Preis-Lohn-Spirale

Wie werden sich die Löhne in den kommenden Jahren entwickeln?

| 30. Juni 2022
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„Wie werden sich die Löhne in Deutschland in den kommenden Jahren entwickeln?“, fragte das Dezernat Zukunft jüngst. Donato Di Carlo und Martin Höpner haben geantwortet und warnen vor der Verstetigung unterschiedlicher Inflationsraten im Euroraum.

Angebotsseitige Engpässe haben die deutsche Inflationsrate nach Angaben von Eurostat zuletzt (im Mai 2022, verglichen mit den Preisen im Mai 2021) auf 8,7% klettern lassen, die der Eurozone auf 8,1%. Es hängt von der Lohnpolitik ab, ob diese Preisschocks eine Preis-Lohn-Spirale anschieben, gegen die die EZB mit einer deutlichen Zinserhöhung zum Nachteil des ohnehin äußerst geringen Wachstums einschreiten muss (eine moderate Zinserhöhung um zwei- bis dreimal 25 Basispunkte bis Jahresende ist ohnehin gesetzt). Schlimmstenfalls könnte das eine mehrjährige Stagflationsperiode einläuten. Die Sorge vor einem solchen Szenario dürfte im Hintergrund der vom Dezernat Zukunft gestellten Preisfrage stehen.

Was für und was gegen zunehmenden Lohndruck spricht

In der Tat spricht einiges für Lohnabschlüsse oberhalb der „goldenen Lohnregel“, auf die sich die europäischen Gewerkschaften im Zuge ihrer bisher äußerst rudimentär entwickelten transnationalen Lohnkoordination verständigt haben. Die Regel sieht die Orientierung am mittelfristigen Produktivitätstrend plus der Zielinflation vor. Für Deutschland wären das, wenn man die jährlichen Zuwächse der Stundenproduktivität zwischen Finanz- und Pandemiekrise in Rechnung stellt, 0,5%-1,0% plus die für alle geltende Zielinflation von jährlich 2,0%. Die deutschen Gewerkschaften verdeutlichten jüngst aber regelmäßig, dass sie bei der Wahl ihrer Lohnforderungen auch die empirische Inflation, nicht nur die Zielinflation in Rechnung stellen wollen – so etwa die neue DGB-Vorsitzende Fahimi in ihrer Dankesrede vor den Delegierten des Berliner DGB-Bundeskongresses am 9. Mai 2022 oder die IG Metall (2020) im Rahmen eines Bundesbank-Dialogs.

Für eine Beschleunigung des nominalen Lohnwachstums spricht zudem, dass die deutsche Arbeitslosenquote nach international standardisierter Berechnung der ILO nur noch 2,9% beträgt. Das ist die niedrigste Arbeitslosigkeit in der Eurozone und die drittniedrigste in der EU, nach Polen und Tschechien (Bundesanstalt für Arbeit 2022: 18). In dieselbe Richtung weisen jüngste Daten zum Fachkräftemangel. Engpässe bestehen demnach nicht nur bei branchenspezifischen Berufen wie etwa den Bau- und Pflegekräften, sondern auch bei Querschnittsberufen wie den kaufmännischen Tätigkeiten und IT (Bundesministerium der Finanzen 2022: 14; Mittelstandskompass 2022).

Als expansive Signale wurden jüngst Lohnforderungen der IG Metall gedeutet. Für die Stahlindustrie hatte die Gewerkschaft noch im Mai 2022 ein Lohnplus von 8,2% gefordert (zum Verhandlungsergebnis weiter unten), für die im Herbst anstehende große Tarifrunde der fast vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie beschloss der Vorstand der IG Metall am 20. Juni eine in den regionalen Tarifkommissionen zu beratende „Forderungsempfehlung“ von 7%-8%. Doch Vorsicht: Forderungen sind keine Abschlüsse. Die seit Beginn der Preisauftriebe in der Mitte des Jahres 2021 ergangenen Tarifeinigungen sprechen gegen eine Preis-Lohn-Spirale – sie waren moderat oder überstiegen die Imperative der Lohnregel lediglich geringfügig. Das Statistische Bundesamt beziffert die nominalen Effektivlohnsteigerungen im Jahr 2021 mit durchschnittlich 3,1% (nach nur 1,1% im Jahr 2020), das WSI errechnet für 2021 im Schnitt Tariflohnsteigerungen von nominal 1,7% (unter anderem wegen der Berücksichtigung von Einmalzahlungen fallen erstere regelmäßig höher aus).

