JAKOB ERKLÄRT LUKAS WIRTSCHAFT - 11

Freihandel als Fluch

| 23. Juli 2021
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Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.

Zuletzt hatte Jakob Lukas die klassische Freihandelstheorie erklärt und deren verbreitete Erfolgsgeschichte beschrieben. Heute erläutert er die Kritik am Freihandel aus der Sicht postkeynesianischer und anderer heterodoxer Ökonomen, die den Marktfundamentalismus ablehnen.

»Was gibt es gegen den Freihandel zu sagen? Zunächst komme ich noch einmal auf deine Frage, was Freihandel eigentlich bedeutet, zurück. Diese Frage mag simpel sein, sie ist aber sehr wichtig. Wie wir gesehen hatten, gibt es viele Formen von Handelshemmnissen zwischen Ländern. Selbst Vorschriften für Verpackungen gehören dazu. Wenn Freihandel bedeutet, dass all diese Hemmnisse aufgehoben werden und jeder handeln kann was er will und so viel er will, dann gibt es keinen Freihandel auf der Welt und auch niemanden, der das wünscht. Denn dies würde den Handel mit Menschen, Atomwaffen und vielen anderen Gütern einschließen, deren unregulierter Handel offenbar schädlich ist. Wenn jemand nach freiem Handel ruft, sollte man genau hinhören was da eigentlich frei werden soll und warum. Viele Akteure, die Freihandel propagieren, sind zugleich für strenge Regulierungen im internationalen Handel, nicht zuletzt, wenn es um Patentrechte geht.«

»Aber gibt es nicht doch eine Menge Güter, bei denen der freie Handel im Sinne Ricardos den Wohlstand auf der Welt vergrößern würde?«

Aus der Sicht heterodoxer Ökonomen kann auch das sehr schädlich sein.[i] Schauen wir uns dazu noch mal unser Beispiel an: Zwischen dir und deinem Nachbarn besteht hinsichtlich der Gartenarbeiten Freihandel. Ihr dürft euch beim Heckenschneiden und Rasenmähen gegenseitig helfen. Nach Ricardo könnt ihr davon sogar dann einen Vorteil haben, wenn du für beide Arbeiten länger brauchst als dein Nachbar. Daraus werden wir jetzt ein ökonomisches Gesetz machen, das Heckenschneiden-Rasenmähen-Theorem: Wenn Freihandel und ein komparativer Vorteil bei Gartenarbeiten besteht, vergrößert sich der Wohlstand von Nachbarn.

Wenn man darüber ein wenig nachdenkt, kommt man schnell zu dem Schluss, dass in dem Theorem eine ganze Reihe weiterer Voraussetzungen fehlen. Zum Beispiel könnten zwei Nachbarn zerstritten sein und sich nicht mal mehr grüßen. Oder einer von beiden hat so viel Spaß an seinem Garten, dass er seine Arbeiten alleine machen möchte. Dann wird es wohl kaum zu einer Arbeitsteilung kommen. Auch im internationalen Handel klingt Ricardos Theorie auf den ersten Blick sehr überzeugend und leicht anwendbar. Sie ist aber ebenfalls von weiteren Voraussetzungen abhängig, die nicht ohne weiteres erfüllt sind. Schau einmal genauer hin, fällt dir da nichts auf?«

»Lass mich mal überlegen: Angenommen England und Ägypten stellen beide Tuch und Schuhe her. England ist in beidem besser, aber Ägypten bei den Schuhen weniger schlecht als beim Tuch. Also schließen England und Ägypten einen Freihandelsvertrag ab. Warum sollte sich England jetzt aber auf Tuch spezialisieren? Englische Schuhproduzenten könnten ihre Produktion ausweiten und englische Tuchunternehmer könnten in die Schuhproduktion einsteigen. Da sie einen absoluten Vorteil haben, können sie die ägyptischen Produkte vom Markt verdrängen. Sie machen in Ägypten mit ihren Produkten extra Profite. Warum sollten sie darauf verzichten?«

»Weil sie ihre Produktion gar nicht ausweiten und keine zusätzlichen Fabriken errichten können. Klingt merkwürdig, aber das ist eine weitere Voraussetzung Ricardos: Er geht davon aus, dass beide Volkswirtschaften voll ausgelastet sind. Was in England hingegen noch möglich ist, ist dass die englischen Schuhunternehmer auf Tuch umsatteln und England mit Ägypten Handel treibt. Diese Voraussetzung Ricardos trifft in der realen Welt aber nicht zu. Wenn Industrienationen in einer Freihandelszone ihre Produktion ausweiten, können sie die Entwicklungsländer leicht schädigen.

