Bild vergrößern
Demokratie & Staat
Bidens Außenpolitik ist der Untergang der Demokraten – und der UkraineVon Jeffrey D. Sachs
Es kommt näherVon Wolfgang Streeck
Wird Amerika den Traum von Selenskyj beenden?Von Thomas Fazi
Politische Spenden waren gestern – Musks Twitter ist die ZukunftVon Dean Baker
Global Health Governance: Zwischenstaatliche Organisation oder privat-öffentliche Netzwerke?Von Andreas Nölke
WEITERE AUSGABEN
Internationale Politik - 3
Gibt es den gerechten Krieg?
Von Armin Groh
| 02. November 2022Johann Till der Jüngere - Gottfried von Bouillon und Kreuzfahrer
Immanuel Kants Vision eines Völkerrechts verbietet militärische Interventionen grundsätzlich. Anders die Lehre vom gerechten Krieg, mit der auch völkerrechtswidrige Kriege gerechtfertigt wurden.
Im letzten Teil wurde Immanuel Kants Vision eines Völkerrechts erklärt, das militärische Interventionen grundsätzlich verbietet. Heute erklärt Sophie Lukas die Lehre vom gerechten Krieg, mit der auch völkerrechtswidrige Kriege gerechtfertigt wurden.
„Eine mögliche Antwort auf die Frage, ob Kriege überhaupt gerechtfertigt werden können, ist die Lehre vom gerechten Krieg. Die Lehre vom gerechten Krieg ist prominent: Sie hat eine lange Tradition und wird auch in der Politik zur Rechtfertigung von Krieg herangezogen. Das Konzept der Schutzverantwortung, wurde zunächst an Hand von Kriterien des gerechten Krieges erarbeitet. Die amerikanische Regierung hat immer wieder den Begriff des ‚gerechten Kriegs‘ bemüht, um den ‚Krieg gegen den Terror‘ zu rechtfertigen. Der ehemalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bemerkte zum Afghanistankrieg: ‚Die Amerikaner, die diese Operationen durchführen sind eine mutige und stolze Truppe. Ihr Grund ist gerecht. Es geht darum, Terroristen vom Töten von Amerikanern und anderen abzuhalten.‘ Der ‚gerechte Grund‘ ist das zentrale Kriterium dieser Lehre.“
„Was heißt ‚eine lange Tradition‘?“
„Die Anfänge dieser Lehre gehen in die Antike zurück. Schon bei Platon und Aristoteles finden sich ethische Überlegungen zur Kriegsführung. Es spricht jedoch manches dafür, dass Cicero die Lehre vom gerechten Krieg begründet hat. Cicero war ein bedeutender Redner und Philosoph des antiken Roms und kam mit dem Thema Krieg nicht nur als hoher Politiker, sondern auch als Soldat und Feldherr in Berührung. Cicero war ein Repräsentant der militaristischen Herrschaft Roms und doch tragen seine Überlegungen zum Krieg bereits Züge, die heute als das Ziel der Lehre vom gerechten Krieg gelten: Die Anlässe zum Krieg und die Gewalt im Krieg zu verringern.
Im Mittelalter waren die katholischen Philosophen Augustinus und Thomas von Aquin wichtige Vertreter der Lehre vom gerechten Krieg. Dass christliche Denker den Krieg rechtfertigten, mag vielleicht verwundern. Augustinus´ Lehre entstand jedoch in einer Zeit, in der das Christentum Staatsreligion geworden und der in den ersten Jahrhunderten verbreitete Pazifismus in den christlichen Gemeinden bereits zurückgedrängt worden war. Augustinus hat sogar heilige Kriege als Strafe Gottes befürwortet.
