona-Krise demonstrieren die Bedeutung eines robusten Wirtschaftsmodells. Die ausgeprägt exportabhängige deutsche Wirtschaft ist aber genau das Gegenteil. Ein „Rebalancing“ ist überfällig.

Die Alarmmeldungen zum Zustand der deutschen Industrie häufen sich in diesen Monaten. Das Ifo-Institut meldete im März einen „historischen Einbruch“ bei den Geschäftserwartungen (und seitdem eine Stabilisierung auf historisch niedrigem Niveau), der Sachverständigenrat ein „substanzielles Rezessionsrisiko“ und weist zudem darauf hin, dass Deutschland – im Kontrast etwa zu den USA – noch nicht einmal das Vor-Corona-Niveau erreicht hat. Im Gegenteil, der vielfach prognostizierte Post-Pandemie-Boom fällt in Deutschland ganz aus, das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) rechnet bis mindestens 2024 mit einer schwierigen Lage.

Die Ursache dieser Meldungen ist einfach zu lokalisieren – es ist der Exportsektor. Dieser Sektor spielt mit einer Exportquote Deutschlands von 47,5% eine wesentlich größere Rolle als in allen anderen großen Ökonomien, etwa im Vergleich zu Frankreich (29,9), Japan (18,4) oder den USA (10,8).

Die international aktiven deutschen Unternehmen berichten inzwischen im vierten Jahr in Folge von negativen globalen Geschäftsperspektiven, eine miserable Tendenz im Vergleich zu den frühen 2010er Jahren.

Die ausgeprägte Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft hat zwar in den letzten fünfzehn Jahren zu einem soliden Wirtschaftswachstum und einer vergleichsweise geringen Arbeitslosigkeit geführt, weist aber nun deutlich zunehmende Nachteile auf. Während andere Nationen aufgrund der starken Rolle der Binnenwirtschaft über ihr eigenes Schicksal in erheblichem Maße selbst bestimmen können, ist Deutschland überproportional von internationalen Entwicklungen abhängig.

In den vergangenen beiden Dekaden waren die internationalen Rahmenbedingungen für das deutsche Exportmodell– insbesondere wegen dem Aufstieg der Schwellenländer und ihrer Nachfrage nach unseren Produkten – sehr günstig, verkehren sie sich nun aber in ihr Gegenteil. Die Kombination von negativen Faktoren ist so extrem, dass es nicht falsch ist, von einem „perfekten Sturm“ zu sprechen.

Belastungen durch den Ukraine-Krieg

Im Zentrum der aktuellen Aufmerksamkeit steht der russische Krieg gegen die Ukraine. Hier fallen die deutschen Exporte durch die Sanktionen und den Krieg weitestgehend weg. Da Russland Anfang 2022 gerade noch an Position 14 der wichtigsten Exportmärkte lag (die deutschen Exporte nach Russland hatten sich unter anderem wegen der Krim-Sanktionen bereits in der Dekade vor dem Krieg halbiert), ist das makroökonomisch verschmerzbar, wenn auch für einige der laut Angabe des DIHK etwa 40.000 Betriebe mit Geschäftsbeziehungen nach Russland und den 250.000 Vollzeitbeschäftigen im Russlandexport schmerzhaft.

Allerdings sind wegfallende Absatzmärkte in Russland und der Ukraine noch die geringste kriegsbedingte Belastung für die deutsche Exportindustrie, wie eine Studie des IW demonstriert. Weitaus gravierender sind explodierende Energiepreise, die Möglichkeit demnächst ganz fehlender Gaslieferungen sowie ausfallende Lieferungen von Vorprodukten, etwa Kabelbäume für die Autoindustrie und Software-Dienstleistungen aus der Ukraine. Die deutsche Exportindustrie ist quasi ein „Durchlauferhitzer“ und veredelt zumeist Vorprodukte, in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus China und Osteuropa.

Hinzu kommen die indirekten Belastungen für die deutschen Exporte. Erhöhte Preise für Energie und Nahrung dämpfen den Konsum in den deutschen Exportmärkten, geopolitische Verunsicherung führt dazu, dass Investitionen auf Eis gelegt werden, ein besonders intensives Problem für die deutsche Maschinenbauindustrie.

