Lohnpolitik

Mit der Goldenen Lohnregel gegen die Rezession

| 10. November 2022

Die EU-Volkswirtschaften leiden unter der Überlagerung multipler Krisen. Das macht die Frage nach der lohnpolitischen Gestaltungsmacht der Gewerkschaften als volkswirtschaftlichen Stabilitätsanker umso dringlicher.

Externe Preisschocks, die primär von den Energie- und Agrarrohstoffmärkten ausgehen, haben im Zusammenwirken mit Angebotsverknappungen infolge pandemiebedingter Lieferkettenstörungen die Verbraucherpreis-Inflation in den meisten EU-Ländern in kürzester Zeit auf ein säkulares Trendniveau von zerstörerischer Dimension angehoben. Wobei der mit hoher Erwartungsunsicherheit verbundene Ukrainekrieg, die strategische Versorgungsrolle der Kriegsparteien für den Energie- und Grundnahrungsmittelbedarf in weiten Teilen der Welt, die selbstschädigenden Entgleisungen des westlichen Wirtschaftskriegs (undifferenzierte Embargopolitik) gegen den Ukraineaggressor Russland und das wenig unsicherheitsresistente, vielmehr spekulationsanfällige Institutionengefüge (market design) auf den europäischen Gas- und Strommärkten für eine Verstärkung der Inflationsimpulse und eine Verlängerung des ansteigenden Inflationstrends gleichermaßen sorgen.

Zumal die Wirtschaftspolitik fast einhellig überkommenen Rezepten folgt. Direkte Markteingriffe gegen die eskalierenden Preiskapriolen werden ganz im Sinn des neoliberalen Sanktuariums der Markteffizienz tunlichst vermieden. Die Fiskalpolitik lässt zudem eine klare Präferenz für kurzfristige, daher wenig nachhaltige Teuerungsabgeltungen in Form von (immerhin vorübergehend nachfragestabilisierenden) monetären Transfers erkennen. Und die Geldpolitik bewegt sich auf den alten Geleisen des „inflation targetings“ durch eine restriktive Zinspolitik, die gegen die externe Schockinflation rein gar nichts bewirkt, außer dass sie über einige zinselastische Transmissionskanäle (zum Beispiel Baubranche und Wohnungswirtschaft) die Rezession in Richtung Stagflation zu Lasten der Beschäftigung und der Lohneinkommen verstärkt.

Übertroffen wird dieser kontraproduktive und wirkungsschwache Instrumentenmix nur von den schocktherapeutischen Aspirationen mancher Klimapolitiker, die sich von der kriegsopportunistischen Gunst der Stunde verleiten lassen, um ziemlich unverhohlen auf eine wenig sozialverträgliche und eher krisenverstärkende Beschleunigung der ökologischen Transformation ganz im Sinn von „never let a good crisis go to waste“ zu spekulieren.

Die Gewerkschaften dürfen sich nicht vom Alarmismus anstecken lassen

Bleibt also die makroökonomische Frage nach der aktuellen Rolle der Gewerkschaften in diesem multiplen Krisenszenario, dessen Langzeitfolgen die soziale Krise (Ungleichheit und Armut) und die Krise der politischen Demokratie (Vertrauensverlust und Autoritarismus) kontinuierlich verschärft.

Klar ist, dass sich die Gewerkschaften nicht vom Krisenmodus der neoliberalen Hirngespinste in der alarmistischen Gestalt von Preis-Lohn-Spiralen und Lohn-Preis-Spiralen anstecken lassen dürfen. Die Gewerkschaften haben außerhalb der organisierten Arbeitsmärkte keine Preissetzungsmacht, als Akteure auf den Arbeitsmärkten aber insofern, indem sie im offenen oder sublimierten Arbeitskampf ihre lohnpolitischen Ziele zur Sicherung eines produktivitätskonformen Einkommenszuwachses der Arbeitnehmer durchsetzen können.

Dorthin führt die Goldene Lohnregel als konstruktive Lohnleitlinie, die keine Abstriche von der Teuerungsabgeltung und der Produktivitätsbeteiligung in den effektiven Geldlöhnen (von den Tariflöhnen abgeleitete Istlöhne) zulässt. Auch nicht im aktuellen Fall einer externen Schockinflation, wo über den Mechanismus der Preiseskalation Volkseinkommen in die spekulativen Commoditymärkte oder an angebotsverknappende Unternehmen in den globalen Lieferketten abfließt.

