Editorial

Der Wind des Wandels

| 20. Oktober 2020
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Liebe Leserinnen und Leser,

in dieser Ausgabe kommen wir erneut auf die Energiewende zu sprechen, beschäftigen uns mit einer Zeitenwende der Geldpolitik, reden über die Folgen einer Wende des deutschen Wachstumsmodells und fragen uns, ob auch NextGenerationEU wirklich eine Zeitenwende bedeutet.

Wandel in der Klimapolitik

Wenn in der Klimapolitik der Weg das Ziel ist, dann ist dieser voll von Hürden, Steinen, Sackgassen und falschen Abzweigungen. Das fängt mit der Finanzierung des Green New Deals an, der ein klimaneutrales Europa bis zum Jahr 2050 anstrebt. Denn die Politik streitet – stets mit der Schuldenbremse im Nacken – über die Finanzierung. Auch viel Ideologie ist mit im Spiel – sowohl bei den Gegnern als auch den Befürwortern der Klimapolitik. Und dann gibt es noch den Streit über Fragen der technischen und systemischen Probleme der Energiewende.

Eine Studie des Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg vom Februar dieses Jahres zumindest meint: »Das Erreichen der Klimaschutzziele im Bereich der Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energien ist aus technischer und systemischer Sicht machbar.« Bis 2050 kann demnach der Energiebereich nahezu klimaneutral gemacht werden. 

Doch es sind nicht nur die technischen Innovationen und Entwicklungen, die es für die Energiewende braucht. Auch das Verhalten der Konsumenten und die Akzeptanz neuer Windenergieanlagen oder Stromleitungen beeinflusst, wie die Energiewende konkret ausgestaltet werden muss. Das ISE hat deshalb für seine Studie nicht nur ein Leit-Szenario betrachtet, sondern jeweils andere Verhaltensweisen der Gesellschaft einfließen lassen. In welcher Zeit und mit welchen Kosten die Transformation des Energiesystems hin zur Klimaneutralität gelingt, hängt also auch davon ab, ob dieser Weg von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird.

Breite Unterstützung für den Kampf gegen den Klimawandel gibt es aber nur, wenn auch die Vermögenden an den Kosten beteiligt werden, schreibt Dirk Bezemer in seiner Kolumne. Derzeit riskieren wir, den Kampf gegen die Corona zu gewinnen, aber den Krieg gegen den Klimawandel zu verlieren. Während gegen das Virus totale Mobilmachung herrscht, kam eine Hiobsbotschaft vom anderen Schlachtfeld in Form des "SR15"-Berichts des IPCC-Klimarats: Uns bleiben nur noch zehn Jahre, um mit den gegenwärtigen CO2-Emissionen zu wirtschaften, wenn wir eine vernünftige Chance (66 Prozent) haben wollen, die Erwärmung der Erde auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Um diese Chance wahren, müssten wir die Emissionen schneller verringern. Wir bräuchten einen Schlachtplan, so Bezemer, ein »How to Pay for the War of the Climate Crisis«.

Wandel der Geldpolitik

Das geldpolitikentscheidende Gremium der Fed, das »Federal Open Market Committee« (FOMC) ließ Ende August des Jahres zwei kritische Strategierevisionen verlauten:  Erstens strebt die Fed jetzt eine Inflationsrate an, die im längerfristigen Durchschnitt 2 Prozent betragen soll. Im Kern ein Signal, dass die expansive Geldpolitik noch länger durchgehalten werden soll.

Dieses Versprechen wird – zweitens – dadurch unterstrichen, dass die Fed ihre Einschätzungen nunmehr an etwaigen »Lücken« der Beschäftigung vom Maximum, statt wie bisher an Abweichungen von der ökonometrisch geschätzten natürlichen Arbeitslosenrate orientieren will. Diese Erklärung kommt einer Abkehr vom symmetrischen Denken im Rahmen von Phillips-Kurven und Mainstream-Konstrukten wie der NAIRU gleich. Auch das unterstreicht, dass die Fed aus heutiger Sicht vorhat, ihren expansiven Kurs sehr lange durchzuhalten.