Zero Covid

Angesichts der Dominanz des Ukraine-Kriegs in den deutschen Medien wird mitunter vergessen, dass aktuell das größte Problem für die deutsche Wirtschaft noch weiter östlich liegt: in China.

Die in China gewählte Form der Corona-Bekämpfung mit ihrer strikten Quarantäne („Zero Covid“) führt zu massiven Belastungen der deutschen Exportindustrie. Auch hier geht es geht es nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags nur zum Teil um weniger Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen, stornierte Aufträge oder die Streichung von Investitionen, sondern insbesondere Probleme in der Lieferkette wie fehlende Vorleistungen – da helfen dann auch prall gefüllte Auftragsbücher nichts mehr.

Inzwischen melden laut DIHK zwei Drittel der Unternehmen fehlende Waren und Dienstleistungen. Hier rächt sich der seit einiger Zeit deutlich gestiegene Anteil von Vorleistungen aus China – und der verringerte Anteil von „Made in Germany“ – an den deutschen Exporten, der in manchen Branchen sogar 40% der Wertschöpfung beträgt.

In der wichtigsten deutschen Exportbranche, der Automobilindustrie, spielt aber neben den Lieferketten auch die Abhängigkeit vom chinesischen Exportmarkt eine große Rolle. VW beispielsweise setzt mittlerweile über 40 Prozent seiner Autos in China ab. Derzeit verdient Volkswagen – wie BMW und Mercedes – noch gut, aber das geht vor allem auf Kosten der Zulieferindustrie, die bereits mit dem Rücken zur Wand steht.

Struktureller Rückgang der Globalisierung

Der Ukraine-Krieg und die Auswirkungen der Corona-Pandemie in China sind aber nur die besonders akuten Probleme der deutschen Exportwirtschaft. Wir sehen bereits seit einigen Jahren einen Prozess der strukturellen Stagnation der Globalisierung, die ja noch vor kurzem als unaufhaltsam beschrieben wurde.

Insbesondere im für Deutschland überproportional bedeutsamen Güterhandel gibt es sogar seit der globalen Finanzkrise einen Rückgang in Relation zur Wirtschaftsleistung, so eine 2020 erschienene Studie von Prognos-Institut und Bayern-LB. Und innerhalb des Güterhandels behaupten sich vor allem die Konsumgüter – nicht die für Deutschlands Maschinenbau besonders wichtigen Investitionsgüter.

Nur im Dienstleistungshandel und bei Datenströmen – beides quantitativ bisher für Deutschland eher zu vernachlässigen – vertieft sich die Globalisierung noch weiter. Prognos-Institut und Bayern LB haben schon alleine daraus geschlossen, dass die viel zu stark exportorientierte deutsche Wirtschaft nun ein „neues Geschäftsmodell“ benötige. Die FAZ fordert inzwischen von Baden-Württemberg sogar: „Mehr Autarkie wagen".

Die Corona-Krise verstärkt den Rückgang der Globalisierung im Warenhandel noch weiter, durch Tendenzen zur Verlagerung der Produktion in die Nähe der Absatzmärkte („Nearshoring“). Wenn die großen deutschen Exportunternehmen noch mehr Fertigungsstätten in verschiedenen Regionen des Globus aufbauen, muss das für ihre (inzwischen vorwiegend ausländischen) Aktionäre nicht unbedingt ein Problem darstellen; für die Beschäftigten in Deutschland allerdings schon.

Zunehmender Protektionismus

Auch der in den letzten Jahren deutlich zunehmende Protektionismus trägt zur Deglobalisierung bei. Das zeigt die aktuelle Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. Bereits vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs berichteten die 2700 teilnehmenden Unternehmen über eine deutliche Zunahme an Handelshemmnissen. So waren bereits 54% der Unternehme von solchen Hemmnissen – beispielsweise lokale Zertifizierungs- und Sicherheitsanforderungen –  betroffen, ein deutlicher Anstieg von 32% im Jahr 2017.

