Das Demokratiedefizit der neuen EU-Fiskalregeln
Die vorgeschlagenen neuen Haushaltsregeln der EU würden den Mitgliedstaaten mehr Spielraum bei der Festlegung ihres "fiskalpolitischen Kurses" geben – leider aber nicht den Parlamenten.
In einem kürzlich erschienenen Artikel argumentierte Philipp Heimberger, dass der vorgeschlagene reformierte finanzpolitische Rahmen der Europäischen Union zwar vernünftige Elemente enthalte, aber verbesserungswürdig sei. Einer der von ihm als problematisch eingestuften Bereiche ist die mangelnde Beteiligung der Parlamente an den nationalen Haushaltsverfahren.
Als Parlamentarier weiß ich aus erster Hand, wie gering der Einfluss der Abgeordneten auf die nationalen Haushalte und damit auf die Ausgabenpolitik im Allgemeinen ist. Das ist alarmierend.
Der alljährliche Haushaltsplan gibt faktisch die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung vor ‒ er formt und spiegelt die sozialen Normen wider und gibt Einblick in die Werte einer Gesellschaft. Ein neuer Wohnungsbaufonds zum Beispiel ist nicht nur ein Finanzierungsinstrument: Er stellt eine politische Entscheidung dar, die Schaffung öffentlichen Wohnraums zu fördern und den Wohnungsbau nicht dem Einzelnen und dem Markt zu überlassen.
Die Parlamente sollten der Ort sein, an dem solche Werte debattiert und hinterfragt werden. Doch das ist keineswegs der Fall, zumindest nicht in meinem eigenen nationalen Parlament in Lettland. Und die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Haushaltsrechtsreform könnte die demokratische Kontrolle über die Haushaltspolitik weiter erschweren.
'Zu viel Demokratie'
Soll eine große Reform tragfähig sein, muss sie den wichtigsten Interessengruppen ein vernünftiges Angebot machen. Der Kommission zufolge soll die Rolle der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihres "haushaltspolitischen Kurses" praktisch gestärkt werden.
Die Mitgliedstaaten sollen Vierjahrespläne vorlegen, in denen die notwendigen Reformen und Investitionen zur Erreichung der Haushaltsziele und zur Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte bei gleichzeitiger Sicherung des Wachstums beschrieben werden. Im Gegenzug übernimmt die Kommission mehr „Kontrollfunktionen", indem sie diese Pläne bewertet, die Umsetzung überwacht und gegebenenfalls die Einhaltung allgemeiner Bilanzierungsregeln durchsetzt.
Dies mag ein fairer Deal sein. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass dadurch die nationalen Parlamente noch stärker als bisher von einer wirksamen Kontrolle ausgeschlossen werden. Der institutionellen Struktur der Eurozone liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Fiskalpolitik vor einem "Zuviel an Demokratie" geschützt werden muss, da man den Politikern keine umsichtige Haushaltsführung zutraut.
Wäre die Haushaltspolitik tatsächlich demokratisch, so wären die nationalen Parlamente für die Bewertung, Überwachung und Einhaltung der Vorschriften zuständig. Damit hätten die Abgeordneten ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn es darum geht, wie die Mittel organisiert, verteilt und verbraucht werden. Würden diese Funktionen jedoch der Kommission übertragen, wären die nationalen Parlamente nur noch Spielball im großen Spiel um die Fiskalgewalt.
Sinnlosigkeit und Absurdität
Die derzeitigen, seit März 2020 aufgrund der Pandemie ausgesetzten Regeln schränken die Parlamente bereits bei der Wahrnehmung ihrer Haushaltsbefugnisse ein. Dies betrifft sowohl das große Ganze als auch die alltägliche politische Arbeit. Generell erfüllen die Bestimmungen hinsichtlich erlaubter Schulden und Defizite keine wirtschaftliche, sondern eine rein politische Funktion.
Ökonomisch heterodoxe Wissenschaftler haben viele Stunden damit verbracht, die Sinnlosigkeit und Absurdität dieser Haushaltsregeln aufzuzeigen ‒ und aus ökonomischer Sicht haben sie natürlich recht. Dennoch ist es gleichermaßen sinnlos, mit ökonomischen Argumenten gegen diese Regeln zu argumentieren, da ihre Rolle lediglich darin besteht, die Parlamente zu disziplinieren, indem sie in der Bilanz einen deutlichen Strich ziehen, unterhalb dessen keine Buchungen mehr zulässig sind. Praktisch begünstigt dies eine schlechte Haushaltsführung, da die Qualität eines Vorschlags nicht an seinem Inhalt gemessen wird, sondern daran, ob die damit verbundenen Ausgaben unter das zulässige Defizit rutschen.
