Limitarismus

Was tun mit den Superreichen?

| 21. Juni 2023
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Eine kleine Klasse von Rentiers besitzt ein Vermögen, das so groß ist, dass sie allein von ihrer Rendite im Luxus leben kann. Doch wie ließe sich dieser ‚Rentier-Kapitalismus‘ am besten überwinden? Eine linkskeynesianische Analyse.  

Eine Strömung des Neoliberalismus lehnt den Wohlfahrtsstaat ab und begründet dies mit dem Eigeninteresse der Individuen. Dabei werden jedoch weder das langfristige Interesse der Menschen an einer guten Daseinsvorsorge noch die Tatsache berücksichtigt, dass im Kapitalismus einige Personen deutlich mehr Vermögen besitzen als andere.

Dieses Vermögen entsteht durch die Ausnutzung unterschiedlicher Machtverhältnisse, insbesondere bei der Aushandlung von Arbeitsverträgen, wie es die marxsche Ausbeutungstheorie beschreibt. Doch Ausbeutung tritt auch in anderen Vertragsverhältnissen auf. Das politische Programm zur Überwindung des Neoliberalismus könnte daher entweder im Sinne des Sozialismus nach Marx liegen, also in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, oder im Linkskeynesianismus, einem gerechtigkeitstheoretischen Limitarismus, der die Klasse der Vermögenden durch eine sehr progressive Besteuerung einhegen will.

Die interessenbezogene Legitimation des Sozialstaats

Ein wesentliches Charakteristikum des Neoliberalismus ist die Polemik gegen die Steuern, die zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaates nötig sind. Dies lässt sich sowohl in den Reden Ronald Reagans und Margaret Thatchers erkennen als auch in der theoretisch sehr anspruchsvollen Abhandlung „Die Grenzen der Freiheit“ von James M. Buchanan. Bereits auf den ersten Seiten positioniert sich Buchanan gegen die „Beschleunigung des Steuerdrucks“. Wie genau Buchanan die Forderung nach niedrigen Steuern im Rahmen seine Hobbesianischen Kontraktualistischen jedoch begründen will, der von den Interessen der Individuen ausgeht, bleibt unklar. Individuen haben zwar ein Interesse an möglichst niedrigen Steuern, ebenso aber an einem Staat mit einer gut ausgebauten öffentlichen Infrastruktur.

Die Kosten der Sozialversicherungen werden von den Gegnern des Wohlfahrtsstaates als ‚zu hoch‘ deklamiert – obgleich es im langfristigen Interesse eines Jeden ist, für das Alter vorzusorgen oder sich gegen Krankheit und Unfälle abzusichern. Und nur dieses langfristige Interesse kann als rational gelten. Die hohen Kosten der medizinischen Versorgung in den USA zeigen eindrücklich, dass private Vorsorge teurer ist als staatliche, wenngleich die private Absicherung gegen Altersrisiken und Krankheit nicht in die Staatsquote fällt.

Doch wie sollte ein Staat mit ausgebauter Infrastruktur und guten Sozialleistungen finanziert werden? Eine Analyse der Kontroverse um den Wohlfahrtsstaat kann nicht bloß auf der Ebene der individuellen Interessen verbleiben, sondern muss die Klasseninteressen der unterschiedlichen Einkommen und Vermögen berücksichtigen. Da der gesellschaftliche Wohlstand ungleich verteilt ist, müsste auch die Steuerlast ungleich verteilt werden.

Die Klasse der Rentiers

Es geht an dieser Stelle nicht um Kritik an hohen Einkommen aus Erwerbstätigkeit, die oft über ein Konzept von ‚Leistung‘ gerechtfertigt werden; die Rendite auf Vermögen kann nämlich auf diese Weise nicht gerechtfertigt werden. Selbst wenn ein Teil des Vermögens ursprünglich aus Erwerbsarbeit resultierte, entsteht der andere aus den Zinserträgen. 

