Brüsseler Spitzen

Noch ein Sargnagel: Klein aber fein

| 16. Juni 2021
Rahulla Torabi

Ursula von der Leyens Unfähigkeit, die Schweiz in den Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zur Kapitulation zu bewegen, schwächt ihre Position weiter: noch ein Nagel im Sarg des Brüsseler Einheitseuropas.

Ende Mai erklärte die Schweizer Regierung jahrelange Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein sogenanntes institutionelles Rahmenabkommen für beendet. Das Abkommen sollte die rund hundert bilateralen Verträge konsolidieren und erweitern, die derzeit die Beziehungen zwischen den beiden Seiten regeln. Die Verhandlungen hatten 2014 begonnen und wurden vier Jahre später abgeschlossen, doch innerschweizerische Opposition stand der Ratifizierung im Wege.

In den Folgejahren bemühte sich die Schweiz im Wesentlichen in vier Fragen um Zusicherungen: zur Möglichkeit einer Fortsetzung der staatlichen Hilfe für ihren großen und florierenden Kleinunternehmenssektor; zur Einwanderung und dem Recht der Schweiz, sie auf Arbeitnehmer zu beschränken, anstatt alle Bürger von EU-Mitgliedstaaten aufnehmen zu müssen; zum Schutz der (hohen) Löhne in den weltweit sehr erfolgreichen Schweizer Exportindustrien; sowie zu der von der EU geforderten Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs bei Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung gemeinsamer Verträge. Da keine Fortschritte erzielt wurden, setzte sich in der Schweiz der Eindruck durch, dass es sich bei dem Rahmenvertrag tatsächlich um einen Beherrschungsvertrag handelte, der zu sehr einem EU-Anschluss ähnelte, wie ihn die Schweizer 1992 in einer Volksabstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt haten.

Es gibt interessante Parallelen zu Großbritannien und dem Brexit. Beide Länder haben ihre eigenen Varianten der Demokratie entwickelt, die ein tiefes Bekenntnis zu einer majoritären Volkssouveränität gemeinsam haben, die nationale staatliche Souveränität erfordert. Dies erschwert es ihnen, in Außenbeziehungen einzutreten, die die kollektive Willensbildung ihrer Staatsvölker einschränken.

Großbritannien löste dieses Problem teilweise dadurch, dass es sich zum Zentrum eines Imperiums machte, anstatt sich zur Peripherie eines solches machen zu lassen – also seine nationale Souveränität verteidigte, indem es die nationale Souveränität anderer enteignete; während die Schweiz sich für auf ewig neutral erklärte und sich bereit machte, sich, wie de Gaulle es für Frankreich formuliert hatte, in alle Himmelsrichtungen (tous les azimutes) zu verteidigen. Die britische Volkssouveränität wird von einem Parlament ausgeübt, das nicht an eine schriftliche Verfassung gebunden ist und daher alles mit einfacher Mehrheit entscheiden kann, ohne jemals eine Supermajorität zu benötigen. Auch gibt es kein Verfassungsgericht, das dem Parlament in die Quere kommen könnte, und ebenso wenig kann dies die Zweite Kammer, das House of Lords. Dass ein oberster Gerichtshof wie derjenige der EU das Recht haben sollte, das britische Parlament zu überstimmen, war immer letztlich unvereinbar mit der britischen Idee einer souveränen Volksdemokratie und wurde zu einer Hauptquelle des britischen Unbehagens an der EU, das dann im Brexit gipfelte.

Entsprechend erwies sich die Zumutung, dass ein ausländisches Gericht mit ausländischen Richtern einen Mehrheitsbeschluss des Schweizer Volkes sollte für ungültig erklären können, als mit dem schweizerischen Demokratiegedanken unvereinbar; indem dieser einen Swentry schon früh unmöglich machte, machte er einen Swexit in der Zukunft unnötig.

Natürlich ist die Schweiz viel kleiner als Großbritannien, und ihr nationales Parlament hat fast nichts zu sagen. Während Großbritannien ein stark zentralisierter Staat ist, trotz einer halbherzigen, asymmetrischen, faux-föderalistischen Übertragung von Regierungsbefugnissen an drei periphere Schein-Bundesstaaten, ist die Schweiz mit nur 8,7 Millionen Einwohnern eine Konföderation von 26 Kantonen mit ursprünglichen Rechten auf Selbstregierung und einer starken gemeinsamen Stimme auf Bundesebene. Darüber hinaus ist die Schweizer Bundesregierung, als extremes Gegenteil der Westminster-Demokratie, seit 1959 eine Allparteienregierung, genauer: eine Regierung der vier größten im Parlament vertretenen Parteien, deren Chef jährlich wechselt – was der Grund ist, weshalb niemand dessen Namen kennt.

