Geschichte von Geld und Schulden

Kann es unmoralisch sein, seine Schulden zu begleichen?

| 20. Juni 2023
istock.com/Müge Ayma

Ein archäologischen Forschungsprojekt zur Wirtschaftsgeschichte der Bronzezeit unter Leitung des US-Ökonomen Michael Hudson inspirierte einen Bestseller. Was können wir aus der frühen Geschichte des Geldes lernen?

Das Finanzwesen habe mit der Realwirtschaft nichts zu tun, behauptet die Neoklassik. Nach ihr ist Geld nichts anderes als ein Bankservice, mit dem die Wirtschaftsakteure ihre Transaktionen leichter abwickeln könnten – ein Service, der den Tauschhandel ersetzt, etwa Schwein für Tische, um mit diesen dann Werkzeug einkaufen zu können. Dementsprechend beeinflusse Geld lediglich den Preis; durch die korrekte Steuerung der Geldmenge sei es die Aufgabe der Zentralbank, inflationäre Entwicklungen zu verhindern. Folglich sei das Ausmaß privater Schulden (oder der Verschuldung von Staaten in Fremdwährungen) für die Realwirtschaft ohne Belang, da sich dadurch lediglich die Verteilung einer vorhandenen Geldsumme ändere. Staatsschulden hingegen seien mit Sorge zu betrachten, da mit der höheren Geldmenge die Inflationsgefahr steige.

Diese „klassische Dichotomie“ lehnte schon Keynes als empirisch falsch ab. Eines der Grundpostulate der Postkeynesianer ist die „Endogenität“ des Geldes. Die Zentralbank kann die Geldmenge nicht steuern, weil sie die Geldschöpfung der Banken über die Kreditvergabe nicht kontrolliert. Die Geldmenge hängt von der Nachfrage nach Krediten und somit von den Investitionsentscheidungen der Kunden ab.[1] Und diese Nachfrage sowie die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit privater Schuldner, ihre Kredite zu bedienen, hat selbstverständlich großen Einfluss auf die Entwicklung der Realwirtschaft.

Der Ökonom Steve Keen beschreibt[2], wie die schweren kapitalistischen Wirtschaftskrisen seit 1846 alle „durch ein zu hohes Maß an privater Verschuldung verursacht“ wurden, „gefolgt von einer Negativentwicklung des Kreditvolumens.“[3] Erst über die Kriege, die regelmäßig auf viele Krisen folgten, sei das Verhältnis zwischen Privatschulden und BIP wieder so bereinigt worden, dass Wirtschaftswachstum möglich wurde.

Aus der Geschichte lernen?

Es ist jedoch nicht nur empirisch falsch, dass unsere heutige Wirtschaft wie eine Tauschwirtschaft funktioniert. Auch die – vielfach als selbstverständlich betrachtete – Annahme, das Geld sei erfunden worden, weil unseren Vorfahren der Tauschhandel zu mühselig wurde, entspricht nicht den historischen Tatsachen. Es sei vielmehr umgekehrt so gewesen, schreibt der Ökonom Michael Hudson, dass am Ende des römischen Reiches eine archaische Kreditwirtschaft, in der die großen staatlichen Institutionen die Geldschöpfung beförderten, notgedrungen dem Tauschhandel verfiel – nach einem durch fehlende Kontrolle der allgemeinen Verschuldung erfolgten vollständigem Kollaps.[4]

David Graebers nach der Finanzkrise 2008 im Jahre 2011 erschienener Bestseller „Schulden – die ersten 5000 Jahre“ rüttelte gemeinsam mit der occupy-Bewegung gründlich an einem weiteren Postulat, das im Alltagsbewusstsein fest verankert ist – moralisch und rechtlich: Schulden müssen in jedem Fall bezahlt werden, die Rechte der Gläubiger haben immer absoluten Vorrang gegenüber denen der Schuldner.

Schon Keynes’ gescheiterter Vorschlag für eine neue Weltwirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, der Bancor-Plan, sah Mechanismen vor, die auch die internationalen Gläubiger in die Pflicht nahm und ausgeglichene Handelsbilanzen forderte. Keynes Absicht war es, die zu starke Überschuldung der Länder mit Handelsbilanzdefiziten zu verhindern.

