„Wir verschenken jeden 13. VW“
Der Stolz auf das deutsche Exportmodell ist ein Markenzeichen der Mitteleuropäer. Dabei gab es eine kurze Zeit in der bundesdeutschen Geschichte, in der es anders war. Albrecht Müller weiß mehr.
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Albrecht Müller ist Volkswirt und Herausgeber der Nachdenkseiten. Er fungierte nicht nur als Planungschef im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Auch war er von August 1968 bis einschließlich 1969 Redenschreiber von Bundeswirtschaftsminister Schiller und ab Mai 1969 sein Kontaktmann für Wahlkampfführung. Das ermöglicht ihm heute, autobiographische Einblicke in die damalige Auseinandersetzung zwischen SPD und CDU um das deutsche Exportmodell zu geben.
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Herr Müller, in Ihrer Rezension von Heiner Flassbecks neuem Buch Grundlagen einer relevanten Ökonomik kommen Sie auf eine unveröffentlichte Anzeige der SPD-Fraktion für den Wahlkampf von 1969 zu sprechen. In dieser hieß es: „Wir verschenken jeden 13. VW“. Was war mit dem Slogan gemeint?
Normalerweise denken Volkswirte in sogenannten monetären Größen, aber auch die Allgemeinheit und Journalisten. Damit ist gemeint: wir sprechen zum Beispiel von einem Exportüberschuss, wenn die Leistungsbilanz zeigt, dass mehr an Waren und Dienstleistungen exportiert als importiert worden sind.
Entscheidend für die Bewertung eines solchen Vorgangs ist die Sprache: „Überschuss“ klingt positiv, Exportüberschuss sowieso. Wir haben mehr verkauft als gekauft. Das klingt toll. Wenn man aber die beschriebenen Export- und Importvorgänge in realen Größen betrachtet, dann entdeckt man: Exportüberschuss heißt, wir haben per Saldo Wohlstand nach draußen abgegeben.
Und wenn sie diese Überlegungen auf die Situation von 1969 anwenden?
Schon im Sommer 1968 war erkennbar, dass unter den damaligen Verhältnissen mit festfixierten Wechselkursen mehr Güter und Dienstleistungen exportiert als importiert werden. Im November 1968 trafen sich deshalb die wichtigsten zehn Nationen zu einer Währungskonferenz in Bonn. Eigentlich war die Aufwertung der D-Mark fällig. Aber beschlossen wurde ein Hilfskonstrukt – eine befristete Ausfuhrsteuer von vier Prozent und eine ähnliche Steuervergünstigung für Einfuhren.
Zur klaren Lösung, der Aufwertung der D-Mark, konnte sich trotz des eindeutigen Plädoyers des dafür zuständigen Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller die deutsche Bundesregierung nicht verständigen. Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) war dagegen. Er hatte die Unterstützung des Bundeskanzlers Kiesinger von der CDU.
Welche Erfolgsaussichten hatte eine befristete Ausfuhrsteuer?
Das Hilfskonstrukt vom Bonner November 1968 konnte nicht gut gehen. Es wurde auf den Währungsmärkten weiter gegen den Dollar und für die D-Mark spekuliert. Karl Schiller, dessen Redenschreiber ich damals war, lud deshalb sein Küchenkabinett zu einer Samstag-Sitzung im März 1969 zusammen. Mein Kollege Ulrich Pfeiffer und ich plädierten klar für die Aufwertung der D-Mark. Der Grundsatzreferent Hans Tietmeyer – nebenbei CDU-Vorsitzender von Bad Godesberg – plädierte trotz anderer fachlicher Einsicht dagegen. Er wollte seine Parteifreunde Kiesinger und Strauß schonen. Schiller schloss die Sitzung, ohne weitere Ankündigungen. Im April schlug er dann im Bundeskabinett offiziell die Aufwertung der D-Mark vor. Er setzte sich nicht durch. Aber die Spekulation kam weiter in Fahrt – in die richtige Richtung.
Wie entstand dann die Anzeige?
Ich war damals vom für den Wahlkampf zuständigen Bundesgeschäftsführer der SPD, Hans-Jürgen Wischnewski, als Sachverständiger für Wirtschafts- und Währungspolitik in die SPD-Wahlkampfgruppe die „Zuschläger“, aufgenommen worden. Dort schlug ich Anzeigen zum Thema vor. Der Titel der ersten Anzeige sollte dem in Ihrer Frage zitierten Satz entsprechen: „Wir verschenken jeden 13. VW“.
Die Werbeagentur der SPD hatte die Anzeige gestaltet und an die Zeitungsverlage geschickt. Spezis bei den Verlagen, wahrscheinlich von Springer, informierten Franz Josef über die geplante SPD-Anzeige. Er intervenierte daraufhin im sogenannten Kressbronner-Kreis – das war damals die Koalitionsrunde, die an Kanzler Kiesingers Lieblingsort in der Nähe des Bodensees tagte. Um des lieben Friedens willen zog die SPD die Anzeige zurück. Sie wurde nicht veröffentlicht.
Aber wenig später hatte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner begriffen, welches politische Potenzial das Thema der Anzeige und die dahintersteckende wirtschaftspolitische Auseinandersetzung für die SPD hatte: die Demonstration von Wirtschaftskompetenz. Genau das war der Grund, warum ich als Abgesandter von Schiller im Wahlkampfzirkel der SPD für die Nutzung des Themas Aufwertung einschließlich der zitierten Schlagzeile „Wir verschenken jeden 13. VW“ eingetreten war.
Sie schreiben, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die Botschaft wohl verstanden hätten und so zur maßgeblichen Stütze des Kanzlerwechsels von Kurt Georg Kiesinger (CDU) zu Willy Brandt (SPD) wurden. Womit konnten die Wähler persönlich berührt und für die SPD gewonnen werden?
Für einen Moment hatte die Mehrheit der Wähler gelernt, wirtschaftliche Vorgänge auch in realen Größen zu sehen. Sie sahen: wir essen keine Dollars, Deutschland verschenkt Wohlstand, wenn die D-Mark unterbewertet bleibt. Und wie schon erwähnt: die SPD demonstrierte Wirtschaftskompetenz. Von ihr hatte man das am allerwenigsten erwartet.
Umso größer war dann die Zustimmung am Wahltag 1969. Das Ergebnis für die SPD: mit einem Plus von 3,4 Prozent erreichte sie 42,7 Prozent. In Sitzen ausgedrückt: CDU und CSU erhielten 250 Sitze, die SPD 237, die FDP 31. Das macht zusammen 268, also deutlich mehr als sie 250 Sitze von CDU und CSU – und reichte zum Kanzlerwechsel.
Was trug noch zum Wahlerfolg der SPD bei?
Es gab selbstverständlich noch andere Gründe für ihren Wahlsieg als die Aufwertungsdebatte. Mit Willy Brandt kandidierte eine angesehene Person zum Bundeskanzler, ein neues Gesicht. Die Verständigung mit dem Osten einschließlich der Friedenspolitik motivierten viele Menschen zu einem Wechsel ihrer Parteipräferenz. Der Regierungswechsel gelang. Am 28. Oktober 1969 verkündete der neue Bundeskanzler den neuen Umgang mit den Völkern im Osten. Die Formel lautete: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.
Wahlerfolge werden nie nur durch ein einziges Thema erreicht. Ich habe schon zwei genannt. Hinzuzurechnen ist auf jeden Fall auch das von der SPD-Werbeagentur ARE propagierte Motto: „Wir schaffen das moderne Deutschland.“ Diese Parole setzte darauf, dass viele Menschen 20 Jahre CDU- und CSU-Regierung satthatten.
Hansjörg Herr schreibt in dem Buch Marktwirtschaft und politische Regulierung, vom Merkantilismus als „Konstante“ der bundesrepublikanischen Entwicklung. Das macht er unter anderem an anhaltend hohen Leistungs- und Handelsbilanzüberschüssen seit Gründung der Bundesrepublik fest. Sie sehen aber auch Unterbrechungen dieser Außenhandelsstrategie, zumindest im Wahlkampf vor der Brandt-Kanzlerschaft. Unter Berücksichtigung von Herrs Erkenntnissen: Inwieweit war es Brandt gelungen, mit dem Merkantilismus wirtschaftspolitisch zu brechen?
Die Bewunderung für Export- bzw. Leistungsbilanz-Überschüsse kann man eine „merkantilistische“ Haltung nennen. Diesen Begriff benutzten wir damals nicht. Deshalb verstehe ich auch nicht, dass Herr von einer „Konstante der bundesrepublikanischen Entwicklung“ spricht.
Richtig ist, dass sich die Macher der öffentlichen Meinung an Leistungsbilanzüberschüssen über die Maßen erfreuten. Sie haben nie gelernt, in realen wirtschaftlichen Größen zu denken. 1969 ist es gelungen, mit dem Denken in monetären Größen – Sie nennen es Merkantilismus – zu brechen. Das Verdienst gebührt nicht Willy Brandt, sondern Karl Schiller und allenfalls noch Herbert Wehner. Willy Brandt war damals sehr von Klaus von Dohnanyi – 1968 und 1969 Staatssekretär bei Karl Schiller, aber ohne Einfluss auf den Minister – beeinflusst worden. Nebenbei: der heutige Klaus von Dohnanyi ist in der Sache um vieles sympathischer als der damalige.
Wie konnte die kritische Haltung gegenüber Exportüberschüssen von damals in den heutigen Stolz auf den „Exportweltmeister“ umschlagen?
Das war nicht schwierig. Die Unvernunft des Merkantilismus war doch nur kurz unterbrochen. Jetzt denkt man halt nicht mehr vor allem in realen Größen und freut sich über Exportüberschüsse.
Welche sinnvollen Alternativen zu Leistungsbilanzüberschüssen gibt es? Sind Leistungsbilanzdefizite die Lösung?
Weder noch – so könnte ich antworten. Heute ist die Welt sowieso anders. Es gibt ja zumindest zwischen Euro und Dollar keine fixierten Wechselkurse.