Es ist Aufgabe der staatlichen Wirtschaftspolitik, diese Preise zu deckeln und im Jahresabstand (Inflationsrate) rasch unter Kontrolle zu bringen. Dem Staat – und dem geldsouveränen zumal – stehen eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, um externe Inflationsschocks von den produktiven Wirtschaftskreisläufen abzuwehren. Es kann daher nicht die Rolle der Gewerkschaften sein, das stabilitätspolitische Staatsversagen durch Lohnzurückhaltung und Inkaufnahme von Reallohnverlusten zu kompensieren, um durch die Dämpfung der effektiven Nachfrage den Weg in die Stabilisierungskrise zu ebnen, damit die hochspekulierten und gewinnträchtigen Preise endlich zu Lasten der Beschäftigung und Einkommen der Arbeitnehmer einem stabilen Trend folgen.

Die Gewerkschaften müssen sich vielmehr an der Goldenen Lohnregel orientieren und unabhängig von den Inflationsursachen die Teuerungsabgeltung neben dem Produktivitätsanteil in den Lohnabschlüssen durchzusetzen versuchen. Das Gelingen dieses Unterfangens ist natürlich selbst bei erhöhter Bereitschaft zum Arbeitskampf unsicher. Aber die demographische Entwicklung, das durch die Pandemie veränderte Angebotsverhalten auf den Arbeitsmärkten und der allenthalben auftretende Fachkräftemangel bieten den Gewerkschaften auch die Chance, vor dem Hintergrund wachsender Zustimmung in der inflationsgeschädigten Bevölkerung ihre Verhandlungsstärke entschlossen in die Waagschale zu werfen. Nur so kann die Rezession als unausweichliche Folge persistent hoher Inflationsraten ohne ausreichender Teuerungskompensation in den Geldlöhnen abgewendet oder zumindest abgeschwächt werden.

Um zu verhindern, dass die nach unten flexiblen Reallöhne im Sinne neoliberaler Stabilitätspolitik die Lasten der inflationären Schockverarbeitung übernehmen, indem sich von den Endverbrauchermärkten ausgehende reale Nachfrageverluste auf die Faktormärkte (einschließlich Arbeitsmärkte) übertragen und preisdämpfend auswirken. Dabei bleibt erwartungsgemäß der Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung auf der Strecke. Und die staatliche Wirtschaftspolitik bleibt von ihrer Verantwortung für ein preisstabiles Inflationsziel als Grundlage von Erwartungssicherheit (auch für die gewerkschaftliche Lohnpolitik) dispensiert.

Goldene Lohnregel als makroökonomische Orientierung

Die Goldene Lohnregel als makroökonomischer Orientierungsmaßstab für gewerkschaftliche Lohnpolitik besticht durch ihre plausiblen Wirkungszusammenhänge. Wenn die Geldlöhne im Ausmaß der Inflationsrate zuzüglich der allgemeinen Produktivitätsrate wachsen, dann stabilisieren die Reallöhne bei unveränderter Lohnquote die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage (effektive Nachfrage), sofern die Gewinne (im Sinne einer kaleckianischen Kreislaufbetrachtung) für betriebliche Investitionszwecke thesauriert[1] oder zur nachfragewirksamen Konsumverwendung ausgeschüttet[2] werden. Die Plausibilität dieser einfachen Faustformel ist allerdings an Voraussetzungen gebunden, aus denen sich eine Reihe praktischer Komplikationen ergeben können.

Inflations- wie Produktivitätsrate sind durchschnittliche Veränderungsgrößen auf Jahresvergleichsbasis. Die lohnfindungsrelevante Inflationsrate bemisst sich nach der jährlichen Veränderung des Preisniveaus auf den Endverbrauchermärkten, die im mengengewichteten Warenkorb der Verbraucherpreisindex-Statistik abgebildet sind. Die allgemeine Rate der Arbeitsproduktivität errechnet sich durch den Jahresvergleich des Quotienten aus realem BIP und gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden. Beide Größen sind ex-post-Werte, die im Nachhinein ermittelt werden und weder sektorale noch regionale Unterschiede berücksichtigen.

Die Gewerkschaften verhandeln und erstreiten die Geldlöhne aber auf organisierten Arbeitsmärkten entweder im Rahmen von Flächentarifverträgen (Deutschland) oder von Branchenkollektivverträgen (Österreich) mit den Unternehmerverbänden, wo die wirtschaftlichen Ausgangsvoraussetzungen in Bezug auf Preisniveau und Arbeitsproduktivität sehr unterschiedlich sein können. Preisniveauunterschiede ergeben sich beispielsweise in Tourismusgebieten, wo die saisonale Übernachfrage für einen deutlichen Abstand zwischen dem regionalen Teuerungsanstieg und dem allgemeinen Inflationstrend sorgen können. Noch deutlicher treten Produktivitätsdifferenzen zu Tage, insbesondere zwischen Industrie- und Dienstleistungsbranchen, aber auch innerhalb bestimmter Sektoren, wenn die reale Kapitalbeschaffenheit (technischer Fortschritt) zwischen den Unternehmen größere Unterschiede aufweist.

