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JAKOB ERKLÄRT LUKAS WIRTSCHAFT - 10
Freihandel als Segen
Von Armin Groh
| 06. Juli 2021istock.com/ronstik
Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.
Der Philosoph Jakob hat dem Schüler Lukas in einem langen Gespräch bereits wichtige Zusammenhänge der Volkswirtschaftslehre erklärt. Nach einer Begegnung mit einem Migranten diskutieren Lukas und Jakob über den Kolonialismus. Lukas interessiert die Frage, ob die westlichen Industrienationen den globalen Süden in der Weltwirtschaft noch immer benachteiligen.
»Hält sich die Politik heute an die minimale Forderung, anderen Nationen nicht zu schaden? Die weitgehend ausgebliebene Vergangenheitsbewältigung der westlichen Politik und Wirtschaft ist zumindest kein gutes Zeichen für einen solchen Sinneswandel. Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns aber zunächst noch einmal mit der Volkswirtschaftslehre beschäftigen.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Obwohl es um die Volkswirtschaftslehre geht?«
»Wenn du wieder ausreichend anschauliche Beispiele anführst, bin ich inzwischen sehr gespannt auf das Thema Wirtschaft.«
»Dann bist du meiner Meinung nach einen großen Schritt weiter gekommen. Für viele Lebensbereiche wie Gesundheit, Lebenserwartung, Arbeit und Wohlstand gibt es kaum ein wichtigeres Thema als die Volkswirtschaftslehre. Gut - ich werde mich bemühen das scheinbar so trockene Thema so anschaulich wie möglich zu machen.«
»Dann leg los!«
»Eine kleine Geschichte: Vor rund sechzig Jahren versuchte Toyota seinen ersten PKW in den USA zu verkaufen.[i] Das Auto hieß Toyopet, was so viel wie Toyota-Haustier bedeutet. Das Auto sah auch entsprechend aus: Ein kleiner Wagen mit gutmütigen runden Augen, den die amerikanische Presse ›Baby-Cadillac‹ taufte. Obwohl Toyota für die damalige Zeit bereits einigen Luxus wie Radio und Heizung verbaut hatte, lehnten die Amerikaner das Auto ab: zu langsam, zu laut, zu unsicher usw. Der Toyopet war in den USA der totale Flop und musste wieder vom Markt genommen werden.
Dies löste in Japan eine Diskussion aus, die bezeichnend für zwei gegensätzliche Positionen über den Welthandel ist: Die einen verteidigten die Freihandelstheorie von David Ricardo, die anderen wollten die japanische Industrie weiterhin vor dem freien Welthandel schützen. Die Verteidiger der Freihandelstheorie sagten, Japan solle sich mit der Herstellung einfacherer Produkte begnügen. Die Gegner des Freihandels argumentierten hingegen, die japanische Industrie brauche noch mehr Zeit, um sich zu entwickeln, und müsse weiterhin vor dem Welthandel geschützt werden.«
»Also eine Pro-Contra-Diskussion über den Freihandel. Und welche Partei hat gewonnen?«
»Das verrate ich dir später. In der Ökonomik gibt es natürlich nicht nur zwei Parteien, sondern eine ganze Reihe von Theorien, die den Freihandel eher verteidigen oder eher kritisch sehen. Hier ist eine kleine Übersicht:
Theorien, die den Freihandel als etwas grundsätzlich Positives ansehen, habe ich dicker umrandet.«
»Über diese Theorien hatten wir schon gesprochen. Die haben also alle auch etwas über den internationalen Handel zu sagen?«[ii]
»Natürlich! Was haben die Theorien, die international für den freien Handel sind, gemeinsam?«