In der frühen Neuzeit wurde die Lehre vom gerechten Krieg von Vordenkern des Völkerrechts wie Francisco de Vitoria oder Hugo Grotius weiterentwickelt. In den letzten fünfzig Jahren erfuhr die Lehre vom gerechten Krieg eine Wiederbelebung, vor allem durch das 1977 erschienene Buch des einflussreichen amerikanischen Philosophen Michael Walzer, Just and Unjust Wars.“
„Dann würde mich interessieren, was diese Lehre beinhaltet. Krieg und Gerechtigkeit scheinen mir auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein.“
„Nicht nach dieser Lehre. Krieg kann gerecht sein, wenn er bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Das betrifft zum einen Voraussetzungen, unter denen es legitim ist, einen Krieg zu beginnen. Das ist sind die Kriterien des Recht zum Krieg, lateinisch aus ad bello. Aber auch während des Krieges müssen die kriegsführenden Parteien bestimmte moralische Regeln beachten: Kriterien des Rechts im Krieg oder ius in bello. Eine Neuerung der jüngeren philosophischen Debatte ist das Recht nach dem Krieg bzw. ius post bellum. Dieser Aspekt betrifft die Beendigung des Krieges und die Nachkriegsordnung. Hier ist eine Übersicht verbreiteter Kriterien:
„Was bedeuten diese Voraussetzungen konkret?“
„Darüber gibt es eine kontroverse Diskussion. Die Wirklichkeit ist sehr komplex und unseren Begriffen und ethischen Konzepten mangelt es an Schärfe. Deshalb beschränke ich mich weitgehend auf den Standpunkt Michael Walzers, wie er ihn vor allem in Just and Unjust Wars dargelegt hat.“
„Dann beginnen wir doch mit dem gerechten Grund.“
Ius ad bello - das Recht zum Krieg
Der gerechte Grund
„Kriege haben verheerende Folgen. Deshalb muss ein gerechter Krieg einen moralisch schwerwiegenden Grund haben. Klassische Kriegsgründe wie der Raub von Land und Ressourcen oder Rache für die Beleidigung des Königs sind moralisch nicht akzeptabel. Michael Walzer betont, ‚ein Unrecht muss tatsächlich bestehen und verübt worden sein (oder in wenigen Augenblicken zu erwarten sein).‘
Als gerechter Grund gilt die Selbstverteidigung gegen das Unrecht der Aggression. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, weil die Selbstverteidigung eines Staates nicht gleichbedeutend ist mit der Selbstverteidigung gegenüber einem Mörder. Natürlich kann Mord auch das Ziel von Kriegen sein, Vernichtungskriege sind aber die Ausnahme. Wenn es aber nicht um Vernichtung, sondern beispielsweise um Landraub geht, könnte man entgegenhalten, dass es besser wäre, sich nicht zu verteidigen und den eigenen Staat aufzugeben, als die Verheerungen eines Krieges in Kauf zu nehmen.
Michael Walzer sieht die Selbstverteidigung von Staaten aber auch dann als gerechtfertigt an, denn Staaten dienen der Sicherheit und Freiheit ihrer Bürger. Walzer schreibt: ‚Wir wollen in einer internationalen Gemeinschaft leben, in der jede menschliche Gemeinschaft frei über ihr eigenes Schicksal bestimmen kann.‘ Auch Werte wie Nationalstolz bzw. nationale Selbstachtung sind für ihn ein berechtigter Grund für die Selbstverteidigung.“
„Wenn die nationale Souveränität einen so hohen Stellenwert hat, müsste Walzer militärische Interventionen ablehnen, wie es Kant getan hat.“
“Zunächst einmal gilt für Walzer der Grundsatz der Nichteinmischung. Staaten dürfen auch nicht mit dem Ziel der ‚Sicherung von Leben und Freiheit‘ angegriffen werden. Es gibt für Walzer aber auch Ausnahmen von diesem Grundsatz: ‚Wenn sich eine Regierung ihrem eigenen Volk gegenüber grausam erweist, müssen wir die Existenz einer politischen Gemeinschaft, auf die der Gedanke der Selbstbestimmung zutrifft, bezweifeln.‘ Nicht jede Grausamkeit berechtigt aber unmittelbar zur humanitären Intervention. Walzer betont, dass ‚die tatsächlichen Bedingungen Interventionen sehr enge Grenzen setzen.‘ Eine humanitäre Intervention muss eine ‚Reaktion auf einen Akt‘ sein, ‚der das moralische Gewissen der Menschheit schockiert.‘ Weitere gerechte Gründe für eine Intervention sind: Einem Bevölkerungsteil eines Staates zur Unabhängigkeit verhelfen oder eine ungerechte Intervention einer anderen Macht entgegenzutreten. Im spanischen Bürgerkrieg mischte sich das faschistische Italien und die Nazis ein und verhalfen der rechtsgerichteten Diktatur Francos zur Macht. In dieser Situation hätte es nach Walzer für England, Frankreich und die USA einen gerechten Grund gegeben, zu intervenieren.“