Wenn die Gewerkschaften ihrer makroökonomischen Funktion im Sinne der Goldenen Lohnregel gerecht werden wollen, dann müssen sie mit dem Problem von unsicheren Erwartungen für kurzfristige, an der Tarifvertragslaufzeit orientierte Inflations- und Produktivitätstrends umgehen.[3] Dabei ist die Schätzung des Inflationstrends das einfachere Problem, weil sich die Gewerkschaften entweder eigener empirischer Forschungskapazitäten oder der einschlägigen Prognoseergebnisse von anerkannten Wirtschaftsforschungsinstituten bedienen können, um die kurzfristige Inflationserwartung nach best-practice-Methoden zu verankern.

Alternativ ist eine Orientierung an dem von den Notenbanken definierten Inflationsziel zur Stabilisierung des Preisniveaus möglich, was allerdings das Risiko beinhaltet, dass die Gewerkschaften ihren Beitrag zur Stabilisierung der effektiven Nachfrage weit verfehlen, wenn - wie im Fall von externer Schockinflation - zwischen dem Inflationsziel und dem tatsächlichen Inflationstrend starke Unterschiede auftreten, die im Lohnverhandlungsergebnis zu einer Erosion der Reallöhne beitragen.

Auch die kurzfristige Branchenproduktivitätserwartung kann nur durch langfristige Trendanalysen ermittelt werden, wobei es in diesem Zusammenhang wichtig ist, dass die heterogene Produktivitätsverteilung innerhalb einer Branche zu einem Mittelwert (Durchschnitt oder Median) gravitiert, der den Produktivitätszuschlag auf die Rate der Teuerungsabgeltung in den Geldlohnforderungen der Gewerkschaften bestimmt. Dadurch wird sichergestellt, dass die Branchenunternehmen mit unterdurchschnittlicher Produktivität zur investiven Aufholung angeregt werden, um ihre Gewinnspannen zu sichern – zumal Geschäftsmodelle mit unzureichender (unauskömmlicher) Verdienstmöglichkeit für die Lohnabhängigen tendenziell diskriminiert werden.[4]

Gleichzeitig müssen für die Belegschaften der hochproduktiven Branchenmitglieder die Betriebsvereinbarungsspielräume groß genug sein, um über die Effektivlöhne das einzelwirtschaftliche Produktivitätswachstum in Form der Lohndrift auszuschöpfen. Nur so kann die gewerkschaftliche Lohnpolitik unter der Maßgabe der Goldenen Lohnregel effektive Nachfrage und Lohnquote wachstumskonform stabilisieren, um die unternehmerische Investitionsbereitschaft (produktive Gewinnverwendung) als Folge rentabler Absatzerwartungen aufrecht zu erhalten. Womit der entscheidende makroökonomische Beitrag der lohnkämpferischen Gewerkschaften für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen mit wohlstandsfördernder Entlohnung auf der Hand liegt.

Goldene Lohnregel jenseits des Goldenen Zeitalters?

Das führt zu dem gewerkschaftspolitischen Problem, wie die organisierten Arbeitnehmer ihre wirtschaftlichen Forderungen (regelmäßig wiederkehrende Geldlohnforderungen in den Lohnverhandlungen) und ihre sozialen Anliegen (Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtstaats zur laufenden Entwicklung des kollektiven Kapitals der lohnabhängigen Bevölkerung) wirkungsvoll durchsetzen können.

Diese Durchsetzungsfähigkeit ist Ausdruck der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die von verschiedenen Faktoren abhängt. Wobei der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer, die institutionelle Ausgestaltung der organisierten Arbeitsmärkte, der Deckungsgrad der Tarifverträge, die Beschäftigungslage, die gewerkschaftliche Konfliktbereitschaft und das wirtschaftspolitische Rollenverständnis der gewerkschaftlichen Organe einen bestimmenden Einfluss ausüben.

Im Optimalfall können die Gewerkschaften bei wirkungsvoller Verhandlungsstärke im „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ mit den tarif(kollektiv)vertraglich durchgesetzten Geldlöhnen, deren Anstieg aus dem Inflationstrend und dem realen Wohlstandszuwachs in Form einer Zielrate der Arbeitsproduktivität resultieren, den Pfad der Produktivitätsdynamik vorgeben, weil dann der Unternehmenssektor (unter kaleckianischen Kreislaufbedingungen) über produktive Investitionen die Gewinnquote und die effektive Nachfrage wachstumskonform stabilisiert.