Nach der Covid-Pandemie und mit der Verteuerung von Energie-, Düngemittel und Lebensmittelimporten infolge der Russland-Sanktionen ist das Schulden-Problem aktueller denn je, wie der Ökonom Bill Mitchell vorrechnet. Demnach befinden sich 15 Prozent aller nach IWF- und Weltbank-Kriterien als einkommensarme Länder eingestuften Staaten in einer unmittelbaren Schuldenkrise, weitere 45 Prozent gelten als krisengefährdet. Dafür gäbe es nur eine Lösung: einen allgemeinen Schuldenerlass.

Was viele nicht wissen: Das Buch des Anthropologen Graeber fußte nicht unbeträchtlich auf einem archäologischen Forschungsprojekt zur Wirtschaftsgeschichte der Bronzezeit unter der Leitung von Michael Hudson. Die Ergebnisse dieses Projekts und weiterer historischer Forschungen fasst Hudson in seiner Trilogie The Tyranny of Debt zusammen, deren zweiter Band im Mai 2023 erschien.[5]

Archäologische und historische Befunde

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass in den Stadtstaaten Mesopotamiens Geld nicht in einer Tausch-, sondern in einer Kreditwirtschaft entstand, in der es drei Funktionen hatte: als Mittel der Buchführung, als vereinfachtes Mittel zur Begleichung von Schulden und als Mittel zur Gewinnberechnung und -aufbewahrung.

In den Stammesgesellschaften, aus denen diese Stadtstaaten hervorgegangen waren, wurden Dienstleistungen in der Regel nicht quantitativ aufgerechnet, es gab ein enges Netz geregelter gegenseitiger sozialer Verpflichtungen, in das jedes Mitglied der Gemeinschaft eingebunden war und auf deren Schutz es sich verlassen konnte. Wer diese missachtete, musste soziale Konsequenzen befürchten. Hatte ein Stammesführer überschüssigen Reichtum gesammelt, so wurde dieser nicht gehortet, sondern man erwartete von ihm, dass er diesen den Göttern opferte und/oder der Gemeinschaft stiftete.

In einem Bereich wurde genaues Aufrechnen als notwendig betrachtet: Für den Fall, dass jemand getötet oder verletzt wurde, legte man genaue Sühnebeträge – ein wergild – fest, abhängig vom sozialen Stand des Geschädigten und der Art des körperlichen Schadens. Hier wurde zur Herstellung des Friedens eine tatsächliche Schuld genau bewertet und beglichen.

Anders in den Stadtstaaten. Dort bereinigten die Bauern weder eine Schuld noch einen Vorschuss. Vielmehr kamen sie mit ihren Abgaben an den Palast einer Verpflichtung nach, die ihnen im Austausch für die Zuteilung von Land zur Bewirtschaftung auferlegt war. Entgegen weit verbreiteter Annahmen herrschte in dieser Zeit keine zentral verwaltete Zwangswirtschaft; es gab freie Bauern, denen der König Land zugesprochen hatte. Dafür mussten sie Wehrdienst leisten, Abgaben zahlen und in den Infrastrukturprojekten mitarbeiten, ohne die das Staatswesen nicht funktionieren konnte (Bewässerungskanäle, Stadtmauern …), und deren Abschluss regelmäßig gemeinsam groß gefeiert wurde.

Neben dieser bäuerlichen existierte eine eigenständige Tempel-Wirtschaft mit eigenen Ländereien. Die Tempel nahmen Witwen und Waisen auf, und es entstand dort schon früh eine arbeitsteilige Handwerkskunst, zum Beispiel die Weberei. Die Tempel boten auch Dienstleistungen an, etwa die der Bierbrauer, bei denen die Bauern anschrieben und nach der Ernte bezahlten.  

Diese hierarchisch organisierten Gesellschaften brauchten genaue Buchhaltung und Maßeinheiten für die jeweiligen Verpflichtungen; die der Bauern wurden in Getreide, die der Händler und Beamten in Silber bemessen.