„Hätten ausländische Bürger auch eine Terrorgruppe gründen dürfen, um zu intervenieren?“
Legitime Autorität
„Für Augustinus und Thomas von Aquin hatte alleine das Oberhaupt einer herrschaftlichen Ordnung, wie etwa ein König das Recht zur Kriegsführung. Bei Michael Walzer findet sich wenig zu dieser Bedingung, er scheint hier aber ebenfalls einen Unterschied zu machen.“
„Und was ist, wenn der gerechte Grund nur vorgeschoben ist?“
Gerechte Absicht
„Ein gerechter Krieg muss, wie Thomas von Aquin schreibt, mit der Absicht geführt werden ‚das Gute zu mehren und das Böse zu meiden.‘ Eine häufige Kritik an diesem Kriterium ist, dass es kaum überprüfbar ist. Michael Walzer sieht es aber durchaus als möglich an, der wahren Intention nahe zu kommen, indem man öffentliche Äußerungen, tatsächliche Handlungen und mögliche Anreize, den Krieg zu führen, miteinander vergleicht. Allerdings glaubt Walzer, dass es unrealistisch ist, dass ein Staat ‚reine‘ Motive hat. Dies gilt insbesondere für Interventionen in andere Länder: ‚Ich habe kein einziges Beispiel gefunden, bei dem das humanitäre Motiv nicht nur eins unter mehreren war; es scheint, daß Staaten ihre Soldaten nicht in andere Staaten schicken, nur um Leben zu retten.‘ Deshalb lehnt er Interventionen aber nicht grundsätzlich ab: ‚Die Tatsache, daß die humanitäre Intervention selbst im Idealfall nur teilweise humanitär ist, braucht nicht unbedingt ein Argument gegen diese Intervention zu sein, ist aber ein Grund, skeptisch zu sein und die anderen Motive sehr genau zu prüfen.‘“
„Und was ist, wenn die Kriegsziele gar nicht erreicht werden können?“
Aussicht auf Erfolg
„Ein Krieg, der keine Aussicht auf Erfolg hat, kann nicht gerecht sein. Ein gerechter Krieg soll Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern oder beenden. Wenn es aber keine Aussicht auf Erfolg gibt, richtet der Krieg nur zusätzliches Leid und Zerstörung an. Auch Walzer führt dieses Kriterium an. Er weist aber auch darauf hin, dass dieses Kriterium ausgenutzt werden könnte, um ungerechte Aggressionen zu rechtfertigen. Diese Gefahr bestehe insbesondere bei Großmächten mit überlegenen militärischen Mitteln. Auf der anderen Seite macht er deutlich, dass die Entwicklung von Kriegen schwer vorauszusehen ist. Eine Berechtigung für einen wenig aussichtsreichen bewaffneten Konflikt sieht Walzer dann als erlaubt an, wenn sich eine Bevölkerung gegen einen übermächtigen Gegner Widerstand leistet und damit ihre Selbstachtung verteidigt.“
„Zumindest, sofern der Krieg sich nicht durch andere Mittel verhindern lässt.“
Letztes Mittel
„Auf Grund der verheerenden und unabsehbaren Folgen muss Krieg in der Tat das letzte Mittel sein. Wenn andere Strategien, einen Konflikt zu beenden, ebenso aussichtsreich oder sogar erfolgversprechender sind, kann der Krieg nicht gerecht sein. Diese Bedingung ist sehr verbreitet und auch Michael Walzer schreibt, dass ‚man immer zuerst Diplomatie sehen möchte, so dass wir sicher sein können, dass Krieg der letzte Ausweg ist. […] Es ist offensichtlich, dass nichtkriegerische Maßnahmen dem Krieg vorzuziehen sind, wenn sie die Hoffnung in Aussicht stellen, ähnlichen oder beinahe ähnlichen Erfolg zu haben.’ Gleichwohl ist es nicht leicht, eine Prognose abzugeben, welches Mittel mehr Erfolg haben wird. Deshalb lehnt Walzer dieses Kriterium in einem strikten Sinn ab, da dann ein Krieg niemals gerechtfertigt werden könne, weil es immer die Ungewissheit gebe, ob andere Mittel nicht besser seien.“
„Und wenn wie heute das Risiko eines Atomkriegs droht? Soll man dann immer noch weiterkämpfen?“
Verhältnismäßigkeit
„Damit kommen wir zur Verhältnismäßigkeit. Wenn ein Krieg Aussicht auf Erfolg hat und auch das letzte Mittel darstellt muss er immer noch verhältnismäßig sein. Denn der Krieg sollte nicht zu größerem Leid führen als das Leid, das er verhindern soll. Ein unverhältnismäßiger Krieg kann also ebenfalls nicht gerecht sein. Walzer führt als Beispiel den ungarischen Volksaufstand und den Prager Frühling an, die durch die Sowjetunion mit Gewalt niedergeschlagen wurden. Ein Krieg der USA gegen die Sowjetunion, der womöglich mit Atomwaffen geführt worden wäre, wäre natürlich unverhältnismäßig gewesen. Auch dieses Kriterium enthält das Problem, dass es sehr schwer abschätzbar ist, welche Folgen ein Krieg haben wird. Eine weitere Schwierigkeit sieht Walzer in der Vergleichbarkeit von Opfern und Werten. Wie viele Menschenleben ist die Verteidigung der Unabhängigkeit eines Staates wert?“