Deglobalisierung und Protektionismus sind jedoch nicht nur ein Problem der letzten Jahre, wie das IW in einer längerfristigen Bestandsaufnahme seit 2008 feststellt:

„De-Globalisierung, Protektionismus und Krisen treffen das deutsche Exportmodell hart“.

Die Zunahme des Protektionismus liegt auch an der Schwäche der Welthandelsorganisation. Das Welthandelsregime stagniert bereits schon länger, inzwischen seit einem Vierteljahrhundert. Vorher haben die beteiligten Regierungen in regelmäßigen Handelsrunden Maßnahmen zur Handelsliberalisierung ausgehandelt, im Rahmen des GATT („General Agreement on Trades and Tariffs“). Die letzte erfolgreiche Runde hat 1995 auch zur Gründung der Welthandelsorganisation WTO geführt. Seitdem allerdings konnte kein weiteres Abkommen erfolgreich abgeschlossen werden, obwohl es in vielen Bereichen dringenden Regelungsbedarf gibt, etwa bei Subventionen oder dem E-Commerce.

USA und China: Vom Handelsscharmützel zum globalen Systemkonflikt

Während sich die Tendenzen zur Erosion der Globalisierung zunächst eher schleichend entwickelt haben, droht im Kontext des Konflikts zwischen den USA und China inzwischen die Eskalation eines gelegentlichen Handelskonflikts zum globalen Systemkonflikt.

Deutschland sitzt in diesem Konflikt zwischen den Stühlen, beide Seiten hätten es gerne auf ihrer Seite. Die exportlastige deutsche Wirtschaft kann es sich aber nicht erlauben, es sich mit einem der beiden Handelspartner zu verscherzen. Die USA waren 2021 der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Exporte, China die Nummer zwei.

Auch wenn es im Handelskonflikt zwischen China und den USA nach der Abwahl von Präsident Donald Trump zwischenzeitlich zu einer Entspannung kam, muss von einem dauerhaften Konflikt zwischen den beiden Großmächten ausgegangen werden.

In den letzten Jahren hat sich auf Seiten der USA ein fundamentaler Wandel in Bezug auf die Einschätzung Chinas ergeben. Seitdem wird China im außenpolitischen Establishment der USA – und zwar sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten – nicht mehr als Partner, sondern als systemischer Wettbewerber um die Vormachtstellung in der Geopolitik angesehen, wie eine gerade veröffentlichte Studie zu den amerikanischen China-Exporten herausgestellt hat.

Selbst die amerikanische Wirtschaft, einschließlich der Wall Street, setzt sich inzwischen nicht mehr durchgehend für ein kooperatives Verhältnis zu China ein. Neben dem ewigen Ärger, der die Verletzung intellektueller Eigentumsrechte betrifft, ist inzwischen der Eindruck getreten, dass chinesische Konzerne aufgrund ihrer dynamischen Entwicklung bei Zukunftstechnologien wie 5G und Künstlicher Intelligenz in absehbarer Zeit zu gefährlichen Konkurrenten ihrer amerikanischen Ebenbilder heranwachsen könnten.

Aus Sicht der Stiftung Wissenschaft und Politik kann sich aus diesem „amerikanisch-chinesischen Weltkonflikt“ ganz leicht eine De-Globalisierung zugunsten zweier getrennter Sphären ergeben – eine unter chinesischer und eine unter amerikanischer Dominanz. Dritte Länder werden sich entscheiden müssen, für die eine oder andere Seite. Für die deutsche Exportindustrie sind das miserable Perspektiven.

Neue Risiken in China

Nicht nur die zunehmenden Spannungen mit den USA machen den deutschen Exporteuren Sorgen hinsichtlich ihrer weiteren Geschäfte in China, sondern auch die neuen Restriktionen innerhalb des Landes, denen sie zunehmend ausgesetzt sind.

