Staatsschulden als Ausdruck von Demokratie
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Schuldenbremse, der EZB-Zinswende und der enormen Zinsbelastung des Bundeshaushalts scheint klar: Die anhaltende Neuverschuldung belastet kommende Generationen und ist eine Gefahr für die Demokratie. Doch gegen diese Schwarzmalerei spricht eine Gegenüberstellung juristischer und ökonomischer Argumente.
Diese Art „das Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern, (beweist) einen herzlosen Hochmut als wesentlichen Charakterzug“.[1]
Der Ursprung jeder juristischen Kritik an Staatsverschuldung ist die Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben des Staates. Gemäß des „Steuerstaatsprinzips“[2] soll sich ein Staat durch die Einnahme von Steuern[3] finanzieren. Demensprechend soll sich die Höhe der Ausgaben grundsätzlich dem Steueraufkommen anpassen. Dieser Logik eines gleichbleibenden Verhältnisses von Einnahmen und Ausgaben entsprechend soll die Finanzierung von Staatsausgaben durch Verschuldung die Ausnahme sein. Im politischen Sprech ist auch von der „Schwarzen Null“ die Rede. Bestenfalls sollte eine Konsolidierung, also ein Abbau der Schulden, durch einen Einnahmeüberschuss erreicht werden. Für diese Logik bemüht man gern das Bild der immer sparsamen „schwäbischen Hausfrau“.
Im Angesicht der ansteigenden Staatsverschuldung wird in nahezu allen juristischen Abhandlungen die Sorge vor der Belastung kommender Generationen geäußert. Zudem wird gefordert, auf den „Pfad der Tugend zurückzukehren, indem Ausgaben gesenkt oder Einnahmen erhöht oder beides kombiniert werden.“[4] Teilweise wird sogar vor einem Staatsbankrott gewarnt. Dieser sei ein „staatstheoretisches Faktum und potentielles Ereignis in jedem Staat, der es sich leistet, Aufgaben durch Schuldenmachen zu finanzieren.“[5]
Die gängige Lehre zur Staatsverschuldung, die auch gern als „demokratische Krankheit“[6] bezeichnet wird, kann sich einer langen Tradition rühmen. Bereits die Weimarer Reichsverfassung begrenzte in Art. 87 die Staatsverschuldung auf die Ausnahme. Auch vor der aktuellen Version der Schuldenbremse, beinhaltete Art. 115 GG immer eine Begrenzung der Verschuldung, wenn auch nur in Höhe der Nettoneuinvestitionen. Die warnenden Stimmen aus der Gruppe der Verfassungsrechtler begründen ihr Feindbild eines überschuldeten Staates mit einer Fehlannahme. Diese ist im Folgenden aufzudecken.
Was ist Staatsverschuldung?
Staatsverschuldung wird in der Öffentlichkeit immer als Schuldenstand dargestellt, also die Menge an aufgenommenen Krediten. Gern wird auch die Parallele zu der privaten Verschuldung gezogen.
Staatsverschuldung ist jedoch nicht mehr als eine statistische Größe. Es werden die aufsummierten staatlichen Defizite beschrieben – also die Differenz aller Staatsausgaben und aller Steuereinnahmen. Staatsausgaben erhöhen die Vermögen des Privatsektors, Steuereinnahmen reduzieren diese. Bei Ausgaben weist der Finanzminister eine Überweisung an und das Zentralkonto des Bundes, welches dem Bundesministerium der Finanzen unterstellt ist, wird belastet. Die Bundesbankkonten von den begünstigten Geschäftsbanken werden hierbei erhöht. Bei Steuereinnahmen werden diese Konten wieder reduziert.
Bei Staatsausgaben auf Bundesebene kommt es im oben beschriebenen Beispiel zu Geldschöpfung bei der Bundesbank.[7] Die Bundesregierung kann ihr Konto bei der Bundesbank innerhalb eines Geschäftstags „überziehen“. Was das bedeutet, ist technisch entscheidend: Die Bundesregierung gibt erst Geld aus, und bekommt danach ihre Steuererlöse und die Erlöse aus dem Verkauf von Staatsanleihen auf ihr Verrechnungskonto bei der Bundesbank überwiesen.
Das staatliche Geld ist aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger nichts anderes als ein rechtliches Instrument, um Steuern zu zahlen. Wenn jemand Steuern zahlen möchte, kann er dies nur in staatlicher Währung tun.