»Sie befürworten auch freie Märkte innerhalb einer Volkswirtschaft.«
»Richtig.«
»Dann auf zu den Argumenten! Was spricht für den Freihandel, was dagegen?«
»Wir können uns jetzt natürlich nur ein paar zentrale Argumente ansehen. Beginnen wir mit der Klassik und einem geläufigen Beispiel: Stelle dir vor, du und dein Nachbarjunge seid von euren Eltern verdonnert worden, regelmäßig Gartenarbeiten zu machen: Rasenmähen und Heckenschneiden. Das stinkt euch gewaltig, weshalb ihr die Arbeit so schnell wie möglich hinter euch bringen wollt. Da ihr euch gut versteht und eure Aufgaben ungefähr gleich groß sind, geht ihr einen Handel ein. Dein Nachbar ist schneller im Heckenschneiden, du bist hingegen schneller im Rasenmähen. Wenn jeder in beiden Gärten nur die Arbeit macht, die er schneller ausführen kann, seid ihr beide früher fertig. Das findet ihr natürlich toll, denn dadurch habt ihr mehr Zeit für eure Hobbys. Man könnte in gewisser Weise sagen, dass sich euer Wohlstand vergrößert hat.«
»Unbedingt!«
»Diesen Zusammenhang kann man auch auf Länder übertragen. Von zwei Ländern spezialisiert sich jedes Land auf das Gut, von dem es pro Arbeitsstunde mehr herstellen kann. Nehmen wir an, England und Portugal produzieren beide Kleidung und Wein. England ist produktiver bei der Herstellung von Kleidern und Portugal bei der Herstellung von Wein. Wenn sich England jetzt auf die Herstellung von Kleidern spezialisiert und Portugal auf die Herstellung von Wein, werden insgesamt mehr Wein und mehr Kleider produziert. Wenn sie diese Güter dann auch tauschen, haben sie jeweils mehr Wein und Kleider zur Verfügung. Der Wohlstand beider Länder vergrößert sich. Das ist Adam Smiths Argument für den Freihandel. Jedes Land soll sich auf das spezialisieren, worin es gegenüber einem anderen Land besser ist, worin es einen sog. absoluten Vorteil hat. Wenn man diesen Zusammenhang verallgemeinert, haben wir bereits das zentrale Argument, das auch von anderen Ökonomen für den Freihandel angeführt wird:
(1) Unter bestimmten Voraussetzungen führt eine ökonomische Spezialisierung zwischen verschiedenen Ländern zu größerem Wohlstand.
Soweit klar?«
»Ja. Und wie ich dich kenne, hältst du die Voraussetzungen für besonders wichtig.«
»Natürlich. Will man aus einer Theorie eine Voraussage ableiten, müssen immer bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Sonst ist sie nicht anwendbar. Eine unabdingbare Voraussetzung bei Adam Smith ist, dass die am Freihandel beteiligten Länder absolute Vorteile haben. Wenn zwei Länder in allen Bereichen gleich produktiv sind, lässt sich Smiths Theorie nicht anwenden. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit man Smiths Theorie anwenden kann. Darauf werden wir später zurückkommen, denn hier setzt die Kritik an.«
»Weil es sein könnte, dass die Voraussetzungen in der Wirklichkeit gar nicht erfüllt sind.«
»Richtig. Zuvor erkläre ich dir aber die Freihandelstheorie von David Ricardo, die für die Ökonomik viel bedeutender als Smiths Theorie war. Betrachten wir dazu den Handel zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Würdest du sagen, dass Adam Smith ein gutes Argument dafür liefert, dass es zwischen den beiden Freihandel geben sollte?«
