BSW

Links und populär – Das Parteiprojekt Wagenknecht

| 25. Oktober 2023
IMAGO / photothek

Mit der Vorstellung eines Vereins als Vorläufer für die Parteigründung haben Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger den Bruch mit der Partei DIE LINKE offiziell vollzogen. Unter der Oberfläche der in solchen Scheidungsfällen üblichen Scharmützel liegen tiefgehende politische Veränderungen, auf die das Projekt zu reagieren versucht.

Sahra Wagenknechts strategischer Ansatz beruht auf drei Kerngedanken. An erster Stelle steht der Niedergang der Partei DIE LINKE. Bei der Bundestagswahl 2009 mit fast 12 Prozent noch vor den Grünen, landete sie 2021 unterhalb der Fünfprozenthürde und rettete sich nur dank dreier Direktmandate noch einmal ins Parlament. In ihren Hochburgen im Osten verlor sie innerhalb von zehn Jahren mehr als die Hälfte ihrer Wähler, und bei den jüngsten Wahlen in Hessen flog sie mit 3,1 Prozent aus dem letzten Landesparlament eines Flächenstaates im Westen. Besonders dramatisch sind die Verluste bei der traditionellen Basis. Infratest zufolge sank der Stimmanteil bei Arbeitern von 2009 bis 2021 von 18 auf 5 Prozent, bei Angestellten von 11 auf 5 Prozent und bei Arbeitslosen von 25 auf 12 Prozent. In ihrem jetzigen Zustand ist ein Ende des Abstiegs nicht absehbar – auch für die Post-Wagenknecht-Zeit.

Der dramatische Einbruch trifft zweitens auf ein Knäuel multipler Krisen und Umbrüche, die eine starke linke Kraft eigentlich dringend gebrauchen könnten. Dazu gehören der ökologische Umbau mit seinen Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft, die komplexen Herausforderungen der Digitalisierung, Verfallserscheinungen bei öffentlichen Dienstleistungen und andere Verwüstungen neoliberaler Politik. Dazu kommen Flucht und Migration, die Dauerkrisen der EU und last not least epochale Veränderungen im internationalen System, deren extremster Ausdruck die Kriege in der Ukraine und Nahost sowie ein Kalter Krieg 2.0 sind.

All dies führt drittens zu enormer Verunsicherung, Ängsten und Unzufriedenheit bei vielen Menschen. Sie verlieren das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik. Das schlägt sich unter anderem in Protestwahlverhalten zugunsten der AfD nieder. Die Politikwissenschaft spricht von einer Krise der Repräsentation und – daraus resultierend – einer Repräsentationslücke.

Vor diesem Hintergrund hofft Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die Repräsentationslücke zu füllen. Ziel ist, aus der Marginalisierung der Linken herauszukommen und einen eingriffsfähigen Akteur zu schaffen. Demoskopen zufolge soll es dafür ein Potential von gut 20 Prozent geben. Auch Umfragen unabhängig von diesem Thema kommen immer zu dem Ergebnis, dass große Teile der Bevölkerung mehr soziale Gerechtigkeit und eine friedensorientierte Außenpolitik befürworten.

Wie immer man sonst zu dem Projekt steht, zeugt es doch von Mut, ja Kühnheit, einen Weg aus der Krise der Linken zu suchen, statt im Trott des Business as usual in den angekündigten Tod zu stolpern.

Wieviel aus den Umfragen ausgeschöpft werden kann, steht auf einem anderen Blatt und kann nicht seriös vorausgesagt werden. Dafür sind zu viele unbekannte Faktoren im Spiel. Zwei davon stehen aber bereits jetzt fest: der sattsam bekannte Kampagnenjournalismus der Leitmedien macht auch dieses Projekt mit dem üblichen Cocktail aus Halbwahrheiten, Fake und Diffamierung unisono nieder.

Der zweite Faktor ist ein Programmentwurf, nachzulesen auf der Homepage des Vereins, knapp fünf Seiten kurz und ergänzt durch Frequently asked Questions (FAQs).

Ein links-populäres Profil

Es ist noch nicht das endgültige Parteiprogramm und trägt natürlich die unvermeidlichen Züge, die dem Genre anhaften: eine gewisse Allgemeinheit. Und natürlich trifft auch die beliebte, weil immer richtige, Kritik zu: der Hinweis auf das, was alles fehlt.

Dennoch erfüllt der Entwurf entscheidende Anforderungen an ein Programm. Er gibt nämlich Antwort auf die Fragen: Wer sind die Zielgruppe(n), bzw. die soziale Basis des Projekts? Wer ist der politische Gegner? Welche Inhalte sind damit verknüpft?

Das Programm besteht aus den Themenfeldern Wirtschaft, Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit. Vor allem aus den beiden ersten lässt sich auf die Hauptzielgruppen des Projekts schließen:

  • Lohnabhängige der unteren Kategorien – explizit genannt werden Alleinerziehende, arme Rentner und Sozialhilfebezieher,
  • gut verdienende Facharbeiter, Ingenieure und ähnliche,
  • kleine und mittlere Unternehmen, der sogenannte Mittelstand.

