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Chinas Aufstieg und die Ungleichheit: Urbanisierung und Wanderarbeiter
Von Rainer Land
| 27. August 2025IMAGO / Xinhua
China erlebte in 45 Jahren einen beispiellosen Aufstieg – doch Wanderarbeiter bleiben Bürger zweiter Klasse, Renten und Einkommen extrem ungleich verteilt. Der Boom zeigt Erfolge, aber auch tiefe Brüche.
Der inzwischen über 45 Jahre währende Aufstieg Chinas hat die Lage der Bevölkerung fundamental verbessert – und dies bezieht sich auf fast die gesamte Bevölkerung.
Unbestritten gibt es dem entgegenstehende Einzelschicksale – und zwar aus zwei Gründen: Einerseits betreffen sie die innenpolitische Opposition. Wird der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei in Frage gestellt, werden separatistische Ziele verfolgt oder gar terroristische Mittel eingesetzt (wie vor Jahren in Xinjiang), so waren und sind Verhaftungen, Verurteilungen und Repressionen die zu erwartende Reaktion.[1]
Zum anderen hatte die Entwicklung seit den 1980er Jahren eine ganze Reihe von Krisen und Umbrüchen zu bewältigen. Teilweise dramatische Veränderungen der Lebenswelt waren die Folge und werden auch künftig nicht zu vermeiden sein. Der Film „Bis dann, mein Sohn“, der die Geschichte zweier Familien von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart erzählt, berichtet über solche Schicksalsschläge, die im Kontext eines gesellschaftlichen Aufstiegs gezeigt werden.
Dramatische Umbrüche war die Inflation in den Jahren 1988 und 1989, die zu Massenprotesten der Bevölkerung, einem anschließenden Studentenaufstand und dessen gewaltsamer Niederschlagung am 4. Juni 1989 führten. Dann die Entlassung vieler Arbeitskräfte, als in den 1990er Jahren die Staatsbetriebe in Staatsunternehmen umgewandelt wurden. Die Umbrüche in den ländlichen Regionen und die damit verbundene Migration von Arbeitskräften in die Metropolen und in die Sonderwirtschaftszonen in den 1990er und 2000er Jahren waren mit teilweise schlimmen Zuständen in der Arbeitswelt und den Quartieren der „Wanderarbeiter“ verbunden. Familien aus ländlichen Regionen wurden auseinandergerissen und traditionelle Familienstrukturen im Zuge der Ein-Kind-Politik aufgebrochen.
Noch heute ist die Arbeitswelt für nicht wenige Menschen in China mit übermäßigen Belastungen und Erniedrigungen verbunden, obwohl sich die Lage seit 2010 deutlich verbessert hat. In dem Spielfilm „Moneyboys“ von C. B. Yi aus dem Jahr 2021 sagt Liang Long über seine Zeit als Wanderarbeiter in einer Fabrik in Shenzhen: „Ich habe dann in einer Fabrik gearbeitet. 16 Stunden täglich. Ich habe die Sonne nie gesehen.“ Sein Freund Liang Fei antwortet: „Leute wie wir können nicht das Leben führen, das Du dir wünschst. Denk doch mal nach. Ein eingesperrter Hund bellt ein paar Tage. Und dann ist er still.“
Trotz dieser Widersprüche zwischen dem Aufstieg der chinesischen Volkswirtschaft und den Problemen in der Lebenswelt der einfachen Arbeiter handelt es sich um einen Aufstieg, der einen sehr, sehr großen Teil der Bevölkerung aus einer elenden Lage herausgehoben hat und deutliche, noch in den 1980er Jahren unvorstellbare Verbesserungen brachte. Und der Aufstieg ist vermutlich nicht zu Ende. Allerdings gestaltete er sich nicht für alle Bürger gleich. Die einkommensschwächeren Schichten sinken nicht ab, sie steigen nur langsamer auf als die Mittel- und die Oberschicht. Die Ungleichheit nimmt zu, weil „einige schneller reich werden“, wie Deng formulierte. Wanderarbeiter mussten und müssen immer noch erhebliche Nachteile verkraften, obwohl sich auch deren Lage inzwischen verbessert.
Ist der Gini Koeffizient ein geeignetes Maß?
Der Gini-Koeffizient für die chinesischen Einkommen beträgt 46,5 von 100 (Wert für 2023, Angaben der Weltbank). 100 wäre absolut gleich, 0 maximal ungleich. 1978 betrug er geschätzt 30, 1990 wuchs er auf 38,9. Die Einkommensungleichheit hat während des chinesischen Aufstiegs bis etwa 2010 zugenommen, d. h. die höheren Einkommen wuchsen schneller als die geringen. Seit 2013 sinkt der Gini-Koeffizient leicht.
Zum Vergleich: In den USA betrug der Koeffizient 39,7 (2020), in Deutschland 29,5 (2024). Einen sehr geringen Wert hat die Slowakei mit 24, hohe Werte dagegen Südafrika 63 (2014) oder Hongkong 54 (2016). Die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung beträgt für China 70,1 (2021), im Vergleich dazu USA ca. 85, Deutschland 79 und Slowakei 51.
Allerdings muss man fragen, was der Gini-Koeffizient tatsächlich aussagt und ob er ein geeignetes Maß ist für ein Land der Größe und inneren Differenziertheit Chinas. Besteht eine Menge von Probanden theoretisch aus Arbeitnehmern, die alle Erwerbseinkommen aus Lohn beziehen, so bildet der Koeffizient die quantitative Ungleichheit qualitativ gleichartiger Einkommen gut ab. Bezieht aber ein Teil Arbeitnehmereinkommen, ein anderer aus Geldanlagen und ein größerer Teil der Probanden Einkommen aus selbständiger Tätigkeit als Landwirt und erzeugt einen relevanten Teil der benötigten Lebensmittel aus Eigenarbeit, so ist der Vergleich der Geldeinkommen nicht sehr aussagekräftig. Qualitativ verschiedene Einkommen werden scheinbar quantitativ verglichen. Das kann man machen, muss sich aber über die damit verbundene Messprobleme Rechenschaft ablegen.
Streng genommen setzt der Vergleich ähnliche Lebens- und Arbeitsweisen und ähnliche Lohnfindungsverfahren voraus. Das ist in dem riesigen und vielfältigen China nicht der Fall. Das Lohnniveau differiert, weil die Lohnfindungsmechanismen in den industriell geprägten Küstenregionen mit denen in ländlichen Regionen im Westen nicht vergleichbar sind. Auch die Lebenshaltungskosten sind sehr verschieden. Muss eine teure Wohnung finanziert werden? Oder lebt man im eigenen Haus auf einem Grundstück, das im Rahmen des Familienverantwortungssystems kostenlos oder sehr günstig gepachtet wurde? Die folgende Grafik zeigt das durchschnittliche Jahresgehalt eines Beschäftigten. Es ist in Shanghai und Peking fast doppelt so hoch wie der Durchschnitt, aber hier sind die Lebenshaltungskosten auch besonders hoch.
Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Einkommen
Gravierende Unterschiede bestehen zwischen ländlichen und städtischen Haushalten auch innerhalb der Provinzen. Das Einkommen städtischer Haushalte ist in der Regel das Mehrfache der ländlichen. Hier einige Beispiele:
Quellen: Sunan Yugur Autonomous County: Lokale Statistikbehörde (County Statistical Bulletin 2021); Baoting Li and Miao Autonomous County (Hainan): Hainan Statistical Yearbook 2020; Shouning County (Fujian): Fujian Provincial Statistical Yearbook 2019; Yicheng County (Henan): Henan Statistical Yearbook 2019; Yucheng County (Shandong): Shandong Provincial Statistical Yearbook 2017; Wutai County (Shanxi): Shanxi Provincial Statistical Yearbook 2019. Shiyan (Hubei): Daten der lokalen Statistikbehörde.
Das Hukou-System und die Lage der Wanderarbeiter
Ob ein Haushalt in China als „städtisch“ oder „ländlich“ gilt, hängt vom registrierten Hukou-Status ab – nicht nur vom Wohnort. In der Praxis kann ein Haushalt, der in der Stadt lebt, statistisch als „ländlich“ gezählt werden, solange er einen ländlichen Hukou mitgebracht hat und diesen nicht ändern konnte.
Das Hukou-System, also das System der staatlichen Haushaltsregistrierung, geht auf Registrierungssysteme der Kaiserzeit zurück. Das heutige System wurde 1958 eingeführt und hatte das Ziel, die Wanderung der Bevölkerung vom Land in die Städte zu verhindern bzw. zu kontrollieren. Die damalige KP-Regierung unter Mao Tse Tung wollte sicherstellen, dass die städtische Bevölkerung klein und kontrollierbar blieb, damit Nahrungsmittelversorgung und Arbeitsplätze gesichert waren. Es entstanden Stadtbürger mit vielen Privilegien und Landbewohner mit eingeschränkten Rechten. Der Hukou bestimmte, wo man wohnen und wo man arbeiten durfte, bestimmte den Zugang zu Schulen, Lebensmitteln und Gesundheitsversorgung. Stadt und Land hatten getrennte Versorgungssysteme. Migration ohne Genehmigung wurde kriminalisiert, es gab keine Freizügigkeit innerhalb Chinas und sie ist immer noch eingeschränkt.
Mit der Reform und Öffnungspolitik ab 1978 wurde das System gelockert, es gab und gibt schrittweise Reformen, aber es besteht bis heute formal fort. Die industrielle Entwicklung in den Städten brauchte Arbeitskräfte. Mehr als 400 Millionen Landbewohner wanderten per Saldo in drei Jahrzehnten in die Städte. 1979 lebten etwa 80 Prozent der Einwohner auf dem Land; 2023 sind es noch 36 Prozent, etwa zwei Drittel leben in Städten. Die meisten Migranten wanderten ohne Änderung des Hukou in die Städte, dort leben immer noch sehr viele Personen und Familien mit ländlichem Hukou. So entstand die Klasse der Wanderarbeiter (农民工, nongmingong): Es sind Stadtbewohner, die in der Stadt arbeiten, aber einen ländlichen Hukou haben.
Die Zuordnung des Hukou basiert auf dem „Statistischen Regelwerk zur Unterscheidung von städtischen und ländlichen Gebieten“, das 2008 vom Staatsrat gemeinsam mit mehreren Ministerien erlassen wurde. Als städtisch gelten formal als „Stadtbezirk“ oder „Stadtgemeinde“ definierte administrative Einheiten. Alles was nicht städtisch ist, gilt als ländlich. Die Zuordnung eines Haushalts oder einer Person zu einem städtischen oder ländlichen Hukou ändert sich beim Umzug nicht automatisch, sondern nur auf Antrag in teilweise komplizierten Verwaltungsverfahren. Zunächst behält ein Migrant das Hukou seiner Herkunftsregion.
Eine Änderung des Hukou – also die offizielle Umschreibung in eine andere Stadt oder Region – ist nicht so einfach. Man muss einen offiziellen Antrag stellen, und ob der bewilligt wird, hängt stark von der Stadt, der persönlichen Qualifikation und den jeweiligen politischen Programmen ab. Die wichtigsten Wege, wie ein Hukou geändert werden kann, sind:
- Bildung oder Studium: Wer an einer Universität in einer anderen Stadt aufgenommen wird, kann oft ein temporäres „Schul-Hukou“ bekommen. Nach dem Abschluss besteht manchmal die Möglichkeit, das Hukou dauerhaft in die Stadt zu verlegen (abhängig von Politik und Bedarf der Stadt).
- Arbeit: Große Städte wie Peking oder Shanghai haben strikte Kriterien. Nur hochqualifizierte Arbeitskräfte oder Personen, die bestimmte Programme erfüllen (z. B. Punktesysteme, „Talenteinwanderung“), dürfen ihr Hukou dorthin verlegen. In kleineren oder mittleren Städten ist die Umschreibung meist leichter, besonders wenn man dort offiziell arbeitet und Steuern zahlt.
- Kinder können in das Hukou ihrer Eltern umgeschrieben werden. Ehepartner können nach bestimmten Jahren Ehe und gemeinsamem Wohnsitz das Hukou zusammenlegen.
- Kauf von Immobilien: Einige Städte bieten Hukou-Umschreibung an, wenn man dort Immobilien erwirbt (oft gekoppelt an Mindestgrößen oder -werte). Andere Städte nutzen das Hukou als Anreiz, um Zuzug zu fördern.
In den letzten Jahren wurden in vielen Provinzen die Regeln gelockert, um Menschen von ländlichen in städtische Gebiete ziehen zu lassen. Aber Großstädte wie Peking, Shanghai und Shenzhen sind weiterhin sehr restriktiv. Rund zwei Drittel der Chinesen leben in städtischen Gebieten, aber weniger als die Hälfte besitzen ein städtisches Hukou – das bedeutet, dass ca. 250 Millionen Stadtbewohner ohne städtisches Hukou leben und damit oft als Bürger „zweiter Klasse“. Zwischen 2021 und 2023 haben 40 Millionen ländliche Migranten ein städtisches Hukou erhalten.
Die Zentralregierung hat in den letzten Jahren mehrfach betont, dass Hukou-Beschränkungen schrittweise gelockert werden sollen, vor allem in kleineren und mittleren Städten. Gleichzeitig sollen Megastädte wie Peking, Shanghai oder Shenzhen restriktiv bleiben, um Überbevölkerung und Belastung der Infrastruktur zu vermeiden. Vorgaben wie der National New-Type Urbanization Plan enthalten klare Ziele: bis 2026 sollen ca. 250 Millionen ländliche Einwohner ein städtisches Hukou erhalten.
In den ersten Jahren der Urbanisierung war die Lage der Wanderarbeiter dramatisch schlecht, obwohl sie in den Städten mehr Geld verdienen konnten als in ihren ländlichen Herkunftsregionen. Viele waren in schlechten Wohnheimen oder Containern untergebracht und mussten oft zu viel Geld für Unterkunft und Verpflegung bezahlen. Heute haben sich die Bedingungen zwar verbessert, aber die Folgen des Hukou-Systems sind für die Betroffenen immer noch dramatisch. Hier ein Vergleich zwischen drei Konstellationen:
Recherche ChatGBT
Fazit: In Metropolen leben Migranten oft Jahrzehnte, bleiben aber trotzdem sozial und rechtlich benachteiligt. Sie arbeiten in der Stadt, gehören aber nicht dazu. In Städten wie Chengdu können Migranten schnell vollwertige Bürger werden. In einer Kleinstadt ist eine Hukou-Änderung am leichtesten, aber die wirtschaftlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Der Hukou bedingt deutliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Einkommen, die sich bei den Alterseinkommen, den Sozialsystemen und den Bildungschancen in potenzierter Form fortsetzen.[2]
In China hängt die Lohnhöhe zwar formal nicht direkt am Hukou-Status (ländlich vs. städtisch). Das Arbeitsrecht schreibt vor, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit gelten soll. Aber in der Realität gibt es deutliche Unterschiede für Wanderarbeiter, die mit ländlichem Hukou in der Stadt arbeiten. Wanderarbeiter werden häufiger in niedrig bezahlten, körperlich anstrengenden Jobs (Bau, Reinigung, einfache Fertigung) beschäftigt, während Stadt-Hukou-Inhaber öfter in qualifizierten, stabilen Positionen sind. Viele Wanderarbeiter haben befristete oder informelle Arbeitsverträge, oft ohne volle Sozialleistungen, was den „Gesamtlohn“ senkt. Städtische Arbeiter erhalten oft bessere Zusatzleistungen (Krankenversicherung, Rentenbeiträge, bezahlter Urlaub), die bei Wanderarbeitern entweder geringer oder gar nicht vorhanden sind. Unternehmen kalkulieren damit, dass Wanderarbeiter weniger mobil und rechtlich schwächer abgesichert sind, was Lohnunterschiede begünstigt.
Wanderarbeiter (ländlicher Hukou) verdienten 2024 laut National Bureau of Statistics of China im Schnitt 4.961 Renminbi im Monat (etwa 690 US-Dollar); auswärts Beschäftigte verdienen etwas mehr als ortsnahe. Beschäftigte in Städten verdienen durchschnittliche etwa 10.343 Renminbi im Monat (1440 US-Dollar), wenn sie öffentlich angestellt sind, bzw. 5.790 Renminbi (806 US-Dollar) bei privater Anstellung.[3] Befragungsdaten des Chinese Social Survey 2021 zeigen bei ländlichen Migranten niedrige Teilnahmequoten an der Sozialversicherung (indikativ), zum Beispiel bei der Rente etwa 23,5 Prozent, bei der Krankenversicherung etwa 58,4 Prozent.
Die Benachteiligung ländlicher Arbeitskräfte und Wanderarbeiter mit ländlichem Hukou in den Städten werden immer öfter Gegenstand kontroverser Debatten in der Kommunistischen Partei Chinas. Auf dem Boao-Forum, einem dem Weltwirtschaftsforum in Davos nachgebildeten Treffen in Asien plädierte etwa der ehemalige Sekretär der Kommunistischen Partei Chinas und Leiter der Banken- und Versicherungsaufsichtsbehörde Guo Shuqing dafür, die unangemessene Kluft bei der Rentenauszahlung zwischen verschiedenen Regionen und Gruppen zu verringern. Die Regierung sollte in Erwägung ziehen, innerhalb der nächsten 5 oder 6 Jahre die Rente der Bauern auf das untere Ende der städtischen Rentner anzuheben.
Die enorme Lücke zwischen den Renten für städtische und ländliche Rentner resultiert aus ihren unterschiedlichen Finanzierungsquellen. Während die städtischen Renten durch Einzahlungen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert werden – es handelt sich um ein Versicherungssystem – werden die pauschalen Renten für Bauern durch Steuerausgaben finanziert. Diese hängen von den Einnahmen der lokalen Regierungen ab. Jede Provinz legt ihre eigenen Standards fest, was zu grotesken Unterschieden führt. Während ein Landwirt in Shanghai monatlich fast 1.500 Yuan erhält, muss sich sein Kollege in Yunnan mit kaum mehr als 140 Yuan begnügen – Beträge, die über das Maß der Ungleichheit hinaus schon eine unterschiedliche gesellschaftliche Zugehörigkeit markieren.
Chinesische Ökonomen verweisen darauf, dass eine Anhebung der Bauernrenten nicht nur sozialpolitisch geboten wäre, sondern auch ökonomisch Sinn ergäbe. Höhere Renten würden den Konsum im Binnenmarkt stärken, zusätzliche Steuereinnahmen generieren und so die Belastung der öffentlichen Haushalte abfedern. Doch genau hier liegt das Dilemma: Die lokalen Regierungen sind durch sinkende Einnahmen aus Landverkäufen unter Druck geraten, und die Zentralregierung scheut zusätzliche Verschuldung. Der politische Wille, die Kluft zwischen minimaler Grundsicherung und einem wirklich tragfähigen System zu überbrücken, ist bislang nicht erkennbar.
In den letzten zwei Jahrzehnten ist zwar ein beachtlicher Ausbau der sozialen Sicherungssysteme erfolgt, sodass heute die große Mehrheit der Bevölkerung zumindest eine rudimentäre Absicherung hat. Doch diese Absicherung bleibt in ihrem Umfang begrenzt. Der Aufbau eines kohärenten, progressiven Sozialsystems wird damit zu einer der entscheidenden Aufgaben für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation Chinas. Denn eine dauerhafte soziale Polarisierung untergräbt nicht nur die ökonomische Stabilität, sondern auch die politische Legitimation des Entwicklungsmodells.
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