»Nicht wirklich. Wahrscheinlich sind die Industrienationen in fast allem besser als die Entwicklungsländer. Dann lohnt sich der freie Handel aber gar nicht. Wenn mein Nachbar im Rasenmähen und Heckenschneiden besser ist als ich, wird er mit mir wohl kaum einen Handel eingehen.«
»Vielleicht doch. Ricardo hat nämlich gezeigt, dass dein Nachbar unter bestimmten Voraussetzungen auch dann einen Vorteil hat, wenn du in Beidem schlechter bist.[iii] Angenommen, dein Nachbar braucht für das Rasenmähen 3 Stunden und für das Heckenschneiden zwei Stunden. Im Heckenschneiden ist er ein wahrer Meister. Du brauchst für das Rasenmähen doppelt so lange und für das Heckenschneiden leider viermal so lange. Heckenscheiden fällt dir sehr schwer, im Rasenmähen bist du aber nicht so ganz viel schlechter. Jetzt schlägst du ihm vor, das Rasenmähen zu übernehmen, während er die Hecken schneidet. Was kommt heraus?«
»Hm. Am besten ich schreibe das mal übersichtlich in einer Tabelle auf, hier:
Wenn ich beide Rasen mähe und er beide Hecken schneidet, braucht er nur 4 Stunden statt 5 und ich nur 12 Stunden statt 14. Wir haben durch die Spezialisierung beide also immer noch einen Vorteil, obwohl ich in Beidem schlechter bin.«
»Das ist das Prinzip des komparativen Vorteils, das David Ricardo in seinem 1817 erschienen Werk On the Principles of Political Economy and Taxation beschrieben hat. Er hat das Prinzip natürlich nicht am Beispiel vom Heckenschneiden und Rasenmähen erklärt, sondern am Handel mit Tuch und Wein zwischen England und Portugal. Selbst wenn England in beiden Bereichen produktiver ist als Portugal, kann es bei einem komparativen Vorteil durch den Freihandel seinen Wohlstand vergrößern. England beschränkt sich in Ricardos Beispiel auf das Tuch und Portugal auf den Wein, die dann getauscht werden.
Ricardos Prinzip wird bis heute in den neoklassischen Lehrbüchern verwendet, um den Freihandel zu verteidigen. Andere Ökonomen haben später versucht zu zeigen, dass auch andere Arten von Spezialisierungen zwischen Ländern zu größerem Wohlstand führen. Das neoklassische Hekscher-Olin-Theorem beispielsweise betrifft die Spezialisierung auf kapitalintensive Güter wie Smartphones und arbeitsintensive Güter wie Kleider.«
»Jetzt mal eine ganz simple Frage: Was bedeutet denn ›Freihandel‹ eigentlich?«
»Das erkläre ich am besten am Gegenteil: Der Handel mit harten Drogen ist bei uns nicht frei, sondern stark beschränkt. Es gibt Ausnahmen in der Medizin, ansonsten ist der Handel mit Drogen verboten. Solche Beschränkungen gibt es auch zwischen Ländern. Zum Beispiel ist es verboten, Schweinefleisch nach Saudi-Arabien einzuführen. Eine ähnliche Maßnahme sind Importquoten: Ein Gut darf nur bis zu einer bestimmten Mengengrenze eingeführt werden.
Viel häufiger als Verbote sind aber indirekte Hemmnisse. Das bekannteste ist der Zoll: Ausländische Produkte erhalten einen Aufpreis, den der Staat kassiert. Das macht den Verkauf des Produkts in diesem Land weniger attraktiv. Ein besondere Form von Zöllen sind Zollkontingente: Auch die EU erhöht den Zoll für manche Güter erheblich, wenn die Importe eine bestimmte Menge überschreiten. Dann gibt es Hemmnisse, die sich auf Eigenschaften der Produkte beziehen. Ein Land kann zum Beispiel bestimmte Qualitätsstandards oder Verpackungsvorschriften verlangen. Werden diese Vorschriften nicht erfüllt, darf das Produkt nicht eingeführt werden.