Während die beiden ersten Kategorien auch in herkömmlichen linken Programmen die zentrale Rolle spielen, dürften sich Linke, die die politische Ökonomie des heutigen Kapitalismus‘ auf den – notwendigen aber nicht hinreichenden – Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital reduzieren, mit dem Mittelstand schwertun.

Allerdings sei daran erinnert, dass schon in den 1970er Jahren in Strategiedebatten der westeuropäischen Linken von einem antimonopolitischen Bündnis die Rede war. Und auch nach der Wende von einer Allianz zwischen Arbeiterklasse und Mittelschichten. Insofern knüpft Wagenknecht an linke Vorgänger an, freilich ohne deren Terminologie.

Wichtiger noch: solange der Kapitalismus nicht erledigt ist, hängt auch das sozial-ökonomische Schicksal der Subalternen vom Gesamtzustand des Systems ab. Es ist die hegelianische Dialektik von Herr und Knecht – stupid. Sie bindet das Schicksal beider zu einem gewissen Grad aneinander, solange Knechtschaft und Herrschaft nicht aufgehoben sind. Insofern ist das Programm eine Anpassung an die realen Machtverhältnisse. Linke Kritiker mit einem gebrochenen Verhältnis zu so etwas, werden es als Verteidigung des Standorts framen, und die demagogisch Veranlagten werden ihm das Etikett Nationalismus anhängen – also eine Ideologie deutscher Überlegenheit.

In diesen Kontext gehört auch die Förderung technologischer Innovation. Auch für die Lösung der Klima- und Umweltkrise, setzt das Programm auf „die Entwicklung innovativer Schlüsseltechnologien für eine klimaneutrale und naturverträgliche Wirtschaft der Zukunft.“ Allerdings ist das kein blindes Vertrauen in den Fortschritt der Produktivkräfte, sondern es wird auf die Risiken verwiesen, wenn Technik in die falschen Hände gerät (siehe nächsten Abschnitt). Einer ökologischen Wende auf dem Rücken der breiten Bevölkerung wird eine Absage erteilt, implizit damit auch Konzepten, die einen radikalen Wandel der Lebensweise ins Zentrum ihrer Klima- und Umweltstrategie stellen.

Der Gegner

Dem Bündnis von Lohnabhängigen und Mittelstand stehen „marktbeherrschende Großunternehmen, übermächtige Finanzkonzerne wie Blackrock und übergriffige Digitalmonopolisten wie Amazon, Alphabet, Facebook, Microsoft und Apple“ gegenüber, „die allen anderen Marktteilnehmern ihren Tribut auferlegen, Wettbewerb untergraben und die Demokratie zerstören.“ Sie und ihre politischen Vertreter sind der Gegner. Gegen sie wird eine ganze Reihe linker und gewerkschaftlicher Forderungen formuliert, wie Umverteilung, Gemeinnützigkeit öffentlicher Dienstleistungen, oder stärkere Tarifbindung.

Internationale Beziehungen und Friedenspolitik

Solange die materiellen, politischen, und emotionalen Ressourcen derart von Krieg und Konfrontation absorbiert werden, bleiben Problemlösungen auf anderen Gebieten blockiert. Deshalb kommt der Position zu diesem Thema besondere Bedeutung zu.

Historischer Bezugspunkt ist die Entspannungspolitik Willy Brandts und Gorbatschows. Befürwortet wird das klassische Repertoire von Friedensbewegung und UN-Charta: Entspannung, Kooperation, Abrüstung, politische Konfliktlösung, keine Kriegseinsätze der Bundeswehr, gemeinsame Sicherheit und gesamteuropäisches Sicherheitssystem. Dabei wird immer wieder auf den Zusammenhang von Frieden und Soziales verwiesen. In den FAQs wird auch die Beendigung der Sanktionen gefordert.

An zwei Punkten weicht BWS vom traditionellen Kurs ab, so wenn es heißt: „Die Bundeswehr hat den Auftrag, unser Land zu verteidigen. Für diese Aufgabe muss sie angemessen ausgerüstet sein.“ Das dürfte bei Pazifisten, Antimilitaristen, Anhängern der Zivilverteidigung und vielen Kritikern der Rüstungsindustrie auf Ablehnung stoßen. Offenbar ist es als Zugeständnis an die oben genannten Zielgruppen gedacht, in denen die Bundeswehr als Normalität akzeptiert ist. Ungewöhnlich auch die Passage zur NATO. Diese soll nämlich ersetzt werden durch „ein defensiv ausgerichtetes Verteidigungsbündnis, das die Grundsätze der UN-Charta achtet, Abrüstung anstrebt, statt zu Aufrüstung zu verpflichten, und in dem sich die Mitglieder auf Augenhöhe begegnen.“

Dennoch steht dieser Programmteil unterm Strich in scharfem Kontrast zur Politik der Ampel und der Unionsparteien und profiliert BWS in dieser so fundamentalen Frage als einzige Opposition im demokratischen Spektrum.