Maximierte Ungewissheit

Unter normalen Umständen ließe sich unter sorgfältiger Abwägung der Gesichtspunkte eine Prognose für die Tarifrunden 2022 und 2023 entwickeln. Die Ungewissheit über Verlauf und Folgen des Ukraine-Kriegs hat das zunichte gemacht. Niemand kann wissen, unter welchen Bedingungen die Tarifparteien ab der zweiten Jahreshälfte 2022 verhandeln werden. In der Chemiebranche vereinbarten die Sozialpartner daher im April eine Einmalzahlung und verschoben den Rest auf den Herbst – in der Hoffnung, dass sich der Nebel der Ungewissheit über die Rahmenbedingungen bis dahin lichtet. Werden dennoch bezifferte Prognosen gewagt, ist die pädagogische Intention leicht zu erkennen: Es wird „prognostiziert“, was geschehen möge. Das gilt etwa für den „Lohntracker“ der EZB, demzufolge die Tarifpartner im Euroraum den vorübergehenden Charakter der Inflation erkennen und 2023 genau im Rahmen der stabilitätspolitisch gebotenen ungefähr 2,5% abschließen werden.

Am Ende der Fahnenstange ist die Wissenschaft mit dem Verweis auf die maximierte Ungewissheit aber noch nicht. Wir schlagen vor, die Perspektive der Vergleichenden Politischen Ökonomie einnehmen. Es gilt, anhand der Analyse von Langfristtrends die institutionellen und organisatorischen Rahmen und Kräfteverhältnisse offenzulegen, die die Lohnbildung in den entscheidenden Makrosektoren der deutschen Wirtschaft strukturieren. Wie sich zeigen wird, ist das so zutage geförderte Ergebnis durchaus alarmierend.

Flexible Wettbewerbskorporatismen im Industriesektor

Unser Schaubild zeigt kumulierte nominale Zuwächse der deutschen Lohnstückkosten in fünf deutschen Sektoren von 1991 bis zum letzten Jahr vor Eintritt in die Pandemiekrise, 2019 (für die Pandemiejahre liegen diese OECD-Daten noch nicht vor). Die deutsche Lohnpolitik unterschritt die Vorgaben der „goldenen Lohnregel“ von der Euro-Gründung bis in die zweite Hälfte der 2010er Jahre hinein deutlich. Bemerkenswert ist im internationalen Vergleich aber die sektorale Struktur der Lohnzurückhaltung (wir haben entsprechende Schaubilder für alle Euro-Mitglieder erstellt): Sie wurde – ungewöhnlicherweise – vor allem von den Binnensektoren getrieben. Das verdeutlicht, dass Deutschland kein Fall eines für exportorientierte Länder typischen intersectoral pattern barganings ist, in dem die Binnensektoren lediglich die moderate Lohnentwicklung des Exportsektors kopieren (Di Carlo 2020). Zum Verständnis der Vorgänge sind daher Analysen sektoraler Eigenheiten notwendig.

Im Industriesektor (der hier näherungsweise für den Exportsektor steht) haben sich die Modalitäten der Lohnfindung seit den Neunzigerjahren verändert. Aus dem vormals sektoral-koordinierten „deutschen Modell“ entstand in mehreren Schüben kontrollierter Dezentralisierung ein flexibles Mehrebenensystem mit gewachsener lohnpolitischer Verantwortung der Arbeitnehmervertreter auf Unternehmensebene, die der Arbeitsplatzsicherung naturgemäß einen hohen Stellenwert einräumen. Die Lohnfindung des Sektors reagiert rasch auf sich verschlechternde Wettbewerbsparameter und brachte bis 2017 Lohnzurückhaltung, anschließend Lohnanstiege leicht oberhalb des produktivitätsbereinigten 2,0%-Benchmarks hervor.

