Mario Draghi

Marshall Plan mal zwei

| 13. September 2024
IMAGO / Independent Photo Agency

„Die Fundamente der EU-Wirtschaft sind erschüttert“, proklamiert Mario Draghi im Vorwort seiner neuen aufsehenerregenden Studie. Seine Lösung: Ein Fiskalprogramm, das mehr als doppelt so groß wie der Marshallplan ist.

Der Aufschwung nach der Finanz- und Eurokrise täuschte jahrelang über fundamentale Probleme der Europäischen Union hinweg. Geringe Arbeitslosigkeit, mehr Frauen im Arbeitsmarkt und der Erfolg der EU-Exporteure in aufstrebenden Märkten ließen das neoliberale Dogma deutlich resilienter wirken, als es eigentlich ist. Was man zu lange in Kauf nahm: Eine schon seit Ende der 90er-Jahre wachsende Lücke in den Produktivitätsstatistiken der EU im Vergleich zu den USA.

Quelle: Mario Draghi (2024)

Die Vorschläge in Draghis Bericht The future of European competitiveness fallen angesichts der relativen EUropäischen Wachstumsschwäche radikal aus: „Nie dagewesene Investitionen“ seien erforderlich, um diese „existenzielle Herausforderung“ zu meistern. Nur so seien Dekarbonisierung, Digitalisierung und Verteidigung gleichzeitig zu leisten.

Folgende drei Punkte sieht Draghi als zentral an:

  1. Der EUropäische Rückstand bei Innovationen und Produktivität zu US-amerikanischen Wettbewerbern muss aufgeholt werden. Seit Mitte der Neunziger wird der Vorsprung der USA auf Europa immer größer, auch und gerade wegen der technologischen Innovationen, die als Treiber von Produktivität gelten.
  2. Energiepreise und Klimaziele hängen eng zusammen und müssen eine bessere Synergie entwickeln. Durch das verminderte Gasangebot sind die Preise im verarbeitenden Gewerbe massiv angestiegen. Doch während die EU bei den digitalen Technologien hinterherhinkt, ist sie Spitzenreiter bei grüner Energieproduktion (Wind, Wasserstoff, Batterien, Biokraftstoffe). Daraus entstehende Potenziale für die Reduzierung von Energiepreisen und Emissionen sollten in einer koordinierten Strategie erschlossen werden, sodass gleichzeitig der europäische Wettbewerbsvorteil in diesem Sektor ansteigt. Kurzfristig aber müsse man den Handel mit China, dem größten Solarzellenproduzenten, als kontengünstiger Weg in Betracht ziehen.
  3. Die EU ist geopolitisch abhängig – vor allem von Rohstoff- und Gaslieferanten – und militärisch exponiert. Das stellt erstens ökonomische Unsicherheitsfaktoren und zweitens ein latentes sicherheitspolitisches Risiko dar. Draghi fordert, Handelsabkommen mit ressourcenreichen Ländern auf EU-Ebene zu koordinieren und ebenso den fragmentierten Rüstungsindustriekomplex zu vereinheitlichen, um Effizienz und Interoperabilität zu gewährleisten.

Die EU-Mitgliedsstaaten sollen laut Draghi die Transformationsprozesse durch eine zweckgebundene Neuverschuldung in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro jährlich finanzieren. Das entspricht in etwa 4,4 bis 4,7 Prozent des gesamten europäischen BIP. Der Marshall-Plan sah 1948 bis 1951 nur ein bis zwei Prozent jährlich vor. Das erste und bisher letzte Mal, dass in vergleichbarem Umfang Kredite an den Kapitalmärkten aufgenommen wurden, war der Corona-Wiederaufbaufonds. Zuvor war die Idee schon einmal 2012 gescheitert – unter dem Namen „Eurobonds“ und vor allem am energischen Widerstand Deutschlands.