Die Fed stellt sich damit auf ein verändertes politisches und soziales Umfeld ein. Sollten Joe Biden und die Demokraten im November die Präsidentschaft und die Senatsmehrheit gewinnen, und nimmt man das Wahlprogramm Joe Bidens ernst, so wird neben Klimaschutz und Energiewende die Verminderung der Ungleichheit im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen. Biden spricht von einer »K-shaped« Erholung: Die Reichen hätten in der Tat eine flotte Erholung ihres Wohlstands erfahren, die weniger wohlhabende Bevölkerung sei dabei allerdings auf der Strecke geblieben.

Die Fed hat die Zeichen der Zeit erkannt, und sie gibt in ihrer Strategierevision zu erkennen, dass sie der sich abzeichnenden Entwicklung nicht im Wege stehen will: Maximale und »sozial integrative« Beschäftigung sowie die Zinslast der Staatschuld stehen wieder im Zentrum der amerikanischen Geldpolitik. Die Inflation – Augapfel der Geldpolitik im Zeitalter des Neoliberalismus – wird derweil auf die Rücksitzbank verbannt.

Wandel der EU?

Hat auch die EU die Zeichen der Zeit erkannt? Als Meilenstein der Integrationsgeschichte wurde NextGenerationEU gefeiert, gar zu einer kopernikanischen Wende der Europäischen Union verklärt. Ja, es gibt nun »mehr Europa«. Und mit der Verschuldungsmöglichkeit erhält das politische System der EU ein neues Instrument. Vor allem aber ist der Aufbaufonds ein Präzedenzfall für künftige Krisen, an denen die Eurozone nicht arm ist.

Doch wie wirkt der neue Aufbaufonds auf die strukturellen Probleme des Euro ein, etwa die unterbrochene makroökonomische Koordination, der gestörte Zinskanal, der verzerrende Wettbewerbskanal und das Fehlen eines Kreditgebers der letzten Instanz. Ändert sich das durch NextGenerationEU? Immerhin ist anzuerkennen, dass die Verschuldungspolitik als Teil der Fiskalpolitik – Vorbild USA – einen kleinen Schritt näher an die Geldpolitik heranrückt.

Derzeit kann Italien mit 209 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds rechnen, die bei gutem Verlauf im Jahr 2021 ankommen könnten und die es in den sieben Jahren bis 2027 ausgeben muss. Dies entspricht 1,9 Prozent pro Jahr des geschätzten geschmolzenen BIP Italiens im Jahr 2020, weniger als das, was Jahr für Jahr nötig wäre, um das Gesundheitssystem auf nordeuropäischem Standard zu halten.

Ministerpräsident Giuseppe Conte aber hat ohnehin andere Pläne. Italien werde »das Vertrauen, das Europa in es gesetzt hat, mit den Investitionen und Strukturreformen, die Italien jetzt braucht, zurückzahlen«, verspricht er. Italien müsse produktiver und wettbewerbsfähiger werden, dies komme »allen im gemeinsamen europäischen Markt zugute...«.

Erwartet Conte, dass die »Strukturreformen« die italienische Wirtschaft produktiv genug machen, um den gleichen Wechselkurs wie die Volkswirtschaften Nordeuropas, allen voran Deutschlands, zu rechtfertigen?

Unabhängig davon hat aber auch das so wettbewerbsfähige Deutschland ein Strukturproblem. Egal ob Handelskriege, globale Shutdowns oder der Brexit: Deutschlands Wirtschaftsentwicklung ist extrem stark von der Entwicklung seiner Exportmärkte und daher von wirtschaftspolitischen Entscheidungen abhängig, die es in nur begrenztem Umfang beeinflussen kann. Es gibt also gute Gründe, warum Deutschland seine hohe Exportquote reduzieren sollte.

Aber wie soll der damit verbundene Rückgang des Absatzes deutscher Produkte ins Ausland kompensiert werden? Die Antwort auf diese Frage scheint auf den ersten Blick trivial. Die deutschen Produktionskapazitäten, die für Exportmärkte nicht mehr benötigt werden, werden einfach auf die Binnennachfrage »umgeleitet«.

Ein Blick auf die Hitliste deutscher Exportgüter zeigt aber, dass eine solche Strategie der Ausbalancierung der deutschen Wirtschaft zwar im Prinzip richtig, ihre Umsetzung jedoch alles andere als einfach ist. Wie will man die großen industriellen Produktionskapazitäten für den Binnenmarkt nutzbar machen? Prima facie jedenfalls scheint es, dass es in Deutschland nur einen begrenzten Mehrbedarf an Industriegütern wie deutschen Autos gibt.