Aber wie entsteht aus Vermögen jene Rendite, die es weiter vermehrt? Nach dem marxschen Klassenbegriff ist der Arbeiter im Kapitalismus zwar rechtlich frei, aber auch frei von „von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“. Die Verhandlungspositionen beim Abschluss des Arbeitsvertrages sind sehr ungleich: der Arbeiter ist auf die Produktionsmittel angewiesen, die das Unternehmen besitzt, der Unternehmer kann daher die Bedingungen des Arbeitsvertrages diktieren, und sich den vom Arbeiter produzierten Mehrwert aneignen.

Ein Mietvertrag lässt sich, ähnlich wie der Arbeitsvertrag, als ein Machtverhältnis analysieren. Menschen sind auf eine Wohnung angewiesen, viele Mieter haben aber keine reale Möglichkeit, sie selbst zu besitzen. Der Vermieter kann also – insbesondere in Ballungsräumen mit Wohnungsmangel – die Bedingungen des Mietvertrages diktieren, und mit hohen Mieten Profite erwirtschaften. Ähnliches gilt im Gesundheitssektor: Wer krank wird, oder einen Unfall erleidet, hat kaum die Möglichkeit, in Ruhe die Preise und Qualität verschiedener ärztlicher Leistungen zu vergleichen. Gesundheit ist keine Ware. Deswegen sollte der Staat den Gesundheitssektor organisieren, oder zumindest strikt regulieren. Die horrenden Arztrechnungen und Kosten für Medikamente in den USA resultieren aus einem unzureichend regulierten Gesundheitssektor.

Kauf, Miete, Arbeitsverhältnis, Arztbesuch – sie alle sind, rechtlich gesehen, Verträge. Indem man die Machtverhältnisse analysiert, die diesen Verträgen zu Grunde liegen, lässt sich erklären, wie in der bürgerlichen Gesellschaft, deren Mitglieder rechtlich gleichgestellt sind, Ausbeutung entsteht. Wer in der Lage ist, die Preise für lebensnotwendige Medikamente zu bestimmen, oder als Vermieter die Miete, oder als Arbeitgeber die Höhe der Löhne, ist in der Lage, den schwächeren Verhandlungspartner die Bedingungen zu diktieren.

Dies ist die wesentliche Quelle der Profite; sie ermöglichen die Existenz einer Klasse von Rentiers, deren Vermögen so groß ist, dass sie allein von der Rendite desselben in relativem Luxus leben könnten. Im modernen Kapitalismus ist der Ausbeuter in den meisten Fällen keine konkrete Person, sondern ein gesichtsloser Konzern, der das Interesse seiner Anteilseigner bedienen muss.

Natürlich kann man sich von einem ausreichend hohen Erwerbseinkommen Aktien oder Anteile an Immobilien kaufen, und auf diese Weise ist es für manche denkbar, selbst in die Klasse der Vermögenden aufzusteigen. Aber manche Menschen haben das Privileg, bereits in dieser Klasse geboren zu sein. Diese Menschen streben meistens gar nicht das bequeme Leben eines Privatiers an, sondern verstehen sich als Teil der wirtschaftlichen und politischen Elite. Dank ihres familiären Vermögens ist für sie, in den USA und in England, der Besuch der prestigereichen – und ohne Stipendium extrem teuren – Universitäten selbstverständlich. Entsprechend vorgezeichnet ist der Weg, um mit Geld oder familiäre Beziehungen hohe Posten in Wirtschaft und Politik zu erlangen.

Die bürgerliche Gesellschaft hat zwar die Privilegien des Adels und des Klerus abgeschafft, ohne aber dabei die der Vermögenden in Frage zu stellen. Thomas Piketty beschreibt diese Klasse der „Eigentümergesellschaft“ am Anfang des 19. Jahrhunderts unter anderem mit Hinweisen auf die Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac. Diese mussten, am Vorabend der industriellen Revolution, ihren Lesern nicht erklären, „dass es ein Kapital in einer Größenordnung von 200.000 Pfund braucht, um eine Jahresrente von 10 000 Pfund zu erzielen“. Für diese Frühphase des Kapitalismus, die „Zeit von 1870 bis 1914“, sieht Piketty eine „nach oben offene Spirale der Ungleichheit.“ Nach 1914 reduzierte sich die Ungleichheit allmählich, bis es etwa zwischen 1950 und 1980 eine vergleichsweise „egalitäre Phase“ gab. Diese sozialdemokratischen Jahrzehnte, die sich insbesondere auf eine progressive Besteuerung mit hohen Spitzensteuersätzen stützten, ging jedoch mit der neoliberalen Wende der 1980er zu Ende. Was folgte, war eine neue Phase des „Hyperkapitalismus“.  