Während sich die schwäbische Hausfrau entschulden kann, indem sie Zahlungen an die Bank tätigt, kann der Staat dies nicht. Seine Zahlungen reduzieren die Staatsverschuldung nicht. Zwecks „Entschuldung“ (also die Begleichung der Steuerschuld) müssen die Bürger Zahlungen an den Staat leisten.
Soweit die technische Beschreibung, wie Staatsver- und entschuldung funktioniert.
Ist Staatsverschuldung undemokratisch?
Geldschöpfung ist eine elementare Aufgabe des Staates als Währungsherausgeber. Durch Ausgaben schafft er neues Geld[8] und mobilisiert Dienstleistungen, Produktion, Daseinsvorsorge und Wirtschaftswachstum. Doch wieso empfahl dann das BVerfG am 9. Juli 2007[9], dass der Staat seine Neuverschuldung begrenzen müsse?
Durch die Fehlannahme, dass ein Staat sich durch fremdes Geld (Steuerzahlergeld) finanziert, ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass der Staat wie eine schwäbische Hausfrau, immer nur so viel ausgeben kann, wie er einnimmt: das Steuerstaatsprinzip. Da durch eine kreditfinanzierte Ausgabe Zinszahlungs- und Tilgungsverpflichtungen immer weiter ansteigen, verkürzten sich so die haushälterischen Spielräume künftiger Generationen. Projekte könnten dann nicht mehr realisiert werden.[10] Dies führe zu einer Überspannung der demokratischen Befugnisse einer Bundesregierung, da die Handlung im Jetzt eine spätere Regierung finanziell einschränke.
Diese Sorge ist zum einen aus ökonomischer Sicht unberechtigt. Die deutsche Bundesregierung kann über die Deutsche Bundesbank theoretisch unbegrenzt Euros schöpfen. Lediglich politische Regeln und ökonomische Vernunft hindern sie daran. Zum anderen ist Staatsverschuldung der Regelfall und kein „Zaubermittel, das der öffentlichen Hand erlaubt, sich als leistender Wohltäter darzustellen“[11]. Der Staat ist Währungsmonopolist.
In der Eurozone ist die staatliche Geldausgabe durch die EZB zentral organisiert. Der Staat stellt durch sein Gewaltmonopol sicher, dass alle Bürger und Unternehmen Steuern in Euro zahlen. Dies führt zu einer allgemeinen Akzeptanz der Währung.[12] Mit der Ausgabe seiner Währung nimmt der Staat zusätzlich lenkenden Einfluss auf die Wirtschaft. Der Umfang, in dem er dies tut, ist Ergebnis politischer Auseinandersetzungen; die Möglichkeit hierzu hat er aber als logische Konsequenz aus seinem Status als Währungsherausgeber. Da ein Staat durch die Ausgabe von Staatsanleihen neues Geld schafft, ist Staatsverschuldung Ausdruck von Demokratie.
Die Behauptung, Schulden aufzunehmen sei undemokratisch, ist widersprüchlich. Erstens würde dies im Umkehrschluss bedeuten, dass jede Verschuldung undemokratisch gewesen wäre. Folglich wäre jedes im Umlauf befindliche staatliche Geld undemokratisch erschaffen. Zweitens wäre eine Haushaltspolitik ohne Schuldenaufnahme im Zuge der Genese eines neuen Staates nicht möglich. Ebenso wenig können alle Schulden zurückbezahlt werden. Denn eine Verschuldung von Null würde bedeuten: Entweder der Staat hat nie Geld ausgegeben. Dies hätte aber auch zur Folge, dass er kein Geld einnehmen kann. Oder der Staat müsste – rein hypothetisch – so lange mehr Geld durch Steuern aus der Wirtschaft zurückholen als er ausgibt, bis sämtliches staatliches Geld verschwunden ist. Dies wäre nur durch eine enorme Zunahme von privater Verschuldung möglich.