Was Draghis Vorschägen im Weg steht

Nicht einmal drei Stunden waren nach Veröffentlichung des Draghi-Berichts vergangen und es regte sich erneut Widerstand aus Deutschland. Diesmal war es Finanzminister Christian Lindner, der vehementen Einspruch gegen die kollektive Verschuldung der EU-Staaten einlegte.

Während Wirtschaftsminister Robert Habeck eine offenere Position als der Finanzminister vertritt, entzündet sich Lindners Widerwille an der gemeinsamen Haftung für europäische Staatsanleihen – je höher der nationale Anteil am EU-Haushalt, desto größer die Haftung für den jeweiligen Mitgliedsstaat – und selbstverständlich auch an der Aufnahme neuer Schulden im Allgemeinen.

Deutschland als Land mit dem höchsten Bruttonationaleinkommen hat den größten Anteil am EU-Haushalt. Ist es also so, wie diverse Medien und Ökonomen schon zur Eurokrise behaupteten: Die südlichen Staaten fallen früher oder später für den Schuldendienst aus und Deutschlands Steuerzahler tragen entsprechende Mehrkosten?

Dieses Narrativ war schon damals mehr von neoliberalen Dogmen geprägt als von realistischen Annahmen. Denn die EU-Mitgliedsstaaten verschulden sich durch die Emission von Staatsanleihen, welche die sogenannten Bankenbieter unter den Geschäftsbanken mit Zentralbankbuchgeld kaufen. Die Zentralbank ist der einzige Emittent dieser Geldsort. Kein EU-Privathaushalt hat auf sie Zugriff, denn die Bürger haben nur Forderungen auf Giralgeld bei den Geschäftsbanken, wo sie Kunden sind. Ein Konto bei der Zentralbank oder – im Falle eines Eurolandes – bei einer ihrer Geschäftsstellen (Bundesbank, Banca d‘Italia etc.) besitzt keine Privatperson.

Aus dieser Perspektive zweier Geldkreisläufe (öffentliches Zentralbankgeld und privates Giralgeld), lassen sich zwar Sorgen um die direkte Belastung des Steuerzahlers ausräumen, jedoch stoßen Draghis Vorschläge immer noch auf institutionelle Hindernisse. Der „langsame und disaggregierte politische Entscheidungsprozess“ in der Europäischen Union (Draghi), lässt sich nicht geldtheoretisch „wegargumentieren“.

Denn die institutionelle Ausgestaltung der EU verhindert praktisch eine klare Zielformulierung, die Koordination beschlossener Projekte und eine gemeinsame Industriepolitik. Um politische Hürden zu beseitigen, bräuchte es für Draghi dementgegen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen, die auf mehr Prozesse innerhalb der EU ausgeweitet würden. So könne die Union schneller handlungsfähig werden. Draghi folgert, dass man so der Blockadehaltung einzelner Staaten einen Riegel vorschieben würde.

Regulatorische Auflagen für Unternehmen müssten darüber hinaus eine genaue Kosten-Nutzen-Evaluation durchlaufen, um unnötige Belastungen zu verhindern, so Draghi. Doch bisher existiert nur das Standardkostenmodell als entsprechender Leitfaden.  

Welches Wachstum wollen wir?

Stärkeres Wachstum der EU-Wirtschaft ist notwendig, doch sollte dieses Wachstum nicht um seiner selbst willen forciert werden. Draghis Ton ist stellenweise aber von dieser Idee geprägt. Selbstverständlich kann das gemeinsame BIP erhöht werden, wenn ein finanzieller Stimulus erfolgt. Doch im Fokus müssen reale Werte stehen, die sukzessive aufzubauen sind.