Nach gut vier Jahrzehnten neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik, die in der Tradition neoklassischer Funktionsirrtümer einen besonders arbeitnehmerfeindlichen Fokus in Richtung Arbeitsmarktflexibilisierung forciert, haben sich die Verhältnisse auf den organisierten Arbeitsmärkten vom angedeuteten gewerkschaftlichen Optimalfall im „Goldenen Zeitalter“ des gemischtwirtschaftlichen Kapitalismus der Nachkriegsperiode weit entfernt.

Das ändert aber nichts daran, dass die makroökonomische Analyse der Gewerkschaftsfrage an diesem erfolgreichen Modell der Lohnpolitik Maß nehmen muss, wenn die Gewerkschaften aus ihrer defensiven Rolle herausfinden wollen. Nur so können sie einen aktiven und verhandlungsstarken Part in einem wirtschaftspolitischen Setting übernehmen, das die arbeitnehmerorientierten Ziele von Vollbeschäftigung, Preisstabilität und produktivitätsdynamischer Wohlstandsentwicklung anstrebt.

Der gegenwärtige Zustand der EU-Volkswirtschaften, der durch die Überlagerung multipler Krisen gekennzeichnet ist, macht die Frage nach der lohnpolitischen Gestaltungsmacht der Gewerkschaften als volkswirtschaftlicher Stabilitätsanker umso dringlicher.

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[1] Wenn die Gewinne zur Schuldentilgung verwendet werden oder über Ausschüttungen (auch in Form von Aktienrückkäufen) in den finanzwirtschaftlichen FIRE-Sektor abfließen, entsteht eine investive Nachfragelücke, die zu einer Gefährdung der Gewinnquote führt. („Die Arbeiter geben aus, was sie verdienen, die Kapitalisten verdienen, was sie ausgeben“, so eine Nicholas Kaldor zugeschriebene Charakterisierung der kaleckianischen Kreislaufbetrachtung). Wenn die Arbeiter aus Lohneinkommen sparen, entsteht eine Nachfragelücke, die zur Gefährdung der Lohnquote führt, sofern das lohnabhängige Sparvolumen nicht durch Neuverschuldung des Unternehmenssektors für investive Ausgabenzwecke kompensiert wird.
[2] Ausschüttungen für Zwecke der Konsumverwendung betreffen vor allem den breit angelegten EPU- und KMU-Sektor, wo vielfach die Gewinne in Form des „Unternehmerlohns“ an die Haushalte der Gewerbetreibenden oder mittätigen Gesellschafter der Kleinunternehmen (auch als aufwandswirksamer und gewinnverkürzender Geschäftsführergehalt) ausgeschüttet werden.
[3] Die österreichischen Gewerkschaften haben sich des Unsicherheitsproblems entledigt, indem sie ihre Lohnforderungen neben dem Produktivitätszuschlag auf Basis der „rollierenden Inflationsrate“ verhandeln (die Goldene Lohnregel gemäß der Benya-Formel). Dabei handelt es sich um den feststehenden Jahresdurchschnitt der monatlichen Inflationsraten vor KV-Verhandlungsbeginn (bzw. Beginn der neuen KV-Laufzeit). Das hat zur Folge, dass bei ansteigendem Inflationstrend kurzfristige Reallohnverluste in Kauf genommen werden (oder zumindest der Produktivitätszuschlag erodiert wird), weil die monatliche Inflation zu Beginn der neuen KV-Laufzeit höher sein kann als die Inflationskomponente der vereinbarten Geldlohnsteigerung. Da bei fallendem Inflationstrend die umgekehrte Wirkung eintritt, werden die Reallohnverluste mit einem time lag kompensiert, weil dann die monatliche Inflation zu Beginn der neuen KV-Laufzeit niedriger sein kann als die Inflationskomponente der vereinbarten Geldlohnsteigerung. Die Verzögerung der Kompensation hängt dabei von den Amplituden der gegenläufigen Inflationstrends ab.
[4] Der allgemeine Produktivitätszuschlag (wenn nicht sogar ein diskretionäre Zielrate der Produktivität in den Geldlohnforderungen) ist daher auch eine lohnpolitische Maßgabe gegen die neoliberale und flexibilitätsobsessive Akzeptanz von unternehmerischen Geschäftsmodellen, die nur zu Lasten der Arbeitnehmer in Form unauskömmlicher Niedriglöhne oder subventionierter Kombilöhne funktionieren und mit ihrem Mangel an rentabler Wertschöpfungsfähigkeit im großen Umfang Wohlstandspotenzial preisgeben.