Neoliberalismus: Interessenpolitik für die Vermögenden

Begreift man die Politik des Steuersparens, der Deregulierung und der Privatisierung als Interessenspolitik der Vermögenden, dann hat der Neoliberalismus vorläufig obsiegt. Die bestehenden parlamentarischen Demokratien sind ein Biotop legaler Korruption: Parteispenden, Lobbyismus und der berüchtigte Drehtür-Effekt, bei dem Politiker in die Wirtschaft wechseln und Berater von Konzernen in den Ministerien arbeiten. Ob Privatisierungen der öffentlichen Infrastruktur (bekanntes Beispiel: Raststätten an Autobahnen),  oder der unzureichende soziale Wohnungsbau – die marktliberale Ideologie, welche die vorgeblichen wirtschaftlichen Vorteile solcher Privatisierungen betont, bildet die legitimatorische Grundlage für diese Interessenspolitik.

Dabei ist es zunächst unerheblich, ob Politiker direkt Geld erhalten haben (wie etwa Friedrich Merz durch den Vermögensverwalter Blackrock) oder ob sie der Ideologie jener gut vernetzten Think Tanks aufgesessen sind, welche die Vermögenden mit ihrem Geld betreiben lassen. Dieser Proprietarismus (Piketty) ist allerdings ambivalent, insbesondere in Bezug auf die Staatsschulden. Drohen Steuererhöhungen, soll der Staat möglichst viel sparen; drohen diese allerdings nicht, sollte er durchaus Schulden machen, damit die Staatsschulden als Geldanlage zur Verfügung stehen. So verdoppelten sich unter Ronald Reagan die Staatsschulden der USA – und verdreifachten sich die Zinszahlungen für die Schulden. Auch bei der öffentlichen Infrastruktur, welche die Vermögenden präferiert nutzen, wie Flughäfen und Autobahnen, wird kaum gespart – stattdessen in den Bereichen ÖPNV und Bildung. Das haushaltpolitische Elend in jenen Kommunen, in denen neue Schulgebäude nur durch massive Verschuldung finanzierbar sind, ist bei diesen Machtverhältnissen unvermeidbar.

Ähnlich ambivalent ist die Forderung nach Deregulierung: Diese darf natürlich nicht so weit gehen, dass es zu einem Crash an den Finanzmärkten kommt und dem Verlust des dort angelegten Kapitals.  Auch die Reichen haben ein Interesse an der Stabilität des Finanzsektors und der Gesellschaft im Allgemeinen; Einsparungen und Deregulierungen dürfen nicht so weit gehen, dass sie die Funktionsfähigkeit zentraler Institutionen gefährden.

Die Ideologie des Minimalstaats, wie sie in James M. Buchanans „Die Grenzen der Freiheit“ zu finden ist, lässt sich insofern als taktische Position verstehen, welche insbesondere in den 1970ern im Interesse der Vermögenden war, als die Spitzensteuersätze vergleichsweise hoch waren. Hingegen ist Liz Truss 2022 mit dem Programm massiver Steuersenkungen als Premierministerin des Vereinigten Königreiches gescheitert. Der Siegeszug des Neoliberalismus hat auch deswegen sein vorläufiges Ende erreichet, weil noch weitergehende Kürzungen und Deregulierungen aus der Sicht der Vermögenden irrational wären.   