Zu den neuesten Herausforderungen gehört die Ausweitung des umfassenden chinesischen Sozialkreditsystems auf Unternehmen. Ganz abgesehen von generellen Sorgen über die damit zur Verfügung zu stellenden Daten besteht das Risiko, dass deutsche Unternehmen, die sich in irgendeiner Form politisch unliebsam gemacht haben, als „stark vertrauensunwürdige Unternehmen“ eingestuft und aus dem Land geworfen werden – eine für manche Unternehmen angesichts der Bedeutung der chinesischen Exportmärkte existentielle Bedrohung.

Risiken drohen der deutschen Exportindustrie in Zukunft zudem auch von der Neuausrichtung der chinesischen Ökonomie. Diese wandelt sich nicht nur von der traditionellen Rolle als Produktionsökonomie zu einer modernen Dienstleistungsökonomie, sondern auch weg von arbeitsintensiven Billigexporten und hin zu High-Tech-Exporten. Diese Reorientierung bremst nicht nur die Nachfrage nach deutschen Ausrüstungsgütern im Maschinenbau, der zusammen mit der Autobranche der wichtigste Exportsektor ist. Sondern sie sorgt mittelfristig auch dafür, dass chinesische Unternehmen als Konkurrenten mit einem ähnlichen Produktportfolio wie die deutsche Industrie auftreten.

Die Gewerkschaft IG BCE sieht die deutsche chemische Industrie inzwischen von „Chinas Streben nach Dominanz in globalen Zuliefer- und Wertschöpfungsketten“ deutlich herausgefordert. Seit etwa 2015 sieht sie einen klaren Wandel von der Kooperation zur Systemkonkurrenz und fordert ein Nachdenken über die Abkopplung von den zunehmend chinesisch geprägten Wertschöpfungsketten.

Weitere Spannungen ergeben sich durch politische Irritationen über chinesische Firmenkäufe in Deutschland. Gegenmaßnahmen der Bundesregierung können schnell zu Restriktionen für deutsche Exporteure führen. Ein China-Boom, wie ihn die deutsche Exportindustrie in den vergangenen drei Jahrzehnten erlebt hat, dürfte sich jedenfalls nicht wiederholen.

Die Herausforderung einer wertebasierten Außenpolitik

Auch jenseits offen ausgetragener Konflikte stellt die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ein großes politisches Risiko dar. Nicht zuletzt die aktuellen Spannungen mit China machen auf einen weiteren Nachteil der besonderen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft aufmerksam: die damit einhergehende politische Erpressbarkeit.

So fielen deutsche Bundesregierungen seit längerem mit einer sehr gemäßigten Rhetorik gegenüber chinesischen Menschenrechtsverstößen auf. Man kann von der Sinnhaftigkeit solcher Belehrungen halten was man will, der Zusammenhang der Abhängigkeit der deutschen Industrie vom Export nach China ist jedenfalls unverkennbar.

Auch diese Situation ist durchaus fragil, eine Situation, bei der die deutsche Außenpolitik und die Interessen der Exportwirtschaft frontal kollidieren, ist leicht vorstellbar – zumal bei der Durchsetzung einer „wertebasierten Außenpolitik“ durch Außenministerin Annalena Baerbock. Sie ist damit nicht allein, auch SPD-Vorstand Gustav Horn fordert eine „wertebasierte Handelspolitik“.

Wie so etwas ausgeht, konnte man jüngst im Fall Litauen sehen, das diplomatische Beziehungen mit Taiwan aufgenommen hat. In der Folge durften auch deutsche Autozulieferer wie Continental und Hella nicht mehr ihre Produkte aus litauischen Werken nach China liefern. Die FAZ war darüber so erschrocken, dass sie gleich titelte, dass „Deutschlands Exportmodell in Gefahr“ ist.

Chinesische Sanktionen gegen Deutschland – oder deutsche Sanktionen gegen China – würden für unsere Industrie jedenfalls unerträglich sein, wenn man bedenkt, dass bereits jene gegenüber Russland – bei einem Bruchteil des Exportvolumens – schon sehr schmerzen.

