Warum Grenzen wichtig sind
Steuern wir auf ein Europa ohne Grenzen oder ein Europa der Nationen zu?
Die westliche Gesellschaft hat sich von Grenzen ebenso entfremdet wie von sozialen Begrenzungen, die der menschlichen Lebenswelt seit Jahrhunderten einen Sinn gegeben haben. Zahlreiche Kommentatoren in der Europäischen Union behaupten, dass Grenzen im Zeitalter von Massenmigration und Globalisierung irrelevant geworden seien. Einige gehen sogar so weit, dass sie Grenzen gänzlich aufheben wollen. Und es werden nicht nur die Grenzen angegriffen, die die Nationen voneinander trennen.
Die traditionellen Grenzen, die Erwachsene von Kindern, Männer von Frauen, Menschen von Tieren, Bürgern von Nicht-Bürger oder das Private vom Öffentlichen trennen, werden zunehmend als willkürlich, unnatürlich und ungerecht angeprangert. Die Kontroverse um Massenmigration und physische Grenzen verläuft parallel dazu. Sie hängt eng mit den Debatten über symbolische Grenzen zusammen, die die Menschen brauchen, um sich im Alltag zurechtzufinden.
Paradoxerweise steht der Versuch, herkömmliche Grenzen zu ändern oder abzuschaffen, neben dem Gebot, neue Grenzen zu errichten. No-Border-Aktivisten fordern sichere Räume für Geflüchtete, die Gegner der „kulturellen Aneignung“ fordern Sprachkontrollen, und die Verfechter der Identitätspolitik sind damit beschäftigt, Minderheiten von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen.
Die Entfremdung der Gesellschaft
Die zeitgenössische Gesellschaft – insbesondere ihre kulturellen und politischen Eliten – tut sich schwer damit, symbolischen Grenzen Bedeutung zu verleihen. In der akademischen Literatur und den Kommentarspalten der Medien wird zunehmend der willkürliche und fließende Charakter von Grenzen hervorgehoben und deren moralischer Status und Legitimität implizit oder explizit in Frage gestellt. Häufig werden Grenzen unter dem Einfluss postmoderner Theorien – insbesondere der Arbeiten des französischen Philosophen Gilles Deleuze – als unbestimmte und künstliche Konstruktion dargestellt. Als Beispiele dienen die so genannte Künstlichkeit der Grenze zwischen Ost und West, zivilisiert und unzivilisiert oder Europa und Asien.
Diese Tendenz, Grenzen – wie auch andere stark ausgeprägte Unterscheidungen und Abgrenzungen – ausschließlich in einem negativen Licht zu sehen, ist auch in der zeitgenössischen Populärkultur weit verbreitet. Diese Post-Border-Programmatik, die Identifikation mit einem fluiden Zustand jenseits von Grenzen, wird als positive Tugend dargestellt. In Wirtschaft, PR und Werbung ist der Enthusiasmus für die "Grenzenlosigkeit" ein Ausdruck für Risikobereitschaft, Pioniergeist und die Erkundung des Unbekannten.
Es wäre in der Tat inspirierend, wenn es sich hier um einen Rückgriff auf den aufgeklärten kantischen Begriff des Kosmopolitismus handeln würde. Doch leider wird die kulturelle Ablehnung der Grenzen von zahlreichen widersprüchlichen Impulsen angetrieben. Die dominierende Triebkraft ist dabei die Angst, Verantwortung für symbolische Unterscheidungen und klare Grenzziehungen zu übernehmen. Das betrifft die Politik genauso wie die kindliche Erziehung. Seit einiger Zeit bemühen sich Eltern und Lehrer, eher die Freunde der Jugendlichen zu sein als ihre moralischen Vorbilder und Mentoren.
Natürlich ist dem Hinweis, dass Grenzen soziale Konstruktionen sind, die sowohl künstlich als auch willkürlich sind, nur schwerlich zu widersprechen. Jeder, der sich eine Weltkarte ansieht, wird von ihrem willkürlichen Charakter beeindruckt sein. Viele der Grenzen Afrikas sind in geraden Linien gezogen und zeugen von der Phantasielosigkeit der kolonisierenden Mächte. Die Grenze zwischen einem Kind und einem Erwachsenen wird von Jugendlichen im Prozess der Adoleszenz immer wieder überschritten. Die Grenzen zwischen Nationen werden fortwährend von Politikern, Armeen, Internetanbietern, Unternehmen, Schmugglern und Migranten auf die Probe gestellt. Keine Grenze ist unantastbar.
Dennoch sind Grenzen nicht nur künstliche Konstruktionen. Sie sind der physische oder symbolische Ausdruck eines sozialen Bedürfnisses. Man kann nicht erwarten, dass jeder eine bestimmte Grenze mag, aber dieses Medium der Trennung und Abgrenzung drückt Bedürfnisse und Erwartungen aus, die in der Gesellschaft verwurzelt sind.
Zur Verteidigung der Grenzen
Angesichts des engen und offensichtlichen Zusammenhangs zwischen klaren Grenzen und der nationalen Souveränität ist es nicht verwunderlich, dass letztere ebenfalls zur Zielscheibe einer entgrenzten Weltanschauung geworden ist. Nationale Souveränität wird als überholte Idee abgetan, die nicht nur Menschen spalte und Nationen gegeneinander ausspiele, sondern in einer globalisierten Welt auch obsolet geworden sei. Einher geht diese Kritik mit der Abwertung der nationalen Staatsbürgerschaft, die insofern diskriminierend sei, als sie Menschen, die in einem anderen Teil der Welt leben, nicht den gleichen Status und die gleichen Rechte zukommen lässt.
Die politische Philosophin Hannah Arendt hingegen hat eindringlich argumentiert, dass "ein Bürger per Definition ein Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft ist". Sie erklärt, dass die "Pflichten eines Bürgers nicht nur durch die Pflichten seiner Mitmenschen, sondern auch durch die Grenzen eines Territoriums definiert und begrenzt werden müssen" und schließt:
„Die Philosophie kann sich die Erde als Heimat der Menschheit und als ein einziges ungeschriebenes, ewiges und für alle gültiges Gesetz vorstellen. Die Politik hat es mit Menschen zu tun, die Angehörige vieler Länder und Erben vieler Vergangenheiten sind: ihre Gesetze sind die positiv errichteten Zäune, die den Raum schützen und begrenzen, in dem die Freiheit kein Konzept, sondern eine lebendige, politische Realität ist".
Die alten Griechen und später Arendt verwendeten die Metapher der Stadtmauern, um die Abgrenzung des öffentlichen Raums der Polis zu veranschaulichen. „Ein Volk sollte für die Gesetze der Stadt kämpfen, als wären sie ihre Mauern", sagte Heraklit.
Arendt entwickelte eine imaginative Theorie, in der die Entstehung von Grenzen durch den Nomos, die Gesetze der griechischen Stadtstaaten, ausgedrückt wurde. Erst durch die Verfestigung von Grenzen schaffe der Nomos die Voraussetzung für einen dauerhaften öffentlichen und politischen Raum: "Die Gesetzgebung schafft zunächst einen Raum, in dem sie gültig ist, und dieser Raum ist die Welt, in der wir uns in Freiheit bewegen können". Mit anderen Worten: Die politische Freiheit und ihre Ausübung sind ohne die räumliche Institutionalisierung des öffentlichen Lebens nicht denkbar.
Arendt war keineswegs die einzige Philosophin, die die Bedeutung der territorialen Begrenzung für das Gedeihen des politischen Lebens betonte. John Locke, neben Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant einer der Begründer der liberalen Philosophie, konzipierte die räumliche Abgrenzung als Grundlage der politischen Souveränität und Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung.
Der Angriff auf die nationale Souveränität und den Status der Staatsbürgerschaft beruft sich auf die angebliche Überlegenheit universeller und humanitärer Werte. Der Universalismus wird jedoch zu einer Karikatur seiner selbst, wenn er in eine metaphysische Kraft verwandelt wird, die über den vorherrschenden nationalen Institutionen steht. Der Versuch, Souveränität und Bürgerrechte zu ent-territorialisieren, reduziert die Menschen auf ihre abstraktesten individuellen Eigenschaften. So wie die Staatsbürgerschaft ihres ideellen und immateriellen Gehalts beraubt wird, verlieren die Menschen ihre Fähigkeit, als politische Gemeinschaft zu denken und zu handeln.
Aus diesem Grund argumentierte Arendt:
„Die Errichtung eines souveränen Weltstaates wäre bei weitem nicht die Voraussetzung für eine Weltbürgerschaft, sondern das Ende aller Bürgerschaft. Sie wäre nicht der Höhepunkt der Weltpolitik, sondern buchstäblich ihr Ende.“
Globale Tyrannei
Was auch immer das Motiv einer Ent-territorialisierung der Staatsbürgerschaft und der Schwächung der nationalen Souveränität sein mag: Es stellt eine direkte Herausforderung für die Demokratie und das öffentliche Leben dar. Und was immer man von Nationalstaaten halten mag: außerhalb ihrer Grenzen kann es kein demokratisches öffentliches Leben geben. Nur als Bürger, die innerhalb einer geografisch begrenzten Einheit miteinander interagieren, kann die demokratische Entscheidungsfindung funktionieren und nennenswerte Ergebnisse erzielen.
Die Idee des "kosmopolitischen Rechts", die Kant in seinem Aufsatz „Zum ewigen Frieden“ (1795) entwickelte, besagt, dass Fremde, die das Gebiet eines fremden Staates betreten, nicht mit Feindseligkeit behandelt werden dürfen. Er nannte diese Forderung das "natürliche Recht der Gastfreundschaft". Kants Konzept des Rechts auf Gastfreundschaft implizierte jedoch nicht das Recht, sich niederzulassen. Und es stellte die Legitimität territorialer Grenzen keineswegs in Frage. Kant wandte sich gegen eine grenzenlose Welt, weil ein Weltstaat zu einer globalen Tyrannei führen würde.
Stattdessen befürwortete Kant einen föderalen Zusammenschluss freier und unabhängiger Gemeinwesen, welcher "einer Vereinigung der einzelnen Nationen unter einer einzigen Macht, die sich über die anderen hinweggesetzt", vorzuziehen sei. Kants Ansicht, dass übernationalen Gesetzen die für die Ausübung von Autorität erforderliche moralische Tiefe fehle, erinnert an die heutigen Debatten um die EU-Rechtsprechung: Gesetze, so Kant, verlieren zunehmend ihre Wirkung, wenn die Regierung ihren Geltungsbereich vergrößert. Damit unterscheidet sich seine Vision des Kosmopolitismus grundlegend von der Sichtweise der heutigen No-Border-Kosmopoliten.
Die Identifikation mit den Menschen, die in eine gemeinsame Lebenswelt hineingeboren wurden, ist der wichtigste Weg, wie zwischenmenschliche Solidarität einen dynamischen politischen Charakter annehmen kann. Die Menschen, die ihre Bürgerrechte wahrnehmen, haben spezifische Interessen, die die Grundlage ihrer Solidarität bilden. Würde man sie dieser Interessen berauben, wäre ihre Fähigkeit, als mündige Bürger zu handeln, beeinträchtigt. Und ohne mündige Bürger gibt es keine Demokratie. Das ist eine Lektion, die auch die EU lernen muss.