Dieses Muster steht nicht im Widerspruch zu höheren Lohnforderungen angesichts steigender Preise. Es schützt den Sektor aber vor im Vergleich zu den Handelspartnern überdurchschnittlichen Preis-Lohn-Spiralen. Wir erwarten für die im Herbst anstehenden Tarifrunden in den Metall- und Chemiebranchen eine Zunahme der im internationalen Vergleich äußerst geringen Konfliktintensität, die bereits 2021 (und 2018) in Ansätzen zu beobachten war (Frindert et al. 2022). Das wahrscheinlichste Ergebnis sind Überschreitungen der „goldenen Lohnregel“, die den Inflationsanstieg gleichwohl nicht vollständig kompensieren. Der jüngste Brücken-Tarifvertrag der IG BCE mit Einmalzahlungen, die jahresbezogen im Durchschnitt der Lohngruppen 5,3% ausmachen, könnte den ungefähren Weg weisen. Der noch jüngere, komplizierte Abschluss im Stahlbereich vom 15. Juni – zunächst eine Einmalzahlung für zwei Monate, dann 6,5% mit einer Laufzeit von 18 Monaten – liegt jahresbezogen mutmaßlich etwas darunter.

Heterogene Binnensektoren

Eine umfängliche politökonomische Literatur hat herausgearbeitet, dass der Exportsektor zur Verteidigung preislicher Wettbewerbskraft nicht nur nach Lohnzurückhaltung im eigenen Sektor strebt, sondern auch auf geringen Lohndruck aus den Binnensektoren angewiesen ist (Hancké 2013; Dustmann et al. 2014). Zu letzteren zählen die niedrig- bis mittelproduktiven Dienstleistungen. Die Erosion des Tarifwesens bei gleichzeitig weitgehender Verweigerung von Allgemeinverbindlicherklärungen (Günther und Höpner 2022), die dort in den vergangenen zwei bis drei Dekaden zu erheblicher Lohndämpfung führten, ist im westeuropäischen Vergleich exzeptionell. In diesem Sektor entwickelte sich Deutschland seit den Neunzigerjahren zur liberal market economy. Hinzukommt, dass Fachkräftemangel bei den einfachen Dienstleistungen leichter zu beheben ist als in der Industrie, und dass der an Vollbeschäftigung grenzenden niedrigen Arbeitslosigkeit nach aktuellen Angaben des IAB (2022: 4) immer noch eine stille Reserve von knapp 900.000 Personen gegenübersteht. Aus diesen Gründen sollte kein signifikanter Beitrag der einfachen Dienstleistungen zu einer Preis-Lohn-Spirale erwartet werden.

Anders verhält es sich bei den hoch produktiven, dynamischen Dienstleistungen, für die im Schaubild die Banken und Versicherungen stehen. Hier scheinen Fachkräftemangel und (individuelle und kollektive) Verhandlungsmacht für eine Lohnentwicklung zu sprechen, die den Kaufkraftverlust ausgleicht. Allerdings spricht der jüngste Tarifabschluss für das Versicherungsgewerbe vom April 2022 hinsichtlich Höhe und Dauer eine andere Sprache: 3,0% für 2022 und 2,0% (!) für 2023 (eine Konstellation, die die Entstehung einer positiven Lohndrift erwarten lässt). Vor allem aber ist in Rechnung zu stellen, dass der Sektor in Deutschland im internationalen Vergleich unterentwickelt ist (Wren 2021) und daher nur mäßig auf die allgemeine Lohnentwicklung ausstrahlen dürfte.