Ganz zu schweigen von den Geschäftspartnern der deutschen Exportindustrie im Nahen und Mittleren Osten – und ihren Bilanzen in Sachen Krieg und Menschenrechte. Deswegen wundert es auch nicht, dass  BDI-Präsident Russwurm gerade nicht nur vor den „dramatischen Folgen“ von Sanktionen gegen China warnte, sondern generell vor einer Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik:

„Wenn wir nur in liberalen Demokratien Geschäfte machen, dann wird die Welt für das Exportland Deutschland ziemlich eng“.

Gravierende Probleme in den wichtigsten europäischen Absatzmärkten

Die auswärtigen Geschäftsperspektiven waren bei der Umfrage des DIHK im Februar nur noch in zwei Weltregionen überhaupt positiv, den USA und Europa. Das war aber noch vor der Ankündigung deutlicher Leitzinserhöhungen durch die Fed, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in den USA zu einer Rezession führen wird.

Unabhängig davon hat die Biden-Regierung den protektionistischen Kurs der Trump-Administration in den letzten beiden Jahren ja sogar noch weiter verschärft – zum Leidwesen der deutschen Exportindustrie.

Wenn schon die außereuropäischen Absatzmärkte wegbrechen, kann sich das deutsche Exportmodell wenigstens auf die europäischen verlassen? Leider nicht, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Die südeuropäischen Wirtschaften schlittern seit zehn Jahren von einer Krise in die nächste. Nachdem sie zunächst sehr hart von der Eurokrise getroffen wurden, fiel auch die Corona-Pandemie dort besonders gravierend aus. Und nun wird die äußerst fragile Erholung aller Wahrscheinlichkeit nach von der Zinspolitik der EZB torpediert, angesichts der hohen Schuldenstände in Südeuropa eine erhebliche Belastung.

Im Nordwesten sieht es nicht besser aus. Die Unsicherheit über den Verlauf und die Folgen des Brexit hat bereits frühzeitig seine negativen Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft gezeigt. Der Handel zwischen Deutschland und Großbritannien ist in den letzten Jahren bereits deutlich zurückgegangen – früher war das Land die drittwichtigste deutsche Exportadresse – , inzwischen entwickeln sich die Geschäftsperspektiven der deutschen Exporteure hier noch schlechter als in jeder anderen Weltregion. Kurz danach kommt auf der Negativliste die Türkei, ebenfalls ein traditionell wichtiger Exportmarkt, der gerade dramatisch wegbricht.

Osteuropa wird in absehbarer Zeit von den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sehr stark belastet, insbesondere von den Flüchtlingsströmen. In einer längerfristigen Perspektive droht der deutschen Exportwirtschaft dort noch aus anderer Richtung Unheil: In Osteuropa wächst das Bewusstsein für die extreme Abhängigkeit von ausländischen (vor allem deutschen, automobilen) Unternehmen – zumindest in jenen Staaten, die es sich nicht bereits in der „Audicracy“ (Cas Mudde) bequem gemacht haben wie Ungarn. Der polnische Premierminister Morawiecki jedenfalls betont dieses Problem nachdrücklich, insbesondere im Hinblick auf die damit einhergehende Schwächung der polnischen Industrie.

Bisher wird die prominente Rolle deutscher Exportunternehmen in der Region noch toleriert, man benötigt auch den damit einhergehenden Technologietransfer. Zudem werden größere Konflikte mit Deutschland vermieden, um die finanziellen EU-Transfers nicht zu gefährden. Langfristig allerdings ist damit zu rechnen, dass man die Rolle der deutschen Exportunternehmen in der osteuropäischen Wirtschaft deutlich zurückdrängen möchte, zugunsten der Firmen in eigener Hand.

Der vorletzte Sargnagel

In Zukunft drohen der deutschen Wirtschaft aufgrund ihrer Exportorientierung also – selbst nach Überwindung der aktuellen Lieferkettenprobleme – erhebliche Risiken, da fast alle ihrer Kernabsatzmärkte mit erheblichen ökonomischen und politischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Diese Risiken reichen vom strukturellen Rückgang der Globalisierung über den Brexit sowie den neuen Kalten Krieg mit China und Russland bis hin zur Schwäche der meisten EU-Exportmärkte.