So entstanden in der Konstellation Palast – Tempel – Bauern Klassengesellschaften. Diese eröffneten den Beamten, die die Abläufe regelten, viele Möglichkeiten, sich zu bereichern, auch auf „ungerechte“ Weise, zum Beispiel durch gefälschte Maße. Als das lukrativste Geschäft erwies sich die Begleichung der „Schulden“ derjenigen Bauern, die nicht die Mittel hatten, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Das kam vor, auch wenn bei allgemeinen Missernten in der Regel die Abgaben erlassen wurden. Diese Vorschüsse mussten dann durch die Bauern selbst oder ihre Familienmitglieder abgearbeitet werden. Üblich war dabei auch, unabhängig vom Schuldenwert als Druckmittel Teile des bäuerlichen Besitzes als Pfand einzuziehen. Das konnte die Betroffenen tiefer ins Unglück stürzen, etwa wenn die Jungen des gepfändeten Viehs dem Gläubiger zufielen, der Schuldner aber das Futter bezahlen musste.

Wie die Zinsen in die Welt kamen

Zinsen waren anfangs unbekannt, das sollte sich aber im dritten Jahrtausend vor Christus grundlegend und mit nachhaltigen Folgen im Mesopotamien ändern. Wie kam es dazu, dass die Menschen in diesen Gesellschaften Zinsen als gerecht empfanden?

Die Stadtstaaten waren abhängig von Handelsprodukten. Um Werkzeuge und Waffen herstellen zu können benötigten sie Metalle. Der Handel lag in der Hand der Könige, die private Kaufleute damit beauftragten. Diese nahmen die in den Tempeln hergestellten Handwerksprodukte in Kommission und mussten dafür Waren zu einem genau festgelegten Silberwert liefern. In der Zwischenzeit konnten sie aber mit eigenen Geschäften auf den freien Märkten der damaligen Welt viel Geld verdienen, weswegen es als fair erschien, dass dieser Wert – um einen auf eine bestimmte Zeit bezogenen festgelegten Prozentsatz – höher lag als der Ursprungswert der kommissionierten Waren, zumal der Palast bei höherer Gewalt auch Verluste in Kauf nehmen musste. So kamen die Zinsen in die Welt – und wurden nun ebenfalls auf die Schulden der bäuerlichen Bevölkerung erhoben. Verzinste Schuldverpflichtungen setzten sich auch in anderen Kulturen durch, der ursprüngliche Sinnzusammenhang ging im Verlauf der Geschichte verloren.

Die Probleme jedoch waren nicht zu übersehen. Es gehörte zu den Übungsaufgaben der Tempelschüler Mesopotamiens zu berechnen, wie Zinsen exponentiell steigen, während die Realwirtschaft nicht mithalten kann. Schon bald gerieten immer mehr freie Bauern in Abhängigkeit und sogar in dauerhafte Schuldknechtschaft. Durch die gesamte Geschichte der Bronzezeit ziehen sich Schuldenschnitte (die nur die Getreideschulden der Bauern betrafen), die alle Könige zum Regierungsantritt oder zu anderen Anlässen erließen und groß gefeiert wurden. So wurde die gesellschaftliche Balance in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wieder hergestellt.

Es war keine Philanthropie, die die Herrscher dazu bewog, sich gegen die Interessen ihrer Beamtenoligarchie durchzusetzen, sondern Eigennutz: die über das Maß ausgebeuteten Bauern liefen entweder weg oder mussten für die Beamten arbeiten. Für den Wehrdienst oder Gemeinschaftsaufgaben standen sie nicht mehr zur Verfügung. Und das gefährdete nicht nur die persönliche Stellung der Könige, sondern auch die Existenz des Stadtstaates.

In der biblischen Zeit änderte sich die Rolle der Könige, die gerne mit ihren Oligarchen gemeinsame Sache machten. So fiel den Propheten die Rolle zu, Schuldenerlasse zur Entlastung des geknechteten Volkes zu fordern. Schuldenerlass-Jahre wurden nun zum Teil des göttlich verfügten Gesetzeskodexes. Jesus’ Forderung nach Vergebung der Schulden, stand in der Tradition dieser Propheten und war wörtlich gemeint, so Hudson. Erst als die christliche Kirche Staatsreligion wurde, seien seine Worte im Sinne spiritueller und zwischenmenschlicher Schuld uminterpretiert worden.

