Kommentar

Energiekrise bekämpfen, Reichtum begrenzen!

| 11. Oktober 2022
istock.com/Juan Garcia

Die Bundesregierung doktert mit den Entlastungspaketen an Symptomen herum. Sie sollte an die Wurzel der Energiekrise herangehen – und zum Beispiel die Preisbildungsmechanismen der Märkte außer Kraft setzen.

Die Energie(preis)krise polarisiert die Sozialstruktur unseres Landes weiter – genauso wie die möglicherweise endemisch gewordene Covid-19-Pandemie. Die relative (Einkommens-)Armut am unteren Rand der Gesellschaft droht sich in absolute, extreme oder existenzielle Armut wie Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit umzuwandeln und dringt immer mehr bis zur unteren Mitte der Gesellschaft vor. Gleichzeitig nimmt die Konzentration des Privatvermögens am oberen Rand der Gesellschaft sogar noch zu.

Man kann im Hinblick auf die sich ausbreitende Energie- und Ernährungsarmut von einer statistisch nur schwer erfassbaren, verborgenen oder versteckten Armut sprechen. Während die verfügbaren Einkommen momentan eher stagnieren, steigen die Ausgaben wegen der inflationären Tendenzen exorbitant, und zwar auch von Menschen, die nach den entsprechenden Kriterien und statistischen Kennziffern gar nicht armutsgefährdet sind, weil ihr Einkommen deutlich über der sogenannten EU-Armutsrisikoschwelle von 1.148 Euro monatlich liegt, wodurch sie ebenfalls in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Schon jetzt fragen sich viele Menschen, die bisher im bescheidenen Wohlstand gelebt haben, wie sie im Winter über die Runden kommen sollen.

Energiekrise, Inflation und Staatsintervention

Aufgrund des Ukrainekrieges, des Kohle- und Ölembargos der EU gegenüber Russland und des Rückgangs der Gasimporte stiegen die Preise für Kraftstoffe und Haushaltsenergie im Frühjahr 2022 rasant. Verstärkt wurde die Preisexplosion durch die Weigerung der Bundesregierung, die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen, und ihre verzweifelten Bemühungen, Deutschland baldmöglichst von russischem Erdgas unabhängig zu machen. Durch die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit dem Emirat Katar, den Bau von LNG-Terminals zur Einfuhr von Fracking-Gas aus Übersee, die Reaktivierung von Kohlekraftwerken und im Notfall gar den „Streckbetrieb“ von Atomkraftwerken, die ursprünglich spätestens zum 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden sollten, wollte man die russischen Gaslieferungen substituieren.

Bei einer Preisreduktion für Erdgas gerät die Gerechtigkeit schnell an ihre Grenzen. Statt wie andere Regierungen zu handeln, hat die Ampel-Koalition zur Klärung der Frage, wie man eine Gaspreisbremse konstruiert, nach langem Zögern eine Expertenkommission mit Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbraucherschutz eingesetzt, deren zweigeteilter Beschluss nicht befriedigt.

Die von der „Kommission Gas und Wärme“ vorgeschlagene Einmalzahlung im Dezember auf Basis des Verbrauchs, welcher der Abschlagszahlung im September 2022 zugrunde gelegt wurde, begünstigt Vielverbraucher, also vermutlich eher Wohlhabende mit großen Wohnungen und Reiche mit florierenden Unternehmen. Ob in Not geratenen Bäckereien, Blumenläden und Buchhandlungen damit geholfen ist, kann man bezweifeln. Warum die Verwirklichung einer „Gas- und Wärmepreisbremse“ mit einem subventionierten Grundkontingent, das es in anderen Ländern längst gibt, bei uns bis zum 1. März 2023 dauert, ist gleichfalls unklar.

Bei den milliardenschweren „Entlastungspaketen“, die vom Koalitionsausschuss im Februar, im März und im September 2022 geschnürt wurden, um die finanziellen Belastungen der gestiegenen Energiekosten für private Haushalte und Wirtschaft abzufedern, standen – wie schon bei den staatlichen Finanzhilfen für Pandemiegeschädigte – Unternehmen, Erwerbstätige und Steuerpflichtige im Vordergrund. Problematisch erscheinen Zielsetzung, Konstruktion und Verteilungswirkung solcher Maßnahmen. Sind diese so gestaltet, dass ihre Unterstützung einkommensproportional erfolgt, kommen jene Bevölkerungsgruppen zu kurz, die einer Finanzhilfe am nötigsten bedürfen. Von den meisten Entlastungen im Steuersystem profitieren wegen dessen progressiver Struktur hauptsächlich Personen mit hohen Einkommen.

Oft wird in diesem Zusammenhang vom Gießkannenprinzip gesprochen: Breit streuende Einmalzahlungen wie die Energiepreispauschale für steuerpflichtige Erwerbstätige, Auszubildende, Studierende sowie Rentnerinnen und Rentner entsprechen tatsächlich diesem Muster. Besser wäre eine massivere Unterstützung der Finanzschwachen als die Berücksichtigung fast sämtlicher Gesellschaftsmitglieder. Wie das unsoziale Inflationsausgleichsgesetz zeigt, kommt beim dritten Entlastungspaket aber auch das Matthäus-Prinzip zum Tragen, heißt es doch im Evangelium des Matthäus: „Wer hat, dem wird gegeben.“

Nötig wäre ein stimmiges, in sich schlüssiges und geschlossenes Konzept auf der Grundlage des Robin-Hood-Prinzips: Man müsste durch Umverteilung von oben nach unten dafür sorgen, dass alle Menschen gut durch den Winter kommen, nicht frieren und auch nicht auf eine gesunde, abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung verzichten müssen.

Ursachen statt Symptome bekämpfen

Überdies ist zu fragen, ob es Sinn macht, mit künftigen Entscheidungen wie den Entlastungspaketen IV, V, VI und folgenden erneut an Symptomen herumzudoktern, weitere soziale Löcher zu stopfen und wieder nur Trostpflaster an Einkommensschwache zu verteilen, ohne die Ursachen ihrer finanziellen Probleme zu beseitigen. Anstatt immer neue Entlastungspakete zu schnüren und einen „Abwehrschirm“ für Wirtschaftsunternehmen und Verbraucher aufzuspannen, sollte die Bundesregierung lieber an die Wurzel der Energie(preis)krise herangehen: Will sie die gegenüber Russland ergriffenen Sanktionen nicht auf den Prüfstand stellen, obwohl diese Maßnahmen den Armen hier mehr schaden als den Oligarchen dort, sollte ihr Handeln darauf ausgerichtet werden, die Preisbildungsmechanismen der Märkte außer Kraft zu setzen.

Nach dem Scheitern der Gasbeschaffungsumlage verwendet man öffentliche Mittel, um die Erdgasimporteure zu stabilisieren. Verluste dieser Unternehmen werden sozialisiert, nachdem ihre Gewinne lange genug privatisiert worden sind. Paradoxerweise hat sich für den Aufkauf von Unternehmen bzw. von deren börsennotierten Aktien inzwischen der Begriff „Verstaatlichung“ eingebürgert – traditionell ein Instrument der Linken, das völlig aus der Mode gekommen ist. Da sowohl Uniper wie auch RWE ihren Unternehmenssitz in Nordrhein-Westfalen haben, böte Artikel 27 Abs. 1 der Landesverfassung eine Handhabe zur Vergesellschaftung, denn es heißt dort: „Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden.“ Leider hat bisher keine Landesregierung diesen Verfassungsartikel ernstgenommen und entsprechend gehandelt.

Wie lange will man dem spekulativen Treiben auf den Energiemärkten noch tatenlos zusehen? Ob ein „Strompreisdeckel“ je kommt, ist fraglich. Bevor die „Zufallsgewinne“ der Stromerzeuger auf nationaler Ebene „teilweise“ abgeschöpft werden sollen, will die Bundesregierung auf entsprechende Beschlüsse der Europäischen Union warten.

Entlastungsmaßnahmen für Finanzschwache

Zudem wären folgende Maßnahmen sinnvoll, um Personengruppen zu entlasten, die von der Inflation über Gebühr belastet werden:

  • Regelbedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV), der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die früher „Regelsätze“ hießen, sowie die Leistungssätze der Asylbewerberleistungen sollten armutsfest gemacht und der inflationären Preisentwicklung in kürzeren Zeitabständen angepasst werden.
  • Die Stromkosten müssen aus dem Regelbedarf herausgenommen und in die Kosten der Unterkunft eingegliedert werden. Dadurch würden sie vom Jobcenter oder vom Grundsicherungs- bzw. Sozialamt übernommen und würden die Transferleistungsbezieher trotz starker Preissteigerungen nicht mehr über Gebühr belasten.
  • Strom- und Gassperren, die mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind, weil sie es unmöglich machen, ein normales Leben zu führen, müssen gesetzlich ausgeschlossen werden.
  • Räumungsklagen sollten erschwert und Zwangsräumungen nur dann zulässig sein, wenn angemessener Ersatzwohnraum zur Verfügung gestellt wird.

Möglichkeiten einer solidarischen Gegenfinanzierung

Um die notwendigen Entlastungsschritte realisieren zu können, sollten Besserverdienende und Hochvermögende mehr finanzielle Verantwortung übernehmen. Sinnvoll wären zwei steuerpolitische Maßnahmen, durch die sie stärker belastet würden:

  • Einkommensstarke würden am besten durch Umwidmung und Verdoppelung des Solidaritätszuschlages von 5,5 Prozent auf 11 Prozent der Steuerschuld an den Kosten der Pandemie und des Preisschubs für den Staat beteiligt. Durch die zum 1. Januar 2021 erhöhten Freibeträge müssen den „Soli“ bloß noch Alleinstehende entrichten, die mehr als 956 Euro (zusammen Veranlagte: 33.912 Euro) im Jahr an Einkommensteuer bezahlen. Das entspricht einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 62.128 Euro (bei zusammen Veranlagten: 124.256 Euro). Für diese Steuerzahler beginnt dort eine sogenannte Milderungszone, in welcher der Prozentsatz an zu zahlendem Solidaritätszuschlag schrittweise ansteigt, bis er bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von über 96.820 (zusammen Veranlagte: 193.641 Euro) in voller Höhe von 5,5 Prozent auf die Steuerschuld fällig wird. Außerdem macht der Solidaritätszuschlag seinem Namen dadurch alle Ehre, dass er auch auf die Kapitalertragsteuer (für Zinsen und Dividenden) sowie die Körperschaftsteuer (von Kapitalgesellschaften wie AGs und GmbHs) erhoben wird.
  • Außerdem könnte eine Vermögensabgabe in Höhe von 10 Prozent, gestreckt auf fünf Jahre, großen Reichtum begrenzen. Durch die in der Erbschaft- und Schenkungsteuer geltende Freibetragsregelung würde sichergestellt, dass nur Familien zu der Vermögensabgabe herangezogen werden, die über ausreichende Finanzmittel verfügen. Für den/die Steuerpflichtigen selbst wäre ein Freibetrag in Höhe von 1 Million Euro angemessen, für Ehepartner betrüge er 500.000 Euro und für jedes im Haushalt lebende Kind zusätzlich 400.000 Euro. Außerdem könnte beim Vermögen selbstgenutztes Wohneigentum bis zur Größe von 200 Quadratmetern anrechnungsfrei bleiben.
  • Schließlich müssten Extraprofite von Energiekonzernen durch eine Übergewinnsteuer, wie sie mehrere EU-Staaten und Großbritannien erheben, abgeschöpft werden.