Der undemokratische Charakter des fiskalischen Rahmens zeigt sich jedoch auch in alltäglicheren Dingen. Zwischen den Parlamenten, den Finanzministerien und der Kommission besteht eine deutliche Asymmetrie in Bezug auf Informationen, Wissen und Kapazitäten. Bereits der einem Parlament vorgelegte erste Haushaltsentwurf eines Finanzministeriums ist stark von makroökonomischen Annahmen über den Handlungsspielraum geprägt.
Selbst wenn die Abgeordneten verstehen, was ein "strukturelles" Defizit (im Gegensatz zu konjunkturellen Schwankungen) bedeutet, wie das "potenzielle" Bruttoinlandsprodukt berechnet wird und wie damit verbundene „Output-Lücken" abgeleitet werden, ist es ihnen nicht möglich, deren Verwendung und Bedeutung von vornherein zu beanstanden. Man kann lediglich „heikle " Fragen stellen, um zu verdeutlichen, wie politisch diese technischen Begriffe und Einschätzungen sind ‒ ohne viel Hoffnung darauf, sie beeinflussen zu können.
Ähnlich umstritten
Der neue finanzpolitische Rahmen soll die weithin umstrittenen „Output-Lücken" abschaffen. Doch die ihm zugrunde liegende „Schuldentragfähigkeitsanalyse" wird sich wahrscheinlich als ebenso umstritten erweisen. Oberflächlich betrachtet, handelt es sich dabei (wieder) um ein technisches Instrument, diesmal zur Berechnung der Entwicklung der Schulden eines Landes. Aber diese wird natürlich auf Wachstumsprognosen und Vorhersagen über die Auswirkungen der öffentlichen Ausgaben beruhen, die viele den meisten Abgeordneten wahrscheinlich nicht bekannte technische Annahmen enthalten, und daher nicht hinterfragt werden können.
Die meisten Parlamente haben wahrscheinlich nicht die nötige Zeit und Sachkompetenz, um sich mit solchen Fragen zu befassen, und werden die ihnen vorgelegte Analyse einfach akzeptieren, auch wenn sich daraus die Höhe der Ausgaben ergibt, die das Land im kommenden Jahr tätigen darf. Dies schränkt die Möglichkeiten der Abgeordneten ein, die Prognosen auf die tatsächlichen sozioökonomischen Bedürfnisse des Landes abzustimmen. Selbst Investitionsprojekte mit einem eindeutigen langfristigen Nutzen werden wahrscheinlich auf der Grundlage von Rechnungslegungsvorschriften abgelehnt, die eine kurzfristige Planung begünstigen.
Fairerweise muss man sagen, dass dies nicht allein die Schuld der Kommission ist. Und es gibt eine Menge Dinge, die die nationalen Parlamente zur Verbesserung ihrer Kontrolle über den Haushalt tun können. Aber schon jetzt besteht für die Regierung eines Mitgliedstaates ein Anreiz, die Rolle des Parlaments in diesem Prozess zu minimieren: Sie beantragt vor der Konsultation des Parlaments die Zustimmung der Kommission zum geplanten Haushalt, sodass jede bedeutende Änderung eine weitere Zustimmung der Kommission erfordert, was die Entscheidungsfindung in einer Weise in die Länge zieht, die jede Regierung vermeiden möchte. Erteilte das Parlament seine Zustimmung vor der Kommission, würde dies bereits zu mehr Demokratie führen und die Abgeordneten zu wichtigeren Akteuren machen.
Der neue haushaltspolitische Rahmen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wie demokratisch er tatsächlich ist, wird sich jedoch am besten an den Parlamentsdebatten über den Rahmen selbst ablesen lassen. Wahrscheinlich wird es keine ernsthaften Debatten geben, was bestätigen würde, wie sehr die Parlamente durchgehend von diesen Entscheidungen ausgeschlossen bleiben.
Dieser Beitrag erschien im Englischen zuerst auf Social Europe.