In deinem Beispiel: Die ägyptischen Unternehmen sind mit den billigeren Schuhen und dem billigeren Tuch aus England nicht konkurrenzfähig. Ihre Waren werden im Regal liegen bleiben. Die englischen Unternehmer hingegen werden ihren Profit steigern, in Ägypten wird aber die Arbeitslosigkeit zunehmen. Es braucht eine ganze Reihe weiterer Voraussetzungen, damit ein Land in einer Freihandelszone nicht den Kürzeren zieht. Sehr voraussetzungsreich sind auch das genannte Heckscher-Olin-Theorem und andere neoklassische Freihandelstheorien. Wie wir bereits gesehen hatten, setzen neoklassische Modelle Annahmen voraus, die in der Realität kaum erfüllt sind: Neben der vollkommenen Auslastung der Produktionskapazitäten einschließlich Vollbeschäftigung, vollkommene Konkurrenz, vollkommene Information, keine Transportkosten usw. In der Freihandelstheorie kommen weitere Annahmen hinzu, die ebenfalls sehr unrealistisch sind wie die gleiche Technologie oder gleiche Konsumwünsche in allen beteiligten Ländern.«

»Wie du gesagt hast, wird in der Neoklassik aber angenommen, dass die Modelle immer noch realistisch genug sind oder dass man Unvollkommenheiten in die Modelle integrieren kann.«

»Das ist richtig, hat aus der Sicht heterodoxer Ökonomen aber Grenzen, vor allem wenn Modell und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.«

»Du meinst die Erfolgsgeschichte der Freihandelstheorie?«

»Ja. An dieser Stelle kommen wir noch einmal auf den Toyopet zurück, das Toyota-Haustier, der in den USA so wenig Erfolg hatte. Wie gesagt, gab es in Japan damals eine Diskussion zwischen Verteidigern des Freihandels und seinen Gegnern. Toyotas Kritiker wie die japanische Zentralbank argumentierten wie Ricardo: Toyota hatte bisher Textilmaschinen hergestellt und darin besaß es gegenüber der USA einen komparativen Vorteil. Autos zu produzieren wäre dagegen nachteilig, denn darin seien die USA nun einmal viel besser. Genauso gut könntest du versuchen, so schnell wie dein Nachbar Hecken zu schneiden.

Für andere war das aber kein gutes Argument. Sie sagten, wenn ein Land Wohlstand erreichen will, sind nun mal hochtechnisierte Industrien wie die Autoindustrie notwendig. Und solche Industrien zu entwickeln, braucht Zeit. Wenn wir Japan aber für den Freihandel öffnen wird folgendes passieren: Die Amerikaner und Europäer werden in Japan ihre Autos verkaufen, gegen die Toyota keine Chance hat. Toyota wird unweigerlich Pleite gehen. Japan muss den Handel mit ausländischen Autos so lange erschweren, bis Toyota konkurrenzfähig ist. Das hat die japanische Regierung tatsächlich auch getan. Sie hat nicht nur General Motors und Ford vom japanischen Markt ferngehalten, sondern auch Toyota vor der Pleite gerettet. Auch in Südkorea hat die Regierung die Entwicklung der eigenen Autoindustrie mit sehr hohen Zöllen geschützt. Welche Chance hätten diese Firmen gehabt, wenn ein VW oder Ford billiger gewesen wäre als ihre Autos? Stelle dir vor, ein KIA kostet hier viermal so viel wie ein VW, wer von uns würde so ein Auto kaufen?«

»Keiner! Höchstens Liebhaber koreanischer Autos vielleicht, die eine Menge Geld übrig haben. Aber sind Korea und Japan nicht Ausnahmen? Haben die meisten reichen Industriestaaten ihren Wohlstand nicht durch Freihandel und freie Märkte erreicht?«

»Kritiker des Freihandels wie der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang halten dies für einen Mythos, der mit der wahren Geschichte des Kapitalismus wenig zu tun hat.[ii] Fast alle reichen Industrienationen wie England, die USA, Deutschland, Frankreich oder die skandinavischen Länder haben die Entwicklung ihrer Industrien demnach durch Handelsbarrieren stark geschützt. Ausnahmen waren lediglich die Niederlande, Hongkong und die Schweiz während dem ersten Weltkrieg.

