Brüsseler Spitzen

Nationale Interessen, europäische Lösungen?

| 28. September 2020
Rahulla Torabi

Solange ››Europa‹‹ die Migranten von der deutschen Grenze fernhält, kann Deutschland die moralische Reinheit seines Einwanderungsrechts bewahren: keine Obergrenzen, keine Quoten, praktisch keine Abschiebung.

Die Situation auf der griechischen Insel Lesbos nach dem Brand des Lagers Moria gilt als europäischer Skandal. Aber wer ist ››Europa‹‹? Dass Migranten damit rechnen, in Deutschland aufgenommen zu werden, wenn sie es über das Mittelmeer geschafft haben, ist eine Folge der einseitigen Grenzöffnung durch die Regierung Merkel im Jahr 2015, ohne Konsultation der europäischen Partner Deutschlands. (Dies hat wahrscheinlich einige Monate später zu der britischen Mehrheit für den Brexit beigetragen).

Fast alle Migranten, diejenigen, die bereits in Griechenland sind und diejenigen, die darauf warten, dorthin zu gelangen, wollen nach Deutschland ziehen, nicht nach Ungarn oder Frankreich oder Dänemark, wo sie wissen, dass sie nicht willkommen sind. Und wenn sie im Rahmen eines europäischen Einwanderungsregimes nach Lettland oder Bulgarien geschickt würden (einer Regelung, der keines der beiden Länder jemals zustimmen wird), wären sie trotzdem innerhalb weniger Wochen in Deutschland.

Und warum nicht? Große Teile der deutschen Gesellschaft, darunter die deutsche Wirtschaft, aber auch die Gewerkschaften, nehmen sie gerne auf. Der deutsche Arbeitsmarkt scheint eine endlose Aufnahmekapazität für qualifizierte und unqualifizierte Einwanderer zu haben; die Kirchen, politisch mächtig und finanziell gut ausgestattet, möchten ihre Hilfsbereitschaft unter Beweis stellen; und die Kommunen wollen die Wohnquartiere, die sie 2015 für Asylbewerber gebaut haben, füllen und den täglichen Pro-Kopf-Zuschuss, den die Bundesregierung für jeden Neuankömmling zahlt, kassieren – ganz zu schweigen von den Sprachbildungszentren und ähnlichen Einrichtungen, denen jetzt Kunden und Einnahmen fehlen. Mit Augenmerk auf und im Wissen um die Schuldgefühle der Mitte-Links-Wählerschaft angesichts des deutschen Wohlstands und deren Wunsch, ihr Land zu einem Tugendmodell für ganz Europa zu machen, haben deutsche Politiker dazu aufgerufen, Tausende der Migranten aus Moria, wenn nicht sogar alle, sofort nach Deutschland zu fliegen.

Warum öffnet Merkel die Grenzen nicht wieder?

Warum öffnet die noch immer von Merkel geführte Bundesregierung die Grenzen also nicht wieder? An dieser Stelle kommt ››Europa‹‹ ins Spiel – genauer gesagt, die ››europäische Lösung‹‹, dieselbe, die 2015 für unnötig erachtet wurde. Während jeder weiß, dass es keine ››europäische Lösung‹‹ geben wird, lautet jetzt die Botschaft, dass eine einzelstaatliche Lösung nicht in Frage kommt. Warum?

Offene Grenzen polarisieren. Deutsche Politiker erinnern sich, wie Merkel 2015 die AfD vor dem Niedergang bewahrte, unter dem sie damals litt, und ihr half, sich als größte Oppositionspartei zu etablieren. Es gibt eine Grenze für die Zahl der Einwanderer, die ein Land aufnehmen kann, über die hinaus Ausländerfeindlichkeit in Fremdenfeindlichkeit umschlägt – wie man am Beispiel Dänemark, Schweden, Italien, und den griechischen Inseln selbst sehen kann: Wurde Lesbos nicht einst weltweit dafür gefeiert, dass es die ersten Flüchtlinge, die über das Wasser dorthin kamen, willkommen hieß? Nicht von ungefähr führte Merkel bereits im November 2015 geheime Gespräche mit Erdogan über eine Vereinbarung, nach der die Türkei die syrischen Flüchtlinge an der Einreise nach Europa hindern und ››Europa‹‹ ihm Milliarden Euro für die Kosten zahlen würde, die ihm durch die Überwachung der europäischen Grenzen – oder genauer gesagt der deutschen Außengrenzen – entstehen.

Dennoch: Wenn Flüchtlinge willkommen sind, vorausgesetzt, ihre Zahl ist begrenzt, warum sollte man dann nicht so viele von ihnen aufnehmen, wie die Menschen bereit sind zu akzeptieren? Das deutsche Einwanderungsrecht, das in einer anderen Zeit entstanden ist, macht es aus praktischen Gründen unmöglich, jemanden, der legal oder nicht legal eingereist ist, zurückzuweisen, wenn er nur um Asyl bittet. Wenn Asyl abgelehnt wird, oft nach einem jahrelangen Gerichtsverfahren, kann zudem fast jeder einen Weg finden, eine Abschiebung zu vermeiden. Da es der Regierung politisch zu heikel ist, den Wählern eine Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes vorzuschlagen, bemüht sie ››Europa‹‹ und die Türkei, um Migranten von Deutschland fernzuhalten, im Wesentlichen indem man sie in Moira und an vielen anderen ähnlichen Orten einsperrt.

Ohne Obergrenze kann Zuwanderung nicht geregelt werden

Die bizarre Logik dahinter? Das deutsche Recht und die Menschlichkeit deutschen Stils, und insbesondere die Grünen, verlangen, dass es in Deutschland keine Obergrenze für die Zuwanderung geben darf, weder in Deutschland noch in Europa. Aber ohne eine Obergrenze kann die Zuwanderung nicht geregelt werden: das heißt, man kann keine Quoten, keine Prioritäten etc. festlegen. Das sie jedoch früher oder später zu einem politischen Rückschlag führt, kommt eine ungeregelte Zuwanderung auch nicht in Frage.

Deshalb muss ››Europa‹‹ diese für uns verhindern, insbesondere die Länder Griechenland und Italien, gemeinsam mit Österreich, Ungarn und anderen, die ihre Grenzen schließen, um die Migranten in griechischen und italienischen Lagern einzusperren. Damit tut man Deutschland den Gefallen, eine ››europäische Lösung‹‹ zu blockieren, die zwar mit dem deutschen Recht, aber nicht mit der politischen Situation in Deutschland vereinbar ist. Solange ››Europa‹‹ die Migranten von der deutschen Grenze fernhält, kann Deutschland seine Gesetze einhalten, ohne sie praktizieren zu müssen, während es Ungarn, Österreich, Polen und andere öffentlich tadelt und zugleich privat dafür lobt, dass sie festgelegte nationale Quoten für die Verteilung einer unbegrenzten Anzahl von Migranten ablehnen.

Dies schließt ››humanitäre Gesten‹‹ – oder, in Merkels Sprache, ››ein freundliches Gesicht zeigen‹‹ – nicht aus. Unmittelbar nach dem Brand in Moria kündigte die deutsche Regierung an, 150 (!) unbegleitete Minderjährige aus dem Lager aufnehmen zu wollen. Wenige Tage später wurden genau 1.553 Migranten, Mitglieder von genau 408 Familien, nicht mehr und nicht weniger, zusätzlich aufgenommen. Wie sich herausstellte, stammt keiner von ihnen aus Moria, und allen wurde von den griechischen Behörden bereits der legale Flüchtlingsstatus zuerkannt, woraufhin sie auf das griechische Festland gebracht wurden. Es stellte sich auch heraus, dass die griechische Regierung darauf bestanden hatte, dass der Eindruck vermieden werden müsse, dass man durch das Anzünden eines griechischen Flüchtlingslagers nach Deutschland gelangen könne oder dass man, wenn man es nach Griechenland schaffe, damit rechnen dürfe, nach Deutschland gebracht zu werden, anstatt seinen Asylantrag von den griechischen Behörden bearbeiten lassen zu müssen und danach in Griechenland auf eine so gut wie aussichtslose ››europäische Lösung‹‹ zu warten.

Wenn Griechenland die Auswahl trifft und die nicht ausgewählten Personen behält, kann Deutschland die moralische Reinheit seines Einwanderungsrechts bewahren: keine Obergrenzen, keine Quoten, praktisch keine Abschiebung. Am Tag nach der offiziellen Einladung der 1.533 hatte die deutsche Öffentlichkeit die 12.000 Insassen des ehemaligen Morias vergessen, ganz zu schweigen von den vielen weiteren Bewohnern der vielen anderen Morias in Griechenland und Italien, die durch Deutschlands freundliches Gesicht und die auf dem Papier so offenen Grenzen nach Europa gelockt wurden.