Abgrenzungen nach rechts und zum woken Liberalismus

Im Kapitel Demokratie wird eine klare Abgrenzung nach rechts formuliert: „Rechtsextreme, rassistische und gewaltbereite Ideologien jeder Art lehnen wir ab.“ Zugleich wendet sich das Programm gegen „Cancel Culture, Konformitätsdruck und die zunehmende Verengung des Meinungsspektrums.“ Das richtet sich an jene meist akademischen, großstädtischen Milieus im Umfeld der Grünen, die auch den medialen Mainstream dominieren. Ihnen wird „Autoritarismus“ vorgeworfen, „der sich anmaßt, Menschen zu erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache zu reglementieren.“ Hier liegt eine deutliche Abgrenzung zum woken Liberalismus, die aus dessen Sicht gern als konservativ bezeichnet wird.

Da ist insofern etwas dran, als auch die Arbeiterbewegung und weite Teile der historischen Linken kulturell eher konservativ und kulturellen Zeitgeistmoden abgeneigt waren. Goethes Faust erklärt dazu seinem konformistischen und etwas doofen Famulus: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Bekanntlich ist Wagenknecht Goethe-Fan. In neo-marxistischer Sicht würde man heute mit Nancy Fraser eher von progressivem Neoliberalismus sprechen.

Darüber hinaus findet sich im Demokratie-Kapitel auch die klassische Ablehnung der „Überwachung und Manipulation der Menschen durch Konzerne, Geheimdienste und Regierungen.“

Zum heißen Thema Migration heißt es: „Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung sein.“ Auch das Asylrecht für politisch Verfolgte wird bekräftigt. Allerdings soll Migration politisch gesteuert werden, um die Aufnahmefähigkeit nicht zu überfordern und Integration zu ermöglichen. In diesem Punkt gibt es eine gewisse Überschneidung zu Grünen, SPD und zur EU.

Fazit: Der Weg ist noch lang

Was bisher erkennbar ist: Das Programm ist im Zusammenhang betrachtet eindeutig in linken Prinzipien verwurzelt. Es geht davon aus, dass Gerechtigkeit und Frieden auch mehrheitlich in der Bevölkerung auf Sympathie stoßen, also ihrerseits mehrheitsfähig sind.

Allerdings nimmt es Rücksicht darauf, dass in dieser Mehrheit die Kenntnisse zum Fetischcharakter des Kapitals und die Lektüre der Grundrisse nicht ganz so verbreitet sind wie Bundesliga und Tatort gucken. So verzichtet das Programm sprachlich völlig auf linkes oder marxistisches Vokabular. Begriffe wie Klasse oder Kapitalismus kommen nicht vor. Stattdessen ist von Gemeinwohl die Rede, von „faire[r] Leistungsgesellschaft … gutes Leben“ und „Chancengleichheit.“ Das ist natürlich ziemlich vage, Container, in die jeder hineinpacken kann was er will. Diese Vagheit findet sich aber in allen Parteiprogrammen, wenn es um allgemeine Werte geht.

Sicherlich bedarf es an manchen Stellen auch noch der Ergänzung und Präzisierung. Selbst wenn man die extremistischen Übertreibungen einiger feministischen oder Queer-Gruppen nicht teilt, so gehören Geschlechtergerechtigkeit und Nicht-Diskriminierung zu den großen Kontroversen in der Gesellschaft, zu denen das endgültige Programm nicht schweigen kann.

Eine Schwachstelle ist auch das Thema EU. Wenn der erste große Wahlauftritt voraussichtlich zu den EU-Wahlen im Juni 2024 stattfindet, reicht ein – zudem etwas nebulöser – Satz im Friedenskapitel nicht. Was ist „ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt?“ Wie verhält sich das zu der europäistischen Illusion eines europäischen Bundesstaates? Und wie zu de Gaulles Europa der Vaterländer?

Schließlich werden sich manche auch fragen, wo bleibt der Sozialismus? In der Tat verzichtet BWS auf eine Zukunftsvision. Der Zeithorizont des Programms erstreckt sich implizit über die akuten Krisenzeiten. Wie sollte man nach den Erfahrungen in der Sowjetunion, der DDR etc., mit dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela, oder dem sozialistischen Anspruch Chinas umgehen? Auch andere links-populäre Projekte, wie La France Insoumise (LFI) oder Podemos klammern das aus.

Für alle, denen Sozialismus im Parteiprogramm dennoch unverzichtbarer Teil ihrer Identität ist, bleibt als Trost das Programm der SPD, in dem der Sozialismus seit 150 Jahren bis heute verankert ist.

Das Projekt Wagenknecht hat einen ersten, interessanten Schritt gewagt. Der weitere Weg ist allerdings noch lang.