Der einschlägige Begriff hierfür ist Konkordanzdemokratie. Populärdemokratie kommt dann durch die jahrhundertealte Praxis von Volksabstimmungen ins Spiel, auf allen Ebenen, kommunal, kantonal und national, deren Ergebnisse die jeweils zuständigen Parlamente und Regierungen binden. Wenn man die kommunale Praxis direkter Demokratie hinzunimmt, wobei in einigen Kantonen sogar die Gemeindehaushalte von unter freiem Himmel stattfindenden Bürgerversammlungen beschlossen werden, bekommt man ein Gefühl für den populären, ja populistischen Charakter der Schweizer Demokratie: eine anti-hierarchische politische Kultur, wenn es um die res publica geht, mit einer geradezu fundamentalistisch verwurzelten Wertschätzung kollektiver Selbstbestimmung und ihres Beitrags zu einem guten politischen Leben für alle Bürger, einschließlich eines ausgeprägten Misstrauens gegenüber jedem, der behaupten wollte, besser zu wissen, was im Interesse des Schweizervolks liegt als, in ihrer demokratischen Weisheit, die Schweizer selber.

Wie kommt die EU ins Spiel? In beiden Ländern ist es eine seltsame Koalition zwischen den exportorientierten Sektoren der verarbeitenden Industrie und der neuen Klasse der liberalen Linken bzw. linken Liberalen, die der EU beitreten oder in ihr bleiben wollen. In Großbritannien schloss sich ein Teil der Gewerkschaftsbewegung dieser Koalition an, in der angesichts der sozialpolitischen Performanz Brüssels nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Hoffnung auf Schutz gegen eine verfassungsrechtlich ungezähmte konservative Parlamentsmehrheit.

In der Schweiz dagegen hatten und haben die Gewerkschaften, immer noch auf der Grundlage des Friedensabkommens in der Metallindustrie von 1937, zur Überraschung derer, die von ihren antischweizerischen Stereotypen nicht lassen wollen, genügend Macht, industriell wie politisch, einen EU-Beitritt zu verhindern, der, wie sie zu Recht befürchten, ihre Löhne unter Druck setzen würde. Damit wurden sie zu Verbündeten des gut organisierten und politisch mächtigen einheimischen Kleingewerbes, dessen Wohlstand durch eine staatliche Industriepolitik – im EU-Jargon: „staatliche Beihilfen“ (state aids) – geschützt wird, die nach EU-Wettbewerbsrecht zu großen Teilen illegal wäre.

In der Schweiz wie in Großbritannien ist das „europäische Projekt“ ein Lieblingskind der Linksliberalen, wobei Schweizer „Pro-Europäer“ und britische „Remainer“ ein profundes Misstrauen gegenüber demokratisch-majoritärer Politik aller Art gemeinsam haben. Der schweizerischen liberalen Linken ist die schweizerische Demokratie zu langsam, zu provinziell, zu unberechenbar – also zu schweizerisch. Wieviel besser da die EU-Institutionen, die vor den Launen von Bürgerbeteiligung geschützt und fest in den Händen einer kosmopolitischen Expertenelite sind!

Übersehen wird dabei freilich, dass die Schweizer Politik eine der besten Infrastrukturen der Welt hervorgebracht hat, mit einem legendären öffentlichen Verkehrssystem und einigen der weltweit führenden Universitäten. Trotz oder auch gerade wegen ihrer besonderen Spielart der Demokratie war es der Schweiz auch möglich, riesige Tiefbauprojekte von europaweiter Bedeutung zu unternehmen und erfolgreich zuende zu führen, wie den Gotthard-Basistunnel, per Referendum beschlossen und termin- und budgetgerecht fertiggestellt, als Schlüsselstelle einer Eisenbahnverbindung von Rotterdam nach Genua. Europäischer, sollte man denken, geht es nicht – und das in internationaler Zusammenarbeit ohne internationale Hierarchie. Deutschlands Teil des Projekts, die Eisenbahnstrecke entlang des Rheins von der niederländischen zur Schweizer Grenze, liegt dagegen, ebenso wie der Anschluss in Italien, um Jahrzehnte zurück.

Wenn der Wunsch des Schweizer Linksbürgertums, von Brüsseler Bürokraten statt von seinen Landsleuten regiert zu werden, mehr ist als das Ergebnis von Schuldgefühlen wegen des nationalen Wohlstands oder einer Verinnerlichung antischweizerischer Ressentiments, wie sie unschwer überall in der Welt anzutreffen sind – dann hat er wahrscheinlich damit zu tun, dass die plebiszitär-konföderale schweizerische Verfassung mannigfache Nischen für einen populistischen Traditionalismus bereithält: für eine Art von Vielfalt, die in der Vielfalt der Linksliberalen nichts zu suchen hat.