Der erste amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton entwickelte ein Programm zum Schutz von ›Infant Industries‹, also Industrien, die noch in den Kinderschuhen stecken. Leider konnte er die Verwirklichung seines Programms nicht mehr miterleben, denn er wurde von Vizepräsident Burr erschossen. Aber seit den 1830ern schützten die USA ihre Industrie für über hundert Jahre wie kein anderes westliches Land in dieser Zeit durch Protektionismus. England praktizierte den Freihandel erst, als seine Industrie die Weltspitze erreicht hatte. Davor war es ebenfalls über hundert Jahre lang Weltmeister im Protektionismus gewesen.«

»Wenn das stimmt, dann müssen die 80er und 90er für die Entwicklungsländer schlecht gelaufen sein. Denn die Programme des IWF und der Weltbank sollten ja Freihandel und freie Marktwirtschaft fördern.«

»Der bekannte amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz, übrigens ein Neoklassiker, hat einen Bestseller darüber geschrieben: Die Schatten der Globalisierung. Er war in dieser Zeit einige Jahre Chefökonom der Weltbank, kritisierte deren Politik dann aber so scharf, dass sie ihn herauswarfen. Nach Stiglitz passierte genau das, wovor die japanischen Verteidiger Toyotas gewarnt hatten: Als die Entwicklungsländer ihre Handelsbarrieren senkten, wurden sie von den Produkten aus den hochtechnisierten Ländern überschwemmt, die viel billiger waren als ihre eigenen. Auch die Landwirtschaft war davon betroffen, denn die Anbaumethoden in den Industrieländern waren der Produktion einfacher Bauern weit überlegen. Zu den Folgen der Programme gehörten nach Stiglitz Hunger, Aufstände und die Verschärfung der Ungleichheit. Wie von Ha-Joon Chang betont, sank das Wachstum der Entwicklungsländer in dieser Phase deutlich ab: Es betrug in den 60ern und 70ern 3 Prozent und fiel zwischen 1980 und 2000 auf 1,7 Prozent. Und auch dieses geringere Wachstum ist zu einem Teil auf Länder wie Indien und China zurückzuführen, die die neoliberale Politik nicht mitmachten.[iii]

Selbst wenn die Öffnung für den Weltmarkt zu Wachstum führt, garantiert dies keineswegs, dass damit auch das Gemeinwohl wächst, denn der freie Handel ist gegenüber moralischen Maßstäben blind. Für ein Entwicklungsland ist es am wichtigsten, dass Armut, Hunger, Mangelernährung und leicht heilbare Krankheiten bekämpft werden. Ausländische Unternehmen, die in Entwicklungsländer investieren, interessieren sich aber für Produkte, die den meisten Gewinn abwerfen und sie verkaufen sie in Ländern, wo sie am meisten dafür bekommen.

Zwei von vielen Beispielen sind Paraguay und die Elfenbeinküste. Der Soyaboom in Paraguay seit den 90ern führte zu erheblichem Wachstum und steigenden Exporten. Die Profiteure waren jedoch vor allem große Konzerne, wogegen etwa hunderttausend Kleinbauern gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen. Während die Sojabohnen in China für die Tiermast oder in Europa für Biodiesel verwendet werden, füllten sich in Paraguay und Argentinien die Slums mit vertriebenen Kleinbauern.[iv] Die Elfenbeinküste war sehr erfolgreich in der Steigerung von Exporten landwirtschaftlicher Güter, insbesondere Kakao. Der Mangelernährung in der Bevölkerung nahm seit den 90ern jedoch sogar zu und Kinderarbeit unter sklavenähnlichen Bedingungen blieb ebenfalls weit verbreitet.[v]«