Linkskeynesianismus und Limitarismus

Die marxistische Fokussierung auf die Ausbeutung der Fabrikarbeiter greift heute zu kurz. Betroffen sind auch die Mieter in teuren Großstädten oder Patienten in einem nicht hinreichend regulierten Gesundheitssystem. Die Klasse der Vermögenden besteht nicht nur aus den Kapitalisten im Sinne von Marx. Rendite lässt sich auch auf andere Weise erzielen als durch den Besitz der materiellen Produktionsmittel. Der Sozialgeograph Brett Christophers spricht treffend von einem ‚Rentier-Kapitalismus‘.

Der Unterschied zu Marx‘ Konzeption des Kapitalismus wird deutlich, wenn man die politische Strategie zu dessen Überwindung betrachtet. Die Klasse der Vermögenden ließe sich theoretisch allein durch hohe Sätze bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer abschaffen. Dann wäre ein Zustand erreicht, den Keynes in Kapitel 24 der „General Theory“ von 1936 auf berüchtigte Formulierung der „Euthanasie des Rentiers“ gebracht hat (die in der deutschen Übersetzung entschärft wurde). Damit ist natürlich nicht gemeint, dass man das 1 Prozent der Superreichen erschießen solle, sondern dass die Vermögenden ‚als Klasse‘ absterben werden. Zur Abgrenzung von anderen Ansätzen, die sich auf Keynes berufen, müsste dieses politische Programm allerdings ‚linkskeynesianisch‘ bezeichnet werden. Es geht nicht darum, ‚Schulden zu machen‘, sondern darum, einen Teil der Kosten des Wohlfahrtsstaates durch hohe Steuern auf Vermögen und Erbschaften aufzubringen.

Eine andere Bezeichnung, die dafür in Frage kommt, ist der ‚Limitarismus‘, ein neuerer Ansatz zur Verteilungsgerechtigkeit, der in Belgien und den Niederlanden öffentlich diskutiert wird. Mit den Mitteln des Steuerrechts lässt sich die Anhäufung von Vermögen absolut begrenzen. Je nachdem, wie hoch der Steuersatz und der Freibetrag von Erbschafts- und Vermögenssteuer angesetzt würde, gäbe es wahrscheinlich noch Millionäre, aber definitiv keine Milliardäre mehr. Neben der limitaristischen Steuerpolitik bräuchte man natürlich noch entsprechende Regulierungen, zum Beispiel einen Mietendeckel in Großstädten.

Im Gegensatz zum Marxismus würde dabei das Privateigentum an Kapital allerdings nicht abgeschafft – der Staat würde nur verhindern, dass es sich über ein bestimmtes Maß hinaus anhäuft. Aus Sicht marxistischer Sozialisten sind Linkskeynesianismus und Limitarismus daher auch keine Formen des Sozialismus, obgleich ein solches politisches Programm durch Bernie Sanders in den USA unter dem Stichwort ‚demokratischer Sozialismus‘ vertreten wird.

Hier bedarf es sprachlicher Präzision. Die neoliberale Wende erfolgte in Deutschland später als in den USA oder Großbritannien; sie lässt sich entweder auf 1997 verorten, als die damalige Regierung Kohl die Frist hatte verstreichen lassen, die das Bundesverfassungsgericht für die Reform der Vermögenssteuer gesetzt hatte, wodurch sie abgeschafft wurde. Oder im Zuge der Hartz-IV-Reform unter der Regierung Schröder ab 2005.

Die neoliberale Wende der SPD dürfte einen Anteil daran gehabt haben, dass sich DIE LINKE im Parteisystem der BRD etabliert hat, aber welchen Gegenentwurf sie zur Interessenpolitik für die Vermögenden bieten will, ist immer noch unklar. Der verbale Radikalismus ihrer Kapitalismuskritik und die häufige Berufung auf Marx erwecken den Eindruck, dass die Partei an dem Ziel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel festhält. Durch Artikel 15 des Grundgesetzes ist dies in Deutschland zwar ausdrücklich möglich; eine linkskeynesianische Steuerpolitik hingegen ließe sich im Vergleich dazu wesentlich einfacher umsetzen – und wäre, zumindest in der Sicht ihrer Gegner, auch eine Form des Sozialismus.