Verstörende Einmischung aus Deutschland
Am 4. Oktober forderten die drei deutschen Europaparlamentarier Katarina Barley, Daniel Freund und Moritz Körner den Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei Manfred Weber in einem offenen Brief auf, in die italienische Regierungsbildung einzugreifen.
Am 25. September 2022 wurden beide Parlamentskammern Italiens vorzeitig neu gewählt, nachdem zuvor – alles Ende Juli 2022 – die italienische Regierung zusammengebrochen war, Ministerpräsident Mario Draghi seinen Rücktritt erklärt und Staatspräsident Sergio Mattarella das Parlament aufgelöst hatte. Politikwissenschaftler ordnen das italienische Wahlsystem dem Grabenwahlrecht zu, was bedeutet, dass ein Teil der Sitze nach dem Verhältniswahlrecht vergeben wird und ein anderer Teil nach dem Mehrheitswahlrecht. Wo ganz oder in Teilen das Mehrheitswahlrecht gilt, können Parteien nur als sehr große Einzelparteien (wie in den USA) oder als Teile größerer Zusammenschlüsse beziehungsweise Bündnisse erfolgreich sein (man denke etwa an Frankreich).
Aus den Wahlen vom 25. September gingen Giorgia Melonis Fratelli d'Italia mit 26,0% als stärkste Kraft hervor. Dieser Erfolg gelang der Partei als Teil eines Wahlbündnisses, an dem Matteo Salvinis Lega (8,8%) und Silvio Berlusconis Forza Italia (8,1%) beteiligt waren, zudem noch die Kleinpartei Noi moderati (0,9%). Mit den insgesamt 43,8% der Wählerstimmen hatte das Bündnis das konkurrierende Mitte-Links-Bündnis klar geschlagen, das nur auf 26,1% der Stimmen kam. Außerhalb der beiden großen Bündnisse kam Giuseppe Contes Movimento 5 Stelle auf nur noch 15,4% der abgegebenen Stimmen, womit die Fünf-Sterne-Bewegung ihr Ergebnis gegenüber den Wahlen von 2018 mehr als halbierte.
In Italien zweifelt niemand daran, dass Frau Meloni und mit ihr die Parteien des rechten Bündnisses von den Wählern einen Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat. Drei deutsche Abgeordnete des Europäischen Parlaments wissen es indes besser. Dabei handelt es sich um Katarina Barley von der sozialdemokratischen S&D-Fraktion, die zugleich Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments ist, um Daniel Freund von der grünen Fraktion (Grüne/EFA) und Moritz Körner von der liberalen Fraktion (Renew) – nicht zufällig Vertreter genau jener Parteien, die derzeit die deutsche Regierung bilden.
Was die Verfasser wollen
In einem auf den 4. Oktober datierten offenen Brief fordern die drei Abgeordneten den ebenfalls deutschen Vorsitzenden der christdemokratischen EVP-Fraktion Manfred Weber auf, seine Machtressourcen dafür einzusetzen, dass Meloni nicht zur italienischen Ministerpräsidentin gewählt wird. Weber solle der Forza Italia damit drohen, sie aus der EVP-Fraktion zu werfen, falls sie eine Regierung mit Meloni bilde. Der Brief ist derart deplatziert, merkwürdig, ungeschickt und verstörend, dass ein eingehender Blick lohnt.
Der offene Brief findet sich hier. Die Leserinnen und Leser mögen sich vergewissern, dass ich ihn wie folgt stimmig und fair zusammenfasse: Frau Meloni vertrete Positionen, die nicht mit den europäischen Grundwerten vereinbar seien. Speziell leugne sie die grausamsten Verbrechen der europäischen Geschichte (das steht im ersten der sechs Absätze). Wenn die an der EVP beteiligte Forza Italia mit ihr eine Regierung bilde, entstehe im Ergebnis eine rechtsextreme Regierung. In diesem Fall opfere sie (die Partei Berlusconis) ihrerseits die europäischen Grundwerte (Absätze 2 und 3). Italien solle sich Deutschland zum Vorbild nehmen, wo die AfD von Regierungsbildungen ausgeschlossen sei (Absatz 4). Falls die Forza Italia dem nicht folge, dürfe sie keinen Platz mehr in der EVP haben (Absatz 5). Die EVP müsse ein essenzieller Baustein einer Brandmauer gegen rechte Demokratiefeinde sein (Absatz 6).
Einmischung in den demokratischen Prozess
Unter den Einwänden, die sich hier aufdrängen, ist der strategische noch der harmloseste: Im Wahlkampf hatte Frau Meloni ihre Kritik an der Europäischen Union deutlich abgemildert und sich stattdessen als EU-freundlich dargestellt. Gewiss, da mag sie sich gezielt zurückgehalten haben. Vielleicht sitzt ihre Abneigung gegen die EU tiefer als zuletzt zur Schau gestellt. Der offene Brief ist jedoch eine Steilvorlage für mehr, nicht weniger Abgrenzung. Denn die Verfasser stehen nicht nur für ihr Herkunftsland und ihre jeweiligen Parteienfamilien, sondern namentlich für das Europäische Parlament als eines der drei Organe der Unionsgesetzgebung. Den Anreiz für mehr Abgrenzung zu vergrößern, bevor die neue Regierung Italiens überhaupt ein Regierungsprogramm vorlegen konnte, das sich hinsichtlich seiner Europafreundlichkeit bewerten ließe, ist strategisch unklug.
