Fördern Schulden des Staates die soziale Ungleichheit?
Schulden gehen mit Ersparnissen einher. Vor allem aber wohlhabendere Teile der Gesellschaft sparen. Fördern damit die Schulden des Staates die soziale Ungleichheit?
In unserer neuen Rubrik „Frag‘ den MAKROnauten“ können Leserinnen und Leser der Redaktion Löcher in den Bauch fragen.
Einer unserer Leser wollte wissen: "Wenn Schulden (Ausgabenüberschüsse) mit Ersparnissen (Einnahmeüberschüsse) einhergehen und es vor allem die wohlhabenderen Teile unserer Gesellschaft sind, die sparen – kann man dann nicht sagen: Schulden des Staates fördern soziale Ungleichheit?"
Lieber Leser,
danke für Ihre sehr gute Frage! Damit treffen Sie das Herzstück der Saldenmechanik: Die Einnahmen des einen sind die Ausgaben des anderen. Erzielt der Staat ein Defizit, muss der nicht-staatliche Sektor bzw. die Privaten einen Überschuss aufweisen – und umgekehrt.
Wie kommt das in der Beziehung zwischen Staat und Privaten beziehungsweise nicht-staatlichen Sektor zustande? Wenn der Staat sich verschuldet, tut er das, indem er Anleihen emittiert. Mit Zentralbankgeld kaufen Mitglieder der sogenannten Bietergruppe Bundesemission die Staatsanleihen – eine Gruppe ausgewählter Geschäftsbanken schwankender Anzahl. Wenn der Staat mit dem Geld, das er durch den Anleiheverkauf eingenommen hat, eine Ausgabe tätigt, dann schafft das neue Vermögen auf den Konten den Privaten.
Fördert diese Praxis die Ungleichheit? Um es kurz zu sagen: Es kommt darauf an. Die Saldenmechanik ist verteilungsblind. Spricht man von den Privaten oder dem außerstaatlichen Sektor, ist die Sozialstruktur nicht inbegriffen. Daher muss man genauer hinsehen: Wer sind die Begünstigten von Staatsausgaben? Wer hält Staatsanleihen?
Sind Anleihen erstmal emittiert, handeln die Bieterbanken diese auf dem Sekundärmarkt. Wer Anleihen kauft, sucht meistens nach einer sicheren Anlageform für sein Vermögen. Unter den Privaten sind das vor allem institutionelle Anleger (Pensionsfonds, Versicherungen und Investmentfonds), andere Geschäftsbanken und wohlhabendere Privatpersonen – weniger „Otto-Normal-Verdiener“.
Was die Staatsausgaben betrifft, sind die Zusammenhänge ein wenig komplexer. Hier ist entscheidend, welche Politik der Staat verfolgt und wie die gesellschaftlichen Vermögensstrukturen aussehen. Das lässt sich an einem börsennotierten Automobilkonzern veranschaulichen.
Zusätzliche Ausgaben dienen den Aktionären, aber nicht immer sind diese reich. Großaktionäre gibt es in jedem Unternehmen, aber normalerweise gesellen sich zu diesen viele Aktionäre mit wenigen Aktien. Bei BMW gehören knapp unter 50 Prozent Geschwistern: Stefan Quandt hält etwa 26,8 Prozent der Aktien, seiner Schwester Susanne Klatten circa 21,7 Prozent. Der Rest der Aktien – etwa 51,2 Prozent – ist in Händen vieler kleiner und institutioneller Anleger.
Steigt der Aktienkurs von BMW, weil Anleger die zusätzlichen Staatsaufträge als positives Signal werten und daher vermehrt Aktien des Konzerns kaufen, profitieren nicht nur Quandt und Klatten, sondern auch die vielen Kleinaktionäre. Selbstverständlich ist der Vermögenszuwachs von Großaktionären ungleich größer, halten sie doch mehr Aktien als die Kleinen.
Auch wenn die Automobilindustrie sehr kapitalintensiv ist, entstehen durch zusätzliche Investitionen neue Arbeitsplätze, die der Staat durch seine schuldenfinanzierten Ausgaben für diesen Industriesektor anregt. Gleichwohl sind Investitionen in die Automobilindustrie weniger effizient als beispielsweise in die arbeitsintensivere Gesundheitsbranche.
Wie wird das zusätzliche Einkommen des Automobilkonzerns verteilt, welches es durch die staatlichen Aufträge erhält? Die Einkommensungleichheit wird verringert, wenn die Investitionen in die Automobilindustrie untere Einkommen stärker als höhere Einkommen steigen lassen. Wie einkommensstark neue Arbeitsplätze sind, hängt aber wiederum vom Organisierungsgrad der Kapital- und Arbeitervertretung ab. Das betrifft auch die Spielräume für Lohnerhöhungen, die bereits vorhandene Arbeitsplätze betreffen.
Tendenziell gilt: In schlecht organisierten Betrieben steigen höhere Einkommen stärker als niedrigere. Eine gewerkschaftliche Interessenvertretung kann hingegen andere Konditionen mit dem Arbeitgeberverband aushandeln, die progressiver auf die unteren Lohnschichten des Unternehmens wirken.
In zweiter Instanz sind Übertragungseffekte entscheidend: Automobilkonzerne sind auf Zulieferer aus anderen Branchen angewiesen, etwa aus der Metall- und Werkstoffindustrie, dem Maschinen- und Anlagebau, der Elektronik und der Elektrotechnik sowie der dem Halbleiter- und IT-Industrie. Kauft ein Rüstungsunternehmen dort mit dem Einkommen aus staatlichen Aufträgen ein, schafft es erneutes Einkommen. Und hier ist erneut entscheidende Frage: Wie ist das Unternehmen organisiert?
Auch verkonsumiert die Belegschaft des Automobilkonzerns ihr Arbeitseinkommen – zumindest teilweise. Die Empfänger der Konsumausgaben, beispielsweise Supermärkte, haben wiederum spezifisch organisierte Belegschaften und eigene Zulieferer. So ergibt sich ein Geflecht aus Staat, Unternehmen und privaten Haushalten, die ausgabe- und einnahmeseitig miteinander verbunden sind sowie spezifische industrielle und soziale Hierarchien aufweisen.
Die industriellen und sozialen Strukturen kann der Staat gezielt beeinflussen: Er kann etwa gezielt Aufträge an Unternehmen vergeben, die organisiert sind. Eine Tarifpflicht für die Gewährung staatlicher Aufträge fördert nicht nur das Einkommen solcher Unternehmen, sie kann auch Strahlkraft für konkurrierende Unternehmen haben. Anstatt eines Unterbietungswettbewerb bei den Lohnkosten setzt die Konkurrenz um staatliche Aufträge einen Aufwärtsimpuls für die Tarifbindung.
Inwieweit das Tariftreuegesetz des Bundes diesem Anliegen gerecht wird, muss sich noch zeigen. Sein Inkrafttreten steht noch aus, obschon das Bundeskabinett den Gesetzesentwurf Anfang August 2025 bereits beschlossen hat.
Insgesamt zeigt sich: Der Grundsatz "Schulden des Staates sind die Vermögen der Privaten" gilt zwar immer. Aber geht es um Fragen der Verteilung, muss man genauer hinschauen. Die Saldenmechanik kann zwar die Verschiebungen zwischen den volkswirtschaftlichen Sektoren adäquat beschreiben, indem sie Spar- und Verschuldungsvorgänge abbildet. Aber sie ist nicht ausreichend, um die Entwicklung sozialer Ungleichheit zu erfassen. Gesellschaftliche Verteilungsmechanismen zu beobachten und Theorien darauf aufzubauen, wären insofern adäquate Ergänzungen.
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