»Dann ist der oft geschmähte Protektionismus gar nicht so schlecht?«

»Aus der Sicht heterodoxer Ökonomen ist das seit Jahrzehnten anhaltende Lob des Freihandels nicht nur ökonomisch verfehlt, sondern auch heuchlerisch, weil die westlichen Industrienationen im Interesse einflussreicher Branchen selbst Protektionismus betrieben haben. Nach über 25 Jahren neoliberaler Freihandelspolitik bekannte selbst der Generaldirektor der WTO:

›Aber heute halten eine Anzahl wesentlicher WTO-Regeln tatsächlich eine gewisse Benachteiligung der Entwicklungsländer aufrecht. Das stimmt z.B. bezüglich der Regeln für Agrarsubventionen, die handelsverzerrende Subventionen erlauben, die gewöhnlich Industrieländer begünstigen. Das stimmt auch wenn wir die hohen Zölle betrachten, die Industrieländer auf Agrar- und Industrieimporte legen, vor allem aus Entwicklungsländern. Ich sage oft, dass wir, während die politische Entkolonialisierung vor über 50 Jahren stattfand, die wirtschaftliche Entkolonialisierung noch nicht vollzogen haben.‹[vi]

Durch die Propagierung von freien Märkten und Freihandel ist die Vorstellung, es sei natürlich, dass jedes Land in einem freien, weltweiten Wettbewerb steht, tief in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Das ist aus der Sicht heterodoxer Ökonomen nicht nur falsch, sondern auch moralisch äußerst fragwürdig. Wettbewerb mag innerhalb einer Volkswirtschaft Sinn machen, international tut er es nicht. Man kann Nationalmannschaften in einen Wettbewerb gegeneinander antreten lassen, denn dabei geht es um nichts. In der Wirtschaft geht es aber um Leben und Tod. Würden wir die Nationalmannschaft von Niger gegen den Fußballweltmeister antreten lassen, wenn deren Überleben vom Ausgang des Spiels abhängt?

Tatsächlich gleichen die Unterschiede im Welthandel vielmehr eher einem Spiel zwischen einer Nationalmannschaft und Dorfkindern. In diesem Fall würde aber niemand rufen: Lasst sie in einem Wettbewerb gegeneinander antreten, bei dem für alle die gleichen Regeln gelten sollen. Wenn Protektionismus und staatliche Lenkung der Weg war, durch den der Westen reich wurde, dann sollte dieser Weg gerade armen Ländern nicht versperrt werden.

Aber auch zwischen reicheren Ländern ist Freihandel aus postkeynesianischer Sicht keineswegs unproblematisch: Wenn sich ein Land wie Deutschland durch Niedriglöhne einen Vorteil verschafft, führt dies bei seinem Freihandelspartner unter anderem zu Arbeitslosigkeit. Doch darüber hatten wir bereits im Zusammenhang mit der Eurokrise gesprochen

»Ich erinnere mich.«

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.

[i] Vgl. Heiner Flassbeck/Paul Steinhardt (2018): Gescheiterte Globalisierung. Frankfurt a. Main, S. 21 -26.
[ii] Vgl. Ha-Joon Chang (2008): Bad Samaritans: The Myth of Free Trade and the Secret History of Capitalism. NewYork.
[iii] Ebd. S. 27.
[iv] Vgl. Frances Moore Lappé/Joseph Collins (2015): World Hunger: 10 Myths. New York, S. 172 - 173 und Reto Sonderegger (2008): Weiträumig vergiftet, in: amnesty - Magazin der Menschenrechte,  https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2008-2/paraguay-agroindustrie (letzter Zugriff: 13.7.2021).
[v] Vgl. Frances Moore Lappé/Joseph Collins, S. 173.
[vi] Pascal Lamy (2007): The Doha Round at a Crossroad. WTO News: Speeches – DG Pascal Lamy https://www.wto.org/english/news_e/sppl_e/sppl64_e.htm (letzter Zugriff: 13.7.2021). Zitiert nach: Kunibert Raffer (2014): Macht zur Gestaltung - Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik- Prof. Raffer. [Youtube-Video] https://www.youtube.com/watch?v=YCLQz_XqPU4 (letzter Zugriff: 13.7.2021).