Mitunter gibt es da in der Tat Gründe, peinlich berührt zu sein; zum Beispiel brauchte die Schweiz bis 1971, und in einigen Kantonen noch länger, um Frauen das volle Wahlrecht zu gewähren. Stimmungen wie in Deutschland in den 1990er Jahren, ausgedrückt in dem damaligen Slogan der Grünen: „Liebe Ausländer, bitte lasst uns mit den Deutschen nicht allein!“, sind heute in Teilen der Schweizer Gesellschaft, insbesondere im Kulturbereich, weit verbreitet. In der Tat sind erstaunlich viele Schweizer Kulturschaffende in Orte wie Berlin ausgewandert, die ihnen als Zentren einer globalen Bohème erscheinen mögen, um so der gefühlten Enge oder angeblichen Fremdenfeindlichkeit ihres Heimatlandes zu entkommen – eines Heimatlandes freilich mit rund 1,5 Millionen ausländischen Arbeitnehmern in allen Zweigen einer Wirtschaft mit insgesamt nicht mehr als 4,2 Millionen Beschäftigten, davon täglich 340.000 Pendler aus Deutschland, Frankreich und Italien.

In Brüssel gehört das Schweizer Dossier zum Portfolio der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die es von ihrem Vorgänger, dem heute vergessenen Jean-Claude Juncker, geerbt hat. Ihre Unfähigkeit, die Schweiz zur Kapitulation zu bewegen, schwächt ihre Position weiter, indem sie die Bruchlinien der „ever closer union among the peoples of Europe“, verfasst nach dem one-size-fits-all-Prinzip, erneut sichtbar werden lässt: noch ein Nagel im Sarg des Brüsseler „europäischen Projekts“, ein kleiner zwar, aber doch ein feiner, verglichen mit Schmuddelkindern wie Ungarn, Rumänien und, sehr bald, Serbien.

Auf Druck der imperial-zentralistischen Hardliner im EU-Parlament – ​​und vermutlich auch der deutschen und französischen Regierung – droht die Kommission der Schweiz nun mit Vergeltung. Viele der bestehenden Verträge zwischen der EU und der Schweiz laufen in den kommenden Jahren aus und müssen erneuert, andere müssen aktualisiert werden. Den Schweizern wird von der europäischen Bürokratie gesagt, dass dies ohne das Rahmenabkommen schwierig und manchmal unmöglich sein und deshalb die Schweiz teuer zu stehen kommen werde.

Weniger diplomatisch spekulieren Integrationisten, frustriert über die Weigerung der Schweiz, sich der imperialen Vereinigung „Europas“ unter deutscher und französischer Hegemonie zu beugen, öffentlich darüber, ob die Schweizer eher bad oder mad, eher moralisch verkommen oder kognitiv defizitär sind: bad im Sinne von  besessen von dem egoistischen Wunsch, ihren Reichtum für sich zu behalten statt ihn mit bedürftigen EU-Europäern zu teilen, wie es die Deutschen und die Franzosen bekanntlich laufend tun (ein Angebot der Schweizer Delegation in letzter Minute, über zehn Jahre gestreckt 1,3 Milliarden Euro zur Bekämpfung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit innerhalb der EU (!) beizutragen, wurde von der Kommission abgelehnt) – oder mad im Sinne von unfähig, ihre wahren Interessen zu erkennen, einschließlich des Interesses, nach Maßgabe des gesunden Markt- und Menschenverstandes der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs regiert zu werden.

Allerdings wird ihnen gleichzeitig auch Bauernschläue vorgeworfen, mit welcher sie versuchten, sich die Rosinen aus dem Kuchen herauszupicken – etwas, das Kindern niemals erlaubt werden darf, da sie lernen müssen, alles zu essen, was ihre Erziehungsberechtigten ihnen auf den Tisch stellen.

Wenn das „europäische Projekt“ im Sinne der Brüsseler Zentralisten vorankommen soll, muss allen Interessenten unmissverständlich klar gemacht werden, dass eine konföderale Zusammenarbeit, bi- oder multilateral, als Alternative zu hierarchischer Beherrschung via Souveränitätstransfer nach oben nicht im europäischen Angebot ist, so wie es den Briten klar gemacht wurde – um andere Länder, einschließlich solcher, die bereits Mitglied sind, davon abzuhalten, auf dumme Ideen zu kommen.

Freilich haben die Schweizer in ihrer mehr als siebenhundertjährigen Geschichte größere Herausforderungen überstanden, ebenso wie die Briten in ihren 800 Jahren seit der Magna Charta. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass ihnen dies auch diesmal gelingen wird, ja dass sie nicht annähernd so lange brauchen werden, um die historisch überholte merkato-technokratische Frankensteinische Fehlkonstruktion aus dem neoliberalen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, genannt die Europäische Union, zu überleben.