Der jüngst erschienene zweite Band von Hudsons Triologie vollzieht nach, wie sich die Auseinandersetzung zwischen Volk, Oligarchie und den „Tyrannen“, die ebenfalls von Zeit zu Zeit Schuldenerlasse durchsetzen, durch die gesamte Antike zog. Hudsons Befund: Die Dynamik der zinstragenden Schulden habe zum Aufstieg der Rentier-Oligarchien im klassischen Griechenland und Rom geführt. Nur all zu oft habe sich dabei hinter dem Ruf nach Freiheit, Demokratie und Sturz der Tyrannen, die Freiheit der Rentier-Oligarchien und ihres Systems der Ausbeutung verborgen.

Lange Zeit, schreibt Hudson, glaubte die herrschende Klasse Roms, sich die Verarmung ihrer Bevölkerung leisten zu können. Man setzte Söldnerarmeen ein, und die aus den Provinzen extrahierten Überschüsse kompensierten die fehlende Produktivität im eigenen Land. Aber die wirtschaftliche Polarisierung führte immer wieder zu Revolten, Kriegen und schließlich auch zum Zusammenbruch des Römischen Reiches und den Übergang in Leibeigenschaft und Feudalismus. Lange Zeit gab es danach in Europa weder Geld noch Zinsen. Das der westlichen Zivilisation hinterlassene Erbe der Antike, so Hudson, sei die in den heutigen schuldenbelasteten Volkswirtschaften immer noch gültige gläubigerfreundliche Rechtsphilosophie.

Drei vorläufige Schlussfolgerungen

Erstens: Könnten moderne Gesellschaften von den Herrschern der Bronzezeit lernen, dass es nötig ist, in regelmäßigen Abständen durch Schuldenerlasse einen wirtschaftlich gesunden Zustand wieder herzustellen? Steven Keen bejaht die Frage und stellt einen konkreten Vorschlag vor, der ohne einen Krieg auskommt.

Zweitens: Auch in Klassengesellschaften gibt es ein Allgemeinwohl. Wie die Propheten der Bibel immer wieder betonten, geht es nicht um individuelles Wohl- oder Fehlverhalten und die entsprechenden individuellen Konsequenzen. Lässt eine Gesellschaft die Verarmung und Verelendung großer Teile ihrer Bevölkerung zu, rächt sich das am gesamten Staatswesen.

Drittens: Kann es unmoralisch sein, seine Schulden zu begleichen? Sokrates fragte einen Schüler, ob man ein geliehenes Schwert zurückgeben müsse, wenn man ziemlich genau wisse, dass der Gläubiger jemanden damit töten würde. Der Schüler antwortete mit nein. Gilt das nicht für die einkommensarmen Länder genauso, die Gesundheitsprogramme kürzen müssen, um ihre Schulden zu bezahlen?

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[1]Wie Steven Keen schreibt, gaben mehrere Zentralbanken den Postkeynesianern recht, indem sie zugaben, dass nur Zinsniveau durch sie beeinflussbar ist, nicht die Geldmenge. Das führte aber nicht zur Änderung der neoklassischen Doktrin.
[2]Ausführlicher in seinem Buch Keen, Steven: The New Economics: A Manifesto, 2021
[3]Postkeynesianer „machen sich keine Sorgen um die Staatsverschuldung, weil sie auf die Tatsache verweisen, dass die Regierung "ihre eigene Bank besitzt" und das Geld schaffen kann, das für die Zahlung der Zinsen auf ihre Schulden benötigt wird, solange es in ihrer eigenen Währung denominiert ist,“ ergänzt Keen.
[4]Michael Hudson: ...and forgive them their debts: Lending, Foreclosure and Redemption From Bronze Age Finance to the Jubilee Year (THE TYRANNY OF DEBT Book 1), 2019, S. 60
[5]   Michael Hudson: The Collapse of Antiquity: Greece and Rome as Civilization’s Oligarchic Turning Point, 2023. Der dritte Band, der bis zur Gegenwart führt, ist in Arbeit. Hier spricht Hudson über das Buch.