Demokratisierung

Habermas gibt den Westen auf

| 17. September 2024
IMAGO / Seeliger

Ist Habermas‘ Setzen auf China als Erbe der Menschenrechte eine weise Hoffnung – oder nur das Klammern an einen Strohhalm, der irgendwann zusammenknickt?

In diesen Tagen ist das kleine Interviewbändchen „Es musste etwas besser werden …“ mit Habermas erschienen. Stefan Müller-Doohm und Roman Yos befragen ihn im Wesentlichen zu seiner intellektuellen Entwicklung, aber man erfährt auch das eine oder andere Private von Habermas, insbesondere über Beziehungen zu (intellektuellen) Zeitgenossen. Das Buch ist über weite Strecke nur für die interessant, die sich mit dem philosophischen Werk von Habermas beschäftigen.

Doch ein paar Seiten im Buch verlassen diesen Pfad der intellektuellen Biographie und gehen auf die aktuelle weltpolitische Situation ein.

Habermas hat die Adenauerzeit als miefig und erdrückend erlebt. Schockiert haben ihn nicht die selbstverständlich Rechten, sondern zum Beispiel die CDU, bei deren Protagonisten er „den notwendigen Bruch mit der Nazizeit“ vermisst hatte. Für ihn war deswegen die Westbindung der Bundesrepublik wichtig. Sie sollte die Bundesrepublik vor einem Rückfall in die Nazibarbarei schützen. Habermas war nie unkritisch gegenüber den USA, hielt ihnen aber zugleich lange die Stange. Den NATO-Einsatz im Jugoslawienkrieg hat er seinerzeit mit einer zurechtgebogenen Argumentation gerechtfertigt. Die NATO habe gewissermaßen stellvertretend für die UNO den Kampf gegen Milosevics Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen.

Dieses Vertrauen in den Westen, dass er einen humanistischen Auftrag Zuhause und in der Ferne wahrnehmen kann und will, hat Habermas spätestens seit dem Ukrainekrieg verloren.

„Zerfall liberaler politischer Kulturen“

Dass der Westen die Ukraine unterstützt, hält er prinzipiell für gerechtfertigt. Aber: „Was mich in Deutschland an den Reaktionen auf die völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine von Anfang an beunruhigt hat, ist natürlich nicht die spontane und entschiedene Parteinahme gegen den brutalen Aggressor, sondern der anhaltende rhetorische Rückfall in eine bellizistische Mentalität. Mich hat überrascht, wie schnell in den politischen Eliten und in der Presse die seit dem Zweiten Weltkrieg schwer genug errungenen Ansätze und Einsichten zerbröselt sind. Mich hat auch das große Halali aus der Zuschauerloge irritiert, obgleich sich in den jüngeren Jahrgängen an der Mentalität einer eher zögerlichen Wehrbereitschaft, gegen die nun ‚Kriegstüchtigkeit‘ mobilisiert wird, nichts geändert zu haben scheint.“ Mit dem letzten Satz sind unsere jungen Sofahelden freundlich beschrieben.

Er wirft dem Westen in diesem Krieg Perspektivlosigkeit und eine Verengung aufs Militärische vor. Diese Beschreibungen und Analysen sind nichts Neues, und viele werden ihm zustimmen. Aber Habermas gehört zu den wenigen öffentlich bekannten deutschen Intellektuellen, die den Mut haben, es auszusprechen. Anscheinend muss man in diesen Zeiten dafür das neunzigste Lebensjahr überschritten haben. Die anderen ducken sich weg oder schwimmen im Mainstream mit. Zu seiner Überraschung beeindruckte seine intellektuelle Autorität nicht: Er wurde wie auch weniger prominente verprügelt und diffamiert.

Die Perspektivlosigkeit der USA und Europas, wie auch die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit des Westens dazu beizutragen, diesen Krieg zu beenden, scheinen aber nur der berühmte Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Ihn treibt vor allem die „Erosion der gesellschaftlichen Integration in unseren Gesellschaften, der Zerfall liberaler politischer Kulturen, die Auflösung demokratischer Parteiensysteme und rechtsstaatlicher Institutionen, die Zerstörung von politischer Öffentlichkeit und deren zivilgesellschaftlicher Basis“ um. Er sagt, dass er dies in „vielen Ländern“ beobachtet, er meint aber den Westen, der bekanntlich etwas auf seine Demokratie hält und sich im Kampf mit Autokratien sieht.

Habermas zeichnet ein überaus düsteres Bild des Westens. Er gibt ihn verloren. Er sieht in den USA und Europa keine politischen Eliten, die sich der Problemlage bewusst sind und wirklich gegensteuern. Das westliche Projekt einer Demokratisierung der Gesellschaft(en) ist gescheitert. Was nun?

Kann China Habermas‘ Erbe retten?

Habermas stellt am Ende des Exkurses zur weltpolitischen Lage eine „spekulative Frage“: „Wird ein – hoffentlich ohne Krieg – weiter aufsteigendes China aus den Tiefen seiner langen, großen und vielfältigen Kultur eines Tages, aber rechtzeitig, die Einsicht gewinnen, dass die von einem absteigenden Westen bestenfalls unvollendet liegen gelassene Menschenrechtsordnung eine gewiss interpretationsfähige und fortentwicklungsbedürftige, aber vernünftige politische Errungenschaft ist, die der Menschheit im Ganzen gehört? Dann dürfte freilich die Rhetorik der Menschenrechte bis dahin nicht schon zur bloßen Ideologie im Munde eines selbstgerecht-militanten Westens verkommen sein.“

Was ist von solch einer Spekulation zu halten? Man kann Habermas Wunschdenken oder Naivität oder Ignoranz gegenüber der politischen Realität Chinas vorwerfen. Meines Erachtens ist sie Ausdruck einer großen Verzweiflung und des Wunsches Habermas‘, sein Erbe zu retten. Den Eigenen traut er nicht mehr zu, sein Erbe zu pflegen und zu entwickeln, stattdessen setzt er auf einen Fremden, den er wahrscheinlich selbst nicht gut genug kennt.

„Das in unseren kapitalistischen Gesellschaften immer noch hartnäckig wuchernde libertäre Freiheitsverständnis“ hält er für eine „Verzerrung, denn es betont den individualistischen Aspekt der Freiheit auf Kosten des solidarischen Moments der Gleichbehandlung aller.“ Das heutige China wäre dann – so müsste man ergänzen – der kollektivistische Gegenpol der von oben verordneten und repressiven Solidarität.

Was Habermas wohl von China erwartet, ist, dass es eines Tages in der Lage ist, Kollektivismus und Individualismus zu versöhnen. Wahrscheinlich wird China irgendwann um eine Demokratisierung nicht herumkommen. Doch wann und wie?  Die Geschichte wird zeigen, ob Habermas‘ Setzen auf China eine weise Hoffnung ist oder nur das Klammern an einen Strohhalm, der irgendwann zusammenknickt.

Und uns Jüngeren wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als weiterhin kleine Brötchen für einen besseren Westen zu backen – in der Hoffnung, dass es eines Tages genug Zeitgenossen gibt, die sie auch essen.