Eine weitere wichtige Möglichkeit, Einfuhren zu hemmen, ist die finanzielle Förderung eigener Unternehmen, also Subventionen. Die gibt es zum Beispiel häufig in der Landwirtschaft. Bauern erhalten vom Staat Gelder, mit denen sie ihre Kartoffeln, Tomaten oder Gurken deutlich billiger anbieten können. Dadurch werden importierte Lebensmittel relativ teurer, also lohnt sich ihre Einfuhr weniger oder gar nicht. Freihandel bedeutet wie gesagt das Gegenteil von alledem: Zwischen Staaten werden Zölle und andere Handelshemmnisse aufgehoben. Jeder kann in dem anderen Land verkaufen was er will und so viel er will.«
»Habe ich verstanden. Aber wir wollten ja auf die Weltwirtschaft hinaus. Wie sieht es denn mit dem Freihandel in der Weltwirtschaft tatsächlich aus? Hat sich Ricardos Theorie bewährt? Hat der Freihandel den Wohlstand vergrößert?«
»Nach einer verbreiteten Sicht haben Freihandel und Globalisierung erheblich zum Wohlstand beigetragen.[iv] Die Lokomotive dieser Entwicklung war nach dieser Erzählung England, das seit dem 18. Jahrhundert freie Märkte und freien Handel gefördert hat. Der wirtschaftliche Aufstieg Englands überzeugte viele andere Nationen von dieser Politik, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein enormes Wachstum der Weltwirtschaft hervorbrachte. Zwischen dem Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs gab es zwar erhebliche Rückschritte, danach wurde der Freihandel aber wieder gezielt gefördert.
1947 schlossen 23 Staaten, unter ihnen Großbritannien, Frankreich und die USA, einen Handelsvertrag ab, der üblicherweise mit GATT abgekürzt wird. Dieser Vertrag sollte helfen, Handelsbarrieren zu reduzieren. Seit seiner Gründung gab es immer wieder große Verhandlungsrunden, in denen die durchschnittlichen Zölle zwischen den beteiligten Ländern tatsächlich gesenkt wurden. Für den Vertrag wurde in Genf ein Sekretariat eingerichtet, das 1995 von einer großen Organisation abgelöst wurde: die berühmten Welthandelsorganisation (WTO). Zwar setzten viele Entwicklungsländer nach der Dekolonisation zunächst auf den Protektionismus, seit den 80er Jahren verhalf die neoliberale Revolution aber nicht nur dem Freihandel, sondern auch nationalen freien Märkten international zum Durchbruch. Ein Aushängeschild für diese Wirtschaftspolitik waren nach dieser Sichtweise die Wirtschaftswunder in Ostasien, die ebenfalls auf Freihandel und freie Märkte gesetzt hatten.«
»Und wie wurde diese Politik in den Entwicklungsländern umgesetzt?«
»Eine wichtige Rolle spielten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Beide sind Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Die Weltbank sollte ursprünglich den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs durch Kredite unterstützen und der IWF sollte für stabile Währungen sorgen. Heute vergibt die Weltbank vor allem Kredite an Entwicklungsländer, um deren Wirtschaft zu fördern und die Armut zu bekämpfen. Auch der IWF vergibt Kredite an Mitgliedsländer, die in Zahlungsschwierigkeiten gekommen sind. In den 80er und 90er Jahren erhielten viele Entwicklungsländer von diesen Institutionen Kredite, mussten aber dafür in ihrem Land die freie Marktwirtschaft fördern. Die staatliche Unterstützung von Schulen, Krankenhäusern und Arbeitslosen wurde zurückgefahren. Arbeitnehmern konnte leichter gekündigt werden und staatliche Unternehmen wurden privatisiert. Aber gerade auch Handelshemmnisse wurden abgebaut. Diese Programme werden als ›Washington Consensus‹ bezeichnet, bei deren Durchsetzung die USA eine zentrale Rolle spielten.«
»Wenn man an die Vorgeschichte im 19. Jahrhundert und an die Wirtschaftswunder in Ostasien denkt, dann muss diese Wirtschaftspolitik doch sehr erfolgreich gewesen sein.«
»Tatsächlich wird der Freihandel von neoklassischen und neoliberalen Ökonomen bis heute entschieden befürwortet. Trotz mancher Kritik am Washington Consensus, auch in den eigenen Reihen, wird auch er als erfolgreich verteidigt.«[v]
»Dann war der Erfolg gar nicht so eindeutig?«
»Aus postkeynesianischer Sicht überzeugen weder die ökonomische Theorie noch deren Erfolgsgeschichte in der Weltwirtschaft.«
Erfahren Sie im nächsten Artikel, welche Argumente von heterodoxen Ökonomen gegen die Freihandelstheorie angeführt werden und was gegen die Erfolgsgeschichte des Freihandels spricht.