Zudem wird oft auf die Begrenzung politischer Macht verwiesen, die angeblich durch die Schuldenbremse ermöglicht würde. Der Grundsatz „Macht auf Zeit“, der dem Demokratieprinzip innewohnt, ist in Bezug auf Staatsverschuldung widersprüchlich. Er steht im direkten Konflikt mit dem Sozialstaatsprinzip und damit der Notwendigkeit auch Entscheidungen zu treffen, deren Wirkung über die vierjährige Legislatur hinausgehen. „Generationenübergreifende Wirkungen sind keineswegs allein auf den Bereich der Staatsverschuldung begrenzt, treten vielmehr auch bei vielen, vielleicht sogar den meisten gewöhnlichen Sachentscheidungen auf und sind angesichts des umfassenden demokratischen Gestaltungsauftrags sogar erwünscht.“[13]
Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß Art. 20 I GG nicht nur ein demokratischer, sondern auch ein sozialer Bundesstaat. Der Staat ist dazu verpflichtet, unter den Bedingungen der Gegenwart und unter Berücksichtigung der realen Ressourcen, nicht nur zur aktiven Gestaltung der Gegenwart, sondern gleichermaßen zur dauerhaften Sicherung der Grundlagen gesellschaftlichen Lebens zu sorgen.[14] Diese Verpflichtung zur Daseinsvorsorge schließt die Aufgabe ein, durch weitsichtige Entscheidungen in der Gegenwart für das Dasein in der Zukunft zu sorgen. Das schließt somit auch die Finanzierung von großen Vorhaben ein, die nicht aus einem ausgeglichenen Haushalt heraus finanziert werden können. So urteilte das Bundesverfassungsgericht:
„Zwar entspricht der Demokratie der Gedanke der Herrschaft auf Zeit und die Achtung der Entscheidungsfreiheit auch künftiger Generationen. Es gehört aber ebenso zu den Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers, über die Amtsperioden hinauszusehen, Vorsorge für die dauerhafte Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen zu treffen und damit auch die Entscheidungsgrundlagen nachfolgender Amtsträger inhaltlich vorauszubestimmen.“[15]
Zudem urteilte das Bundesverfassungsgericht 2021[16], dass die Klimaschutzziele von Paris einzuhalten sind, um die Freiheit der jungen Beschwerdeführer auch in der Zukunft zu schützen. Macht auf Zeit bedeutet also, dass Machtausübung auch in Zukunft möglich sein muss.
Ist die Begrenzung der Staatsverschuldung demokratisch?
Art. 79 III GG stellt unter anderem das Demokratieprinzip unter Ewigkeitsgarantie. Das bedeutet: Jede Änderung des Grundgesetzes, die das Demokratieprinzip verletzt, ist unzulässig. Zusätzlich muss jede Grundgesetzänderung an Art. 79 III GG gemessen werden und somit mit dem Demokratieprinzip vereinbar sein.
Die Begrenzung der Staatsverschuldung – diese wurde 2009, zu einer Zeit beschlossen, als die politischen Realitäten mit den heutigen nicht zu vergleichen waren – ist eine Einengung der politischen Handlungsfähigkeit, denn die Schuldenbremse legt die Entscheidungshoheit jeder Regierung in Ketten.
Dies wird insbesondere durch die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[17] deutlich: Sondervermögen, die über mehrere Jahre eine Finanzierung von großen Vorhaben ermöglichen sollten, verstoßen unter anderem gegen das Prinzip der Jährigkeit. Dieses untersagt Haushaltsgesetzgebern, Mittel anzusparen, um sie über mehrere Jahre zu verwenden. Die Neuverschuldung von 0,35 Prozent, die gemäß der Schuldenbremse jedes Jahr möglich ist, reicht nicht aus, um große Projekte im regulären Haushalt zu stemmen. Jedes Jahr eine Notlage im Sinne von Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG auszurufen, dürfte dem Geist der Schuldenbremse ebenso widersprechen.
Zudem ist das Erfordernis eines Tilgungsplans gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 8 GG die in Recht gegossene Verpflichtung zur Konsolidierung des Staatshaushalts. Dieses Erfordernis kann auch als „Gedächtnis der Schuldenbremse“[18] verstanden werden. Das ist ein enormer Eingriff in das Demokratieprinzip, da hier tatsächlich zukünftige Generationen belastet werden. Die Verpflichtung zur Haushaltskonsolidierung entspricht einer Handlungsanweisung an künftige Regierungen: Kürzen und Sparen. Die Schuldenbremse belastet kommende Haushalte somit nicht nur tatsächlich, sondern auch finanziell.
Fazit: Allein die Schuldenbremse belastet kommende Generationen
Staatsverschuldung ist höchst demokratisch. Ein monetär souveräner Staat legt die Basis für eine lebendige Demokratie, in der zukünftige Regierungen den Wünschen der Menschen gerecht werden können. Allein die Schuldenbremse belastet kommende Generationen. Diese legt die Politik in Ketten und belastet durch Sparsamkeit und Tilgungsverpflichtungen kommende Generationen finanziell und materiell.
Dieser Artikel wurde nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst und stellt nur die Privatmeinung des Autors Konstantin Gerber dar.
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