Selbst wenn nicht alle diese Risiken real werden sollten, ist schon die wachsende Unsicherheit für die Exportunternehmen eine erhebliche Belastung – wer nimmt in einer solchen Situation noch langfristige Investitionen zur Erweiterung von Produktionskapazitäten vor?

Stark mit dem Ausland verflochtene Ökonomien wie die deutsche reagieren auf einen geopolitischen Schock weit stärker als weniger verflochtene. Und solche Schocks sind in einer Ära der Erosion der westlich dominierten Weltwirtschaftsordnung viel wahrscheinlicher als in den Jahrzehnten davor.

Der Ukrainekrieg ist nur ein weiterer Sargnagel für das deutsche Wirtschaftsmodell, wahrscheinlich der vorletzte – der letzte wird dann wohl eine militärische Konfrontation zwischen den USA und China sein.

Ausweg „Rebalancing“

Die logische Schlussfolgerung aus dieser Diagnose allerdings wird von den Medien und politischen Entscheidungsträgern bisher noch nicht gezogen. Dabei liegt sie nah: wir müssen die deutsche Wirtschaft ausbalancieren, zugunsten einer ausgewogeneren Kombination von Binnen- und Exportnachfrage. Hier ist wirklich eine „Zeitenwende“ notwendig – oder, um es mit Jan-Werner Müller zu sagen:

„This should be the hour of structural adjustment for Germany, and what has been called its ideology of Exportismus“.

Ein makroökonomisches „Rebalancing“ ist wirtschaftspolitisch nicht schwer, die notwendigen Maßnahmen der Lohn- und Fiskalpolitik sind bekannt (siehe hier) und passen zu den Aufgaben, die ohnehin in nächster Zeit anstehen: den Kampf gegen den Klimawandel, die Überholung der Infrastruktur in Deutschland und die Verbesserung der Bildungssysteme sowie des Pflegebereichs. Andere Länder haben es vorgemacht.

Beispiel China

Die chinesische Regierung hat bereits nach der globalen Wirtschaftskrise 2008 damit begonnen, die starke Exportausrichtung der eigenen Ökonomie zu reduzieren. Ab 2009 lösten inländische Anlageinvestitionen die Exporte als zentraler Treiber der chinesischen Wirtschaft ab, ab 2013 dann zunehmend Investitionen in Humankapital, Forschung und Entwicklung sowie eine Stimulierung der Nachfrage der chinesischen Privathaushalte. Die Strategie zur Ausbalancierung war inzwischen auch ansatzweise erfolgreich, in den letzten Jahren tendiert die chinesische Leistungsbilanz nach vielen Jahren mit erheblichen Überschüssen zunehmend ausgeglichen.

Die deutsche Bundesbank verweist in ihrer Analyse dieses Wandels auf „Grenzen der Exportorientierung“, einerseits in Bezug auf die Aufnahmefähigkeit des globalen Marktes, andererseits aber auch in Bezug auf die steigenden Arbeitskosten im Land, die in einem klaren Spannungsverhältnis zu einer auf Preiskonkurrenz basierenden Exportstrategie stehen. Die Lösung Chinas bestand einerseits in einer technologischen Aufwertung der Exporte und andererseits in einer Steigerung der Nachfrage der Privathaushalte, beides Optionen, die auch Deutschland offenstehen.

China ist auch nicht der einzige Fall einer erfolgreichen Ausbalancierung im Falle eines hohen Leistungsbilanzüberschusses, der im Regelfall auf ein zu stark exportgetriebenes Wachstumsmodell verweist. Der Internationale Währungsfonds hat in seinem External Sector Report 2017 eine ganze Reihe von Fällen von hohen und dauerhaften Überschüssen analysiert, die ausbalanciert wurden, von Belgien über Finnland bis Taiwan. Die Maßnahmen zur Ausbalancierung ähneln sich – mit einer prominenten Rolle für starke Lohnerhöhungen.

In allen diesen Fällen reduziert eine Stärkung die Binnennachfrage die Abhängigkeit von Exporten – und damit auch von einer fortschreitenden De-Globalisierung. Noch ist der Sarg nicht ganz vernagelt, viel Zeit bleibt aber nicht mehr.