Die negativen Folgen der Fixierung auf das BIP-Wachstums zeigten sich im Vereinigten Königreich der 60er-Jahre. Grundlegen hierfür war die Neuorientierung der OECD am rapiden Wachstum und an der Liberalisierung der Finanzmärkte. 50 Prozent Wachstum sollten in der Dekade 1960 bis 1970 erreicht werden. Mit dem Code of Liberalisation of Capital Movements öffnete die OECD das Land den internationalen Kapitalströmen. Die „hohe und nachhaltige“ Wirtschaftsentwicklung der 50er-Jahre gelte es noch weiter anzukurbeln. Das Vereinigte Königreich müsse um jeden Willen wachsen.

Als die OECD dieses Ziel setzte, herrschte in Großbritannien nahezu Vollbeschäftigung. Die Regierung nutzte in den 50er Jahren eine aktive Geld- und Fiskalpolitik, um Inflation und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und eine stabile wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen. Diese Stabilität opferte man dem Turbo-Wachstum.

Doch schon in den 60er Jahren wurden die Probleme sichtbar, die dann in den Siebzigern virulent wurden: Trotz steigendem BIP sank die Profitabilität privater Industrieunternehmen. 1967 wurde das Pfund abgewertet, um die internationale Konkurrenzfähigkeit zu stärken. Weil nun Investoren an den Finanzmärkten gegen das Pfund wetteten, wurden eine Reihe von restriktiven fiskalpolitischen Maßnahmen erlassen, um die Kaufkraft der Bevölkerung zu schwächen und damit das Importvolumen zu senken. So wurde der Rezession und dem Aufstieg des Thatcherismus in den Siebzigern Vorschub geleistet.

Die EU muss aus Fehlern der Vergangenheit lernen

Erhebliche und regelmäßige Investitionen in Bildung und Technologie auf EU-Ebene, wo private und nationalstaatliche Investitionen viel zu gering ausfallen, sind – insoweit ist Draghi zuzustimmen – notwendig. Allerdings versteckt sich im Draghi-Bericht eine Nebenbemerkung, die gerade in Deutschland aufhorchen lassen sollte:

„Eine systematischere Emission solcher Vermögenswerte [EU-Anleihen, Anm. d. Red.] würde jedoch strengere finanzpolitische Regeln erfordern, die sicherstellen, dass ein Anstieg der gemeinsamen Verschuldung mit einer nachhaltigeren Entwicklung der nationalen Staatsverschuldung einhergeht.“

Es müssten also nicht nur Fiskalregeln der Mitgliedsstaaten berücksichtigt werden, die zumindest in Deutschland wesentlich strenger sind als das Maastricht-Kriterium. Auch sind die Schuldenquoten der einzelnen Mitgliedsstaaten zumeist höher als die Obergrenze von 60 Prozent des BIP, die in den europäischen Fiskalregeln festlegt ist. Mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten überschreitet das EU-Schuldenlimit.

Insbesondere bei EU-Mitgliedsstaaten mit einem hohen Bruttonationaleinkommen ist das problematisch. Die wirtschaftsstärksten EU-Länder wie Deutschland (63,6 Prozent), vor allem aber Frankreich (110,7 Prozent) und Italien (137,3 Prozent) überschreiten die Schuldenobergrenze. Jene könnten anteilig an der Gesamtwirtschaftskraft der EU viel zu Draghis Konjunkturprogramm beisteuern, müssen zugleich aber ihre Staatsschulden aufgrund der nationalen und europöischen Fiskalregeln teils kräftig abbauen.

Heißt: Solange die EU entgegen Draghis Forderung die nationalen Fiskalregeln nicht zumindest für die hochverschuldeten, meist großen Mitgliedsstaaten lockert, würde sich das Volumen des Konjunkturprogramms stark in Grenzen halten. Draghis Konjunkturprogramm, das – zur Erinnerung – mehr als doppelt so groß ist wie der Marshall-Plan, lässt sich so kaum bis gar nicht umsetzen.

Doch ohnehin droht der Widerstand Deutschlands – wie so oft in der Vergangenheit – Draghis fiskalpolitische Initiative schon im Keim zu ersticken.