Krankenversicherung

Streit um die BBG: Die Empörung der Gutsituierten

| 26. Juni 2025
IMAGO / HMB-Media

SPD-Politiker haben sich für eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgesprochen. Darüber empört sich die Spiegel-Kolumnistin Ursula Weidenfeld und zeigt dabei ihre Inkompetenz.

Der designierte Generalsekretär der SPD Tim Klüssendorf hat sich in einem Interview mit der Bild am Sonntag (22. Juni 2025) für die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgesprochen. Zuvor hatte schon sein Fraktionskollege Christos Pantazis vorgeschlagen, diese Limitierung und auch die Versicherungspflichtgrenze in der GKV auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau anzuheben.

Das empört die Spiegel-Kolumnistin Ursula Weidenfeld. Diese Forderung klinge nach sozialer Gerechtigkeit, sei aber ein „ärgerlicher Rohrkrepierer“ und „Blitzangriff auf die Leistungsträger“. Er werde für einen „frühen Tod der GKV“ sorgen und schade der Wirtschaft durch eine Verteuerung des Faktors Arbeit. Das sei „der falsche Weg, zumal für die SPD, die wieder zur Partei der Arbeit werden will.“

Weidenfeld leiert die üblichen Phrasen des Mainstreams der Wirtschaftspresse herunter, in denen sich Meinungsstärke mit Faktenschwäche verbindet. Dorfschullehrer pflegten diese Eigenschaft früher mit „Religion sehr gut, Rechnen schwach“ zu benoten.

Subventionierung der Besserverdienenden

Während in der Renten- und Arbeitslosenversicherung bis auf wenige Ausnahmen alle Arbeiter und Angestellten sozialversicherungspflichtig sind, gibt es in der GKV eine einkommensbezogene Versicherungspflichtgrenze (VPG). Sie liegt aktuell bei einem versicherungspflichtigen Einkommen von 6.150 Euro im Monat. Über dieser Grenze liegende Angestellte können sich freiwillig versichern. Das empfiehlt sich vor allem für Väter und Mütter, deren Kinder in der GKV kostenfrei mitversichert sind, während die Private Krankenversicherung (PKV) für sie gesonderte Beiträge verlangt.

Freiwillig in der GKV versicherte Personen zahlen einen niedrigeren Beitragssatz als die Pflichtversicherten. Dafür sorgt die BBG, die aktuell bei einem Monatseinkommen von 5.512,50 Euro liegt und damit deutlich niedriger ist als in der Rentenversicherung (8.050 Euro). Versicherte mit einem darüber liegenden Einkommen zahlen dadurch einen mit der Höhe des Einkommens sinkenden Beitragssatz.

Nehmen wir Bundestagsabgeordnete als Beispiel, die momentan 11.834 Euro im Monat beziehen. Wenn sie so klug sind und sich freiwillig in der GKV versichert haben, zahlen sie einen festen GKV-Beitrag von 942,55 Euro im Monat und damit einen Beitragssatz von 8,0 Prozent. Sie bekommen also die gleichen Leistungen wie die Pflichtversicherten für einen noch nicht einmal halb so hohen Beitragssatz. Die BBG hat damit den perversen Effekt, dass die Besserverdiener von den unteren und mittleren Einkommen subventioniert werden.

Die Anhebung der BBG auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau sieht Ursula Weidenfeld dagegen als skandalöse Schlechterstellung der Besserverdienenden. Sie bekämen mit steigenden Beiträgen „keine besseren Leistungen, sondern werden mit exakt denselben Leistungen abgespeist wie ein armer Schlucker.“

Nicht die Tatsache, dass ein „armer Schlucker“ relativ mehr für die gleichen Leistungen der GKV zahlen muss als die obere Einkommensklasse ist also für Weidenfeld ein Skandal, sondern dass man diese soziale Benachteiligung beseitigen will. Deutlicher kann man dumme Arroganz nicht an den Tag legen.

Richtig ist allerdings, dass eine Anhebung der BBG nur dann sinnvoll ist, wenn zugleich die VPG in der GKV angehoben wird. Sonst droht eine Abwanderung von freiwillig Versicherten aus der GKV in die PKV. Es bietet sich eine Steigerung auf das Niveau der BBG in der Renten- und Arbeitslosenversicherung an (8.050 Euro) an, dann wäre man auch rechtlich auf der sicheren Seite. Ihre völlige Aufhebung würde mit einiger Sicherheit vom Bundesverfassungsgericht gekippt, weil damit das Verhältnismäßigkeitsgebot für Sozialversicherungsabgaben gefährdet würde.   

Die BBG und die Sozialabgaben

Auch mit dem Argument, die Anhebung der BBG würde die Arbeitskosten erhöhen und damit Arbeitsplätze gefährden, belegt Ursula Weidenfeld eine ausgeprägte Ignoranz, die sie mit dem Mainstream der Wirtschaftspresse in dieser Frage teilt.

Denn mit einer Anhebung der BBG auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau würden die Sozialabgaben nicht steigen, sondern sinken, weil die Beitragseinnahmen deutlich erhöht würden.

Zwar würden auch die Ausgaben durch die steigende Zahl von Versicherten steigen, aber diesen Effekt würden die höheren Beitragseinnahmen mehr als nur gegenfinanzieren. Verschiedene Modellrechnungen haben ergeben, dass der durchschnittliche Beitragssatz in der GKV um über drei Prozentpunkte sinken würde, wenn wir ein einheitliches Krankenversicherungssystem und dort eine Beitragsbemessungsgrenze wie in der Rentenversicherung hätten.

Gerade wenn man die Sozialabgaben als Standortfaktor betrachtet, müsste man für ein einheitliches Krankenversicherungssystem für alle Einwohner eintreten. Unser duales System von GKV und PKV hat keine ökonomische Legitimation. Das hat sogar der Wirtschafts-Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2004/2005 festgestellt. Die PKV gibt für die gleichen Leistungen 30 Prozent mehr aus als die GKV, ihre Verwaltungskosten sind doppelt so hoch.

Fallstricke auf dem Weg zur Bürgerversicherung

Tim Klüssendorf ist sicher klar, dass seine Forderung nach einer Anpassung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen in der GKV an die in der Rentenversicherung geltenden Regeln gegenwärtig keine politische Chance hat, schon weil davon nichts im Koalitionsvertrag steht und die Union eine solche Reform explizit ablehnt. Er folgt damit eher der Aufgabe des Generalsekretärs einer Partei, die der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler einmal so definierte: „Themen besetzen und Streit anfangen.“

Auch die Einführung einer Bürgerversicherung stößt nicht nur auf politischen Widerstand, sondern ebenso auf komplexe Rechtsfragen, deren Klärung sich über viele Jahre hinziehen dürfte. Das kniffligste Problem ist die Frage, wem die Rückstellungen der PKV für die Finanzierung der mit dem Alter der Versicherten steigenden Ausgaben gehören. Dafür werden etwa 30 Prozent der Beitragseinnahmen der PKV in Kapitalfonds abgeführt, die gegenwärtig ein Volumen von weit über 300 Milliarden Euro haben.

Aus der ökomischen Perspektive ist die Sache relativ einfach. Man könnte diese Rückstellungen mit der Überführung von PKV-Mitgliedern in die GKV anteilig dem GKV-Gesundheitsfond zuführen. Damit wäre ihr Zweck, die mit dem Alter steigenden Behandlungsausgaben zu finanzieren, erfüllt.

Allerdings haben auch die Versicherungsunternehmen als Treuhänder einen Anspruch auf einen Teil dieses Vermögens. Es ist jedoch ungeklärt, wie hoch er ist und wie die Anteile der Versicherten zu bewerten sind, die in den Gesundheitsfonds transferiert würden. Diese Causa würde mit Sicherheit beim Bundesverfassungsgericht landen und sich über viele Jahre hinziehen.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine Politik der kleinen Schritte mit dem Fokus auf die Krankenversicherung für Beamtinnen und Beamte. Sie stellen etwa die Hälfte der PKV-Mitglieder und haben eine komplementäre Versicherung zu den Leistungen der Beihilfe ihrer Dienststellen abgeschlossen. Verfassungsrechtlich ist es kein wirkliches Problem, das Beihilfesystem schrittweise abzuschaffen und die Beamtinnen und Beamten in der GKV zu versichern. Das haben etliche Rechtsgutachten ergeben.

Allerdings führt dieser Übergang zunächst zu höheren Kosten für den Staat, der sowohl den Arbeitgeberanteil für die neu in der GKV versicherten Beamten als auch die Beihilfekosten für die Beamten mit einem Bestandsschutz tragen muss. Diese Doppelbelastung sinkt mit der steigenden Zahl der in der GKV versicherten Staatsdiener und zahlt sich erst nach vielen Jahren aus, wenn die Beihilfeempfänger nur noch aus Pensionären bestehen.

Daher erfordert die Abschaffung des Beihilfesystems für Beamtinnen und Beamte politischen Mut und das Denken in einer langfristigen finanzpolitischen Perspektive, was nicht unbedingt zu den üblichen Eigenschaften von Politikern gehört.