„Nicht absehbar ist auch, ob der Krieg, selbst wenn er mit guter Absicht geführt wird, in ein willkürliches Abschlachten mündet.“
Ius in Bello - das Recht im Krieg
Die Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten
„Das führt uns zum Recht im Krieg. Militärische Gewalt darf natürlich nicht willkürlich eingesetzt werden. Traditionell gilt: Menschen, die nicht an Kriegshandlungen beteiligt sind, dürfen nicht das Ziel kriegerischer Gewalt sein. Der Grundsatz, dass Zivilpersonen zu schonen sind, findet sich auch in den Genfer Konventionen, einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung, die die meisten Staaten unterzeichnet haben. Auch Walzer stimmt diesem Kriterium grundsätzlich zu. Kombattanten dürfen nach Walzer hingegen getötet werden, weil sie sich mit der Beteiligung an einem ungerechten Krieg ‚den Anspruch auf Leben und Freiheit verloren haben.‘
Das Kriterium wirft jedoch eine Reihe schwieriger Fragen auf. Was genau unterscheidet einen Kombattanten von einem Nichtkombattanten? Gilt dies nur für Mitglieder des offiziellen Militärapparats oder auch für alle Zivilisten, die den Krieg durch ihr Handeln unterstützen? Gibt es für die Schonung von Zivilisten auch Ausnahmefälle? Walzer nennt äußerste Notfälle als mögliche Ausnahmen wie die Bombardierung deutscher Städte im Zeiten Weltkrieg, die offensichtlich gegen dieses Prinzip verstieß. Manche gehen - anders als Walzer - noch weiter und halten auch das Töten von Zivilisten für zulässig, weil sie als Mitglieder des kriegsführenden Staates mitverantwortlich für den Krieg sind. Aber auch im Krieg muss auf die Verhältnismässigkeit geachtet werden.“
„Inwiefern?“
Verhältnismäßigkeit
„Dieses Kriterium betrifft nicht zuletzt die Zahl der zivilen Opfer, die beim Bekämpfen militärischer Ziele in Kauf genommen werden. Unverhältnismäßig wäre offensichtlich der Abwurf einer Atombombe auf eine Stadt, um eine Militäreinheit auszulöschen. Auch dieses Kriterium erkennt Walzer grundsätzlich an, sieht es aber als schwierig oder gar unmöglich an, konkrete Zahlen zu nennen. Der Tod wie vieler Zivilisten darf in Kauf genommen werden?
Ein wichtiges Entscheidungskriterium bei diesem Problem ist für Walzer, wer die Verantwortung trägt. Zum Vietnamkrieg schreibt er: ‚In Vietnam kämpften die Vietkong-Guerillas von Bauerndörfern aus, wobei sie die Einwohner oft dem Beschuss der Amerikaner preisgaben. Ich habe zu dieser Zeit dafür argumentiert, dass, wenn die Amerikaner zurückschossen und annahmen, dass sie so gut sie konnten auf die Guerillas zielten, es die Vietkong waren, die für die daraus resulierenden zivilen Todesopfer verantwortlich waren. Auf der anderen Seite war Amerika verantwortlich für die ‚free-fire-zones’’ – in denen umidentifizierte Personen erschossen werden durften –, ‚genauso für jede willkürliche Bombardierung von Dörfern.‘ Gut, das wäre ein knapper Überblick zu wichtigen Kriterien.“
„Was wird an dieser Lehre kritisiert?“
Kritik
„Vonseiten des amerikanischen Exzeptionalismus wurde hervorgehoben, dass die Aufrechterhaltung der amerikanischen Hegemonie Teil eines gerechten Grundes sein kann. Walzers Verständnis des gerechten Grunds – ‚was das moralische Gewissen der Menschheit schockiert‘ – ist demnach zu eng.
Lesen Sie auch:
Exzeptionalismus: Die Welt soll an unserem Wesen genesen
Armin Groh | 04. Oktober 2022
Auf der anderen Seite wird die Vagheit der Lehre kritisiert, die Anlässe von Kriegen nicht verringert, sondern im Gegenteil Regierungen ein flexibles Rechtfertigungsmittel für Krieg an die Hand gibt. Walzer beispielsweise habe sich dem Zeitgeist in opportunistischer Weise angepasst, indem er Kriege wie den Afghanistankrieg lediglich mit vagen Phrasen wie‚es scheint mir‘ oder ‚keinen Zweifel‘ rechtfertigte.1 Kant hat, wie gesagt, militärische Interventionen in andere Staaten grundsätzlich abgelehnt. Aus der Sicht des pragmatischen Pazifismus zeigt die Kriegserfahrung seit dem Zweiten Weltkrieg, dass sich Kriege heute nicht mehr rechtfertigen lassen.“
Der nächste Artikel behandelt den pragmatischen Pazifismus.
------------------------------