Deutlich schwerer wiegt die Einmischung in demokratische Prozeduren. Auch ich meine, dass es Politikern nicht verwehrt sein sollte, Repräsentanten ihrer europäischen Schwesterparteien in Wahlkämpfen zu unterstützen – wie sonst sollten sich die lockeren europäischen Parteienzusammenschlüsse irgendwann einmal zu Parteien im engeren Sinne des Worts verdichten können. Aber Wahlkämpfe sind eines, der Umgang mit Wahlergebnissen und den auf sie folgenden Prozessen der Regierungsbildung ist etwas anderes. Im Kern rufen drei deutsche Politiker dazu auf, das italienische Wählervotum zu missachten. Das ist untragbar. Jeder vernünftige Italiener kann die Übergriffigkeit der deutschen Verfasser nur empört zurückweisen und das demokratische Mandat Melonis im Ergebnis verteidigen. Die Absender des Briefs bestätigen damit alle populären Vorurteile über die Arroganz der Deutschen gegenüber ihren Nachbarn.
Für Politikwissenschaftler ist zudem alles andere als klar, ob es eine optimale Strategie zur Bekämpfung des Rechtspopulismus gibt und falls ja, wie sie aussieht: ausgrenzen oder durch Einbindung entzaubern (siehe etwa Hanspeter Kriesi in Abschnitt 4 dieses Artikels). In Deutschland hat man sich für die Ausgrenzung entschieden, andere haben es anders gemacht – man denke an Österreich und die Schweiz, an die Niederlande, an Finnland und Dänemark (diese Studie analysiert speziell die skandinavische Ländergruppe). Mal ging es dabei um Regierungsbeteiligungen, mal um Absprachen zur Stützung von Minderheitsregierungen. Unsere Nachbarn haben ein Recht darauf, ihre Wege im Umgang mit den Parteien des rechten Rands selbst zu finden, ohne Anweisungen aus Deutschland. Übrigens werden ja auch die Schwedendemokraten gerade zur Regierungspartei – werden Frau Barley und Mitautoren Manfred Weber dazu aufrufen, auch die schwedischen Moderaten aus der EVP zu werfen?
Italien stagniert nicht aus freien Stücken
Der Brief der drei Deutschen lässt auch jede Sensibilität dafür vermissen, warum sich die politische Lage in Italien so darstellt, wie sie ist. Statt Anschuldigungen hätte man sich eine Geste der Selbstreflektion gewünscht. Jüngst hat Lucio Baccaro die italienische Politik der vergangenen zwei bis drei Dekaden als permanenten Ausnahmezustand beschrieben, in dem sich Notstandsregierungen aus Technokraten und Kabinette aus politischen Emporkömmlingen in einem endlosen Zyklus abzulösen scheinen: von der Expertenregierung, die bittere Pillen in Form von Liberalisierung und Austerität verordnet, zum Anti-Elite-Populismus, der die Grundlagen für das nächste Technokratenkabinett schafft – und so fort.
Dass das geschieht, hat gewiss nicht nur, aber auch mit dem Umstand zu tun, dass die italienische Wirtschaft seit der Euro-Gründung praktisch nicht mehr wächst und eine Enttäuschung daher die nächste jagt. Die EU und speziell Deutschland sind hieran nicht unschuldig. Sie zwingen Italien in ein fiskalisches Korsett, das die Budgetpolitik zu steten Primärüberschüssen drängt. Das mag mit Wachstum vereinbar sein, wenn gleichzeitig hohe Leistungsbilanzüberschüsse eingefahren werden. Aber Italien verharrt nicht wie Deutschland in einer Unterbewertungskonstellation, die das ermöglichen würde.
Im Ergebnis hemmt die Kombination aus blockierter Abwertung und Zwang zur öffentlichen Sparpolitik die Nachfragezufuhr aus dem In- und Ausland gleichermaßen. Wer den italienischen Technokratie-Populismus-Zyklus unterbrechen will, sollte überlegen, welche europäischen Rahmenbedingungen notwendig wären, um Italien auf einen gesunden Wachstumspfad zu verhelfen. Und wer Italien dabei als Deutscher unterstützen will, sollte zunächst die eigenen Beiträge zur Unterdrückung der italienischen Wachstumsimpulse erkennen, also: eigene Fehler einräumen und reflektieren. Kein Wort davon bei Frau Barley und Mitverfassern.
Ein scheußlicher Ausfall
Als wäre all das nicht genug, krönen die Verfasser ihre Darlegung zudem mit einer besonders obskuren, ja abscheulichen Anschuldigung ohne jeden Beleg: Frau Meloni leugne die grausamsten Verbrechen der europäischen Geschichte. Was die grausamsten Verbrechen in der Geschichte Europas waren, steht außer Frage. Das waren die deutschen Verbrechen der NS-Zeit, die in der Schoah gipfelten. Die zukünftige italienische Regierungschefin sei also eine Holocaust-Leugnerin – wer eine abweichende Deutung dieser Passage des offenen Briefs für geboten, ja auch nur möglich hält, möge das bitte durchgeben.
Dass die Leugnung der NS-Verbrechen in Deutschland nicht nur zurecht als moralisch besonders verwerflich gilt, sondern auch ein Straftatbestand ist (siehe den Absatz 3 von §130 des Strafgesetzbuchs), verleiht der Behauptung zusätzliches Gewicht. Weiß der Himmel, was sich die Verfasser bei ihrer Beschuldigung gedacht haben (man vergleiche den Vorwurf etwa mit dem Inhalt dieses langen Interviews, das die israelische Zeitung Israel Haymon mit Frau Meloni führte). Ganz offensichtlich haben hier drei deutsche EP-Abgeordnete ihr Mund- bzw. Schreibwerk nicht unter Kontrolle. Man kann nur hoffen, dass sie sich für ihren groben Ausfall in aller Form entschuldigen werden, und dass die Italiener wissen, dass die drei Verfasser nicht für die deutsche Bevölkerung sprechen.