Brüsseler Spitzen

Italienischer Futurismus oder europäische Luftschlösser

| 20. Oktober 2020
Rahulla Torabi

Mit der »zweiten Welle« der Corona-Pandemie droht das wirtschaftliche Armageddon. Eine Abkehr vom Neoliberalismus wäre dringend geboten. Doch davon ist weder in Brüssel noch in Rom etwas zu sehen.

Es ist jetzt Mitte Oktober, und das Ausmaß der unerledigten EU-Angelegenheiten ist schwindelerregend. Das Brexit-Abkommen zur Vermeidung eines Brexit-No-Deals hängt in der Luft, und niemand weiß, wann es zustande kommt und ob überhaupt; noch kein Anzeichen für einen Modus vivendi, in dessen Rahmen Großbritannien die volle wirtschaftliche Souveränität, für die es sich entschieden hat, wiedererlangen wird.

Was die Einwanderungs- und Asylpolitik betrifft, so tun alle so, als warteten sie darauf, dass Deutschland einen Plan vorlegt, den alle – auch die deutschen Wähler – akzeptieren können; nichts dergleichen ist in Sicht und wie könnte es auch sein?

Und der sogenannte Wiederaufbaufond (Recovery and Resilience Fund), auch bekannt als »Next Generation EU«, der als europäische Antwort auf Corona beworben wird, hat noch nicht einmal das sogenannte Europäische Parlament passiert. Darüber hinaus bleibt seine Rechtmäßigkeit im Rahmen der Verträge nebulös; es gibt keine Informationen darüber, wie das Geld aufgebracht werden wird, geschweige denn, wie die neuen paneuropäischen Schulden nach 2027 zurückgezahlt werden sollen (wahrscheinlich mit neuen Schulden); und – was noch wichtiger ist – es bleibt unklar, wie die Projekte, für die die Mitgliedsstaaten ihre Kontingente ausgeben wollen, überprüft werden sollen und von wem, und vor allem, wann das frische Geld endlich in den nationalen Hauptstädten ankommt.

Und nun, noch dazu, die »zweite Welle«. Frankreich und Spanien sind am härtesten betroffen, aber nicht zu vergessen sind die Tschechische Republik und Deutschland, die gerade aufholen. Wie werden die Länder sich selbst und ihre Wirtschaft retten, wenn sich die Katastrophe des ersten Halbjahres in diesem Herbst und Winter wiederholen sollte, wenn das EU-Geld frühestens in einem Jahr zur Verfügung steht?

Die nationalen Haushalte sind bereits