Das Schlaraffenland aus der Steckdose
Die FAZ führt ihre Kampagne gegen den Sozialstaat mit Formulierungen, die reif für Stilblütensammlungen sind. Aber ihr Politikredakteur Reinhard Müller verirrt sich nicht nur stilistisch, sondern auch mit seiner Einschätzung zur Verfassungsmäßigkeit der BAföG-Sätze.
Der Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Reinhard Müller titelte am 11. Juli 2024: „Bedürftigkeit ist kein Staatsziel“. Da fragt man sich, ob die FAZ keine Schlussredakteure mehr hat, denen solche Sprachverirrungen auffallen. Oder ist man dort tatsächlich der Meinung, dass der Staat das Ziel haben sollte, für Bedürftigkeit zu sorgen? Das wäre zwar das Ergebnis der von der FAZ schon immer geforderten Eindämpfung des Sozialbudgets auf das Niveau der alten Armenfürsorge. Aber ist Reinhard Müller wirklich der Meinung, Armut sei ein aus dem Grundgesetz ableitbares Staatsziel? Das möchte ich ihm nicht unterstellen.
Er meint mit dem verunglückten Titel seines Leitartikels vermutlich, dass die Bedürftigkeit keine Orientierungsmarke für staatliche Leistungen sei. Dabei verwechselt er zwar Bedürftigkeit mit Bedarf. Denn auch die FAZ spricht sich ja in ihren Leitartikeln für die Unterstützung von Bedürftigen aus. Aber nun ja, auch viele Fußballreporter wissen nicht zwischen Effizienz und Effektivität zu unterscheiden, und die Verwechselung von „scheinbar“ mit „anscheinend“ ist leider mittlerweile allgemein üblich. Ich will da nicht kleinlich sein. Aber schlampige Wortwahl ist auch ein Indikator für Inkompetenz, wie der begnadete Sprachpolizist Karl Kraus schon vor 100 Jahren feststellte.
In seinem Leitartikel ärgert sich Reinhart Müller über das Berliner Verwaltungsgericht, das die geltenden BAföG-Sätze als verfassungsrechtlich problematisch einstuft, weil sie das Existenzminimum unterschritten. Er hat die Causa, wie es der Rechtsweg vorsieht, ans Bundesverfassungsgericht zur Prüfung weitergeleitet. Aber dabei handele es sich, so Reinhard Müller, um keine Verfassungsfrage. Das Urteil der Verwaltungsrichter sei Ausdruck des „evident in Richtung Schlaraffenland“ gehenden Trends in der Sozialpolitik. Diese Ereignisschöpfung verleitet ihn zu einem weiteren Metapherncrash: „Das irdische Paradies finanziert sich nicht aus der Steckdose.“ Klar, Strom kommt ja auch nicht aus dem Geldautomaten.
Es folgt eine evident aus dem Nichts gegriffene Beschimpfung der Berliner Verwaltungsrichter, die sich wie das Kurzprotokoll der Versammlung eines AfD-Ortsvereins liest:
„Es steht nicht geschrieben, dass der Staat Nichtstun besser alimentieren muss als steuerpflichtige Erwerbstätigkeit, die letztlich allen zugutekommt. Das Grundgesetz fordert auch nicht, die Hürden für Einwanderer zu senken und Werbung für eine Vollversorgung in Deutschland zu machen. Die Verfassung verlangt auch keinen unbefristeten Schonraum für Migranten und keinen Anspruch auf Rosinenpickerei zulasten der Einheimischen.“
Das alles fordern aber die Berliner Verwaltungsrichter gar nicht, wenn sie feststellen, dass die BAFöG-Sätze unterhalb des vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 festgelegten Existenzminimums liegen. Dieses Urteil macht Vorgaben für die soziale Grundsicherung, die von der Ampel-Koalition in ihrem „Bürgergeldgesetz“ eins zu eins umgesetzt wurden.
Das Grundgesetz hat zwei „Ewigkeitsartikel“, die auch von einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat nicht geändert werden dürfen. Das ist zum einen der Artikel 1 mit dem Grundsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Außerdem wird im Artikel 20 die Bundesrepublik als ein „demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ definiert.
Aus diesen Grundsätzen folgt die Leitlinie für die soziale Grundsicherung, dass jedem Menschen ein menschwürdiges Leben ermöglicht werden muss. Die Leistungen das Hartz-IV-Gesetzes, zu deren Niveau die FAZ und auch die CDU in ihrem neuen Grundsatzprogramm offenbar zurückkehren möchten, haben gegen diese Maxime nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes verstoßen. Dieses Urteil haben die Berliner Verwaltungsrichter zum Maßstab auch für das BAföG gemacht.
Das passt Reinhart Müller nicht, denn: „Nicht alles ist eine Verfassungsfrage.“ Richtig. Aber dann muss man auch fragen, was die Schuldenbremse im Grundgesetz zu suchen hat. Denn die Fiskalpolitik nach dem Vorbild der „schwäbischen Hausfrau“ (Angela Merkel) beruht auf einem Glaubensbekenntnis, das in Parteiprogramme gehört, aber nicht in die Verfassung.