Charakteristika der Lohnfindung im öffentlichen Dienst

Auf die Lohnentwicklung im öffentlichen Sektor wirken wiederum andere Determinanten ein. Die außergewöhnliche Lohnzurückhaltung in diesem Sektor lässt sich nur verstehen, wenn man in Rechnung stellt, dass die öffentliche Lohnpolitik immer zugleich staatliche Ausgabenpolitik ist (Di Carlo 2022). Im deutschen Fiskalföderalismus sind viele Länder und Kommunen, bei denen rund 90% der öffentlich Angestellten beschäftigt sind, chronisch unterfinanziert. Ausgabenseitige Konsolidierungszwänge schlagen daher trotz eines hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrads und umfassender Tarifbindung auf die Lohnpolitik durch. Das war in den 2000er Jahren besonders im Nachgang der rot-grünen Steuerreformen zu beobachten. Sie zwangen die Länder auf einen strikten Konsolidierungskurs, woraufhin sie die Tarifgemeinschaft mit Bund und Kommunen verließen und Lohnsenkungen erzwangen (siehe den sinkenden Verlauf der Kurve im Schaubild). Allgemein bringt es die Struktur der öffentlichen Lohnverhandlungen mit sich, dass für die Arbeitgeberseite nur Abschlüsse akzeptabel sind, mit denen auch die schwächsten Länder und Kommunen leben können.

Die öffentliche Lohnentwicklung der kommenden Jahre ist daher vor allem vom zukünftigen Kurs der Fiskalpolitik abhängig, dem Generalthema des Dezernats Zukunft. Vor dem Hintergrund von Pandemiekrise und Ukraine-Krieg könnte man meinen, alle Budgetzwänge seien unwiderruflich beseitigt. Das allerdings dachte man bei den Bankenrettungen im Zuge der Finanzkrise auch – es folgte ein rasches Einschwenken auf einen Konsolidierungskurs, der vielen internationalen Beobachtern bis in die jüngste Vergangenheit hinein Rätsel aufgab. Der Bundesfinanzminister verdeutlichte jüngst, die Aussetzung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts für 2023 nicht nutzen zu wollen. Gut durchdachte Vorschläge für eine Reform der deutschen Schuldenregeln liegen auf dem Tisch (Krahé et al. 2021). Aber so lange diese Auseinandersetzung nicht gewonnen ist, spricht mehr für als gegen die Rückkehr zum budgetpolitischen Muster bis einschließlich 2019. Jenseits der erfreulichen Gewährung von Lohnzuwächsen in der Pflege verheißt das für die künftigen Spielräume der öffentlichen Lohnpolitik nichts Gutes.

Druck auf die Baulöhne

Als verblüffend hartnäckig erweisen sich die lohndämpfenden Dynamiken im Bausektor. In längerfristiger Betrachtung zählten die Baubeschäftigten zu den klaren Verlierern des deutschen Übergangs in ein exportorientiertes Wachstumsmodell (Baccaro und Höpner 2022). Von 1994 bis zum Eintritt in die Finanzkrise war der Sektor durchgängig in Schrumpfung begriffen, begleitet von massivem Druck auf die Löhne, wie das Schaubild verdeutlicht. Erst zur Mitte der 2010er Jahre fand der Sektor aus seiner langen und schweren Krise. Gegenwärtig arbeitet er am Rande seiner (im internationalen Vergleich allerdings immer noch engen) Kapazitätsgrenzen, ein Ende des Immobilienbooms ist nicht in Sicht. Alle relevanten Parameter wie der sektorale Fachkräftemangel und die Entwicklung der Immobilienpreise und -kredite legen die Erwartungen eines deutlichen Aufholens bei den Baulöhnen nahe. Bisher ist aber nichts dergleichen zu beobachten.

Die entscheidende Bremse von Lohnauftrieben im Bausektor ist die trotz Reform der Entsenderichtlinie fortgesetzt hohe, durch die Arbeitnehmerentsendung bewirkte transnationale Lohnkonkurrenz (Bosch und Hüttenhoff 2022: Kap. 9). Auch die anziehenden Preise bei gleichzeitiger Hochkonjunktur im Baugewerbe scheint diese Begrenzung des lohnpolitischen Handlungsspielraums nicht sprengen zu können. Im Oktober 2021, als die jüngeren Preisschübe bereits um 5% lagen, erfolgte ähnlich wie im Versicherungsgewerbe ein moderater und langfristiger Abschluss (eine von beiden Seiten akzeptierte Schlichtung) von 3,3% für 2022 und 2,0% für 2023.

Derzeit spricht im Ergebnis nichts dafür, dass eine Preis-Lohn-Spirale ihren Ausgangspunkt im Bausektor nehmen und auf andere Sektoren ausstrahlen könnte. Für die weitere Zukunft muss angesichts der Diskrepanz aus Fundamentaldaten und Lohnentwicklung mindestens mit einer deutlich gesteigerten Konfliktintensität gerechnet werden. Dafür spricht insbesondere auch die jüngste Ablehnung der Schlichtungsvorschläge zum branchenspezifischen Baumindestlohn durch die sektoralen Arbeitgeberverbände.

Die vergleichende Perspektive

Die Besonderheiten der deutschen Lohnfindung haben in den vergangenen zwei bis drei Dekaden problematische Ergebnisse in Gestalt einer kompetitiven Disinflationierung von Löhnen und Preisen hervorgebracht. Vor dem Hintergrund der momentanen Preisschübe scheint Deutschlands besondere Neigung zur Lohnmoderation von Vorteil zu sein. Übermäßiger Lohndruck ist nur in kleinen Teilen der Wirtschaft zu erwarten, etwa bei den dynamischen Dienstleistungen. Scharfe Konflikte zeichnen sich um die Baumindestlöhne ab. Wegen der bemerkenswerten Kumulation von Deutschlands Eigenschaft als mit Abstand größtem Zielland transnationaler Arbeitnehmerentsendung, dem Fiskalföderalismus, der Erosion der Tarifbindung bei den niedrigproduktiven Dienstleistungen und der dezentralisierten Lohnfindung im Exportsektor ist Deutschland in der Breite hingegen gut gewappnet, Preis-Lohn-Spiralen zwar nicht gänzlich zu unterbinden, sie aber klein zu halten. Entwarnung verspricht diese Einsicht aber nur auf den ersten Blick, denn vielen anderen Euro-Teilnehmern fehlt die deutsche Befähigung zur Minimierung von Zweitrundeneffekten.

Die Vergleichende Politische Ökonomie analysiert und klassifiziert Modalitäten der Lohnfindung mit großer Liebe zum Detail. Lohnzurückhaltung zum Zweck des Inflationsabbaus ist institutionell und organisational voraussetzungsvoll. Belgien beispielsweise kennt bis heute formale Inflationsindexierungen, die die Perpetuierung von vorgefundenen Inflationsniveaus begünstigen. In anderen Ländern wie Italien, früher der klassische Fall von Lohnindexierungen, fließen zumindest Inflationsprognosen formal in die Tarifverhandlungen ein. Wieder andere kennen, anders als Deutschland, formal inflationsindexierte Mindestlöhne. Reichhaltige Varianz zeigt sich zudem in vielen Dimensionen der Lohnfindung im öffentlichen Sektor, dem wichtigsten Kandidaten für die Führerschaft bei Zweitrundeneffekten, wie die Erfahrungen der ersten Euro-Dekade gezeigt haben. Die in unserer Antwort herausgearbeiteten deutschen Modalitäten sind im europäischen Vergleich nicht typisch, sondern äußerst ungewöhnlich.

Ein Härtetest für den Euro

Die anziehenden Preise setzen den Euroraum einem herausfordernden, ja brutalen Bestandstest aus. An der Fähigkeit der Euro-Teilnehmer, lohnpolitisch einheitlich, zumindest aber ähnlich auf die Inflationsrate von über 8% zu reagieren, muss gezweifelt werden. Die entscheidende Gefahr besteht nicht in einer Eurozonen-weiten Preis-Lohn-Spirale. Hierauf könnte die EZB stimmig reagieren, wenn auch zum Nachteil von Wachstum und Beschäftigung. Die Gefahr besteht vielmehr in der mittelfristigen Verstetigung unterschiedlicher Inflationsraten und damit in der Entstehung neuer, die Vorgänge in der ersten Euro-Dekade noch übertreffender realer Wechselkursverzerrungen. Das würde eine neue Eurokrise hervorrufen, an der die gemeinsame Währung im schlimmsten Fall zu Grunde gehen könnte.

Der Politik ist daher zu raten, die europäischen Sozialpartner schnellstmöglich an einen Tisch zu holen. Ob daraus eine effektive innereuropäische Lohnkoordination erwachsen kann, sei dahingestellt (Höpner und Seeliger 2021). Zumindest aber ließe sich in einem ersten Schritt ein Bewusstsein für die transnational-makroökonomische Problemlage entwickeln. Vielleicht kann die vom Dezernat Zukunft gestellte Preisfrage dazu beitragen, die dringend notwendige Debatte zu eröffnen.

 

Anmerkung: Der Text entspricht der Ende Mai 2022 an das Dezernat Zukunft eingereichten Antwort. Wir haben lediglich die Angaben für die jüngste jahresbezogene Inflationsrate aktualisiert und einen Hinweis auf die Tarifeinigung im Stahlbereich eingefügt.

 

Literatur
Baccaro, Lucio; Höpner, Martin (2022): The Political-Economic Foundations of Export-Led Growth: An Analysis of the German Case. In: Mark Blyth, Jonas Pontusson, Lucio Baccaro (Hg.), Diminishing Returns. The New Politics of Growth and Stagnation. Oxford: Oxford University Press, 238-267.
Bosch, Gerhard; Hüttenhoff, Frederic (2022): Der Bauarbeitsmarkt. Soziologie und Ökonomie einer Branche. Frankfurt a.M.: Campus.
Bundesministerium der Finanzen (2022): Finanzpolitik in der Zeitenwende – Wachstum stärken und inflationäre Impulse vermeiden. Berlin: Bundesministerium der Finanzen.
Di Carlo, Donato (2020): Understanding Wage Restraint in the German Public Sector: Does the Pattern Bargaining Hypothesis Really Hold Water? In: Industrial Relations Journal 51 (3): 185-208.
Di Carlo, Donato (2022): Beyond Neo-Corporatism: State Employers and the Special-Interest Politics of Public Sector Wage-Setting. In: Journal of European Public Policy (online first).
Dustmann, Christian; Fitzenberger, Bernd; Schönberg, Uta; Spitz-Oener, Alexandra (2014): From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany's Resurgent Economy. In: Journal of Economic Perspectives 28 (1): 167-188.
Frindert, Jim; Dribbusch, Heiner; Schulten, Thorsten (2022): Arbeitskampfbilanz 2021. WSI Report 74. Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der HBS.
Günther, Wolfgang; Höpner, Martin (2022): Why does Germany Abstain from Statutory Bargaining Extensions? Explaining the Exceptional German Erosion of Collective Wage Bargaining. In: Economic and Industrial Democracy (online first).
Hancké, Bob (2013): Unions, Central Banks, and EMU. Labor Market Institutions and Monetary Integration in Europe. Oxford: Oxford University Press.
Höpner, Martin; Seeliger, Martin (2021): Neither Existing nor Emerging: Euro Stabilization by Means of European Wage Coordination. In: Journal of Economic Policy Reform 24 (4): 439-455.
IAB (2022): IAB-Kurzbericht 7/2022. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Konjunkturforschung in der Bundesagentur für Arbeit.
IG Metall (2020): Stellungnahme zu den Fragen im Rahmen des Bundesbank-Dialogs am 13. November 2020. Schriftstück des IG Metall Vorstands, VB 03, Ressort Branchenpolitik, vom 4.11.2020.
Koester, Gerrit; Grapow, Helen (2021): The Prevalence of Private Sector Wage Indexation in the Euro Area and its Potential Role for the Impact of Inflation on Wages. In: ECB Economic Bulletin 7/2021, 63-66.
Krahé, Max; Schuster, Florian; Sigl-Glöckner, Philippa (2021): Wird die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse ihrer Aufgabe noch gerecht? In: Wirtschaftsdienst 101 (8): 621–628.
Wren, Anne (2021): Strategies for Growth and Employment Creation in a Services-Based Economy: Skill Formation, Equality, and the Welfare State. In: Anke Hassel, Bruno Palier (Hrsg.), Growth and Welfare in Advanced Capitalist Economies: How Have Growth Regimes Evolved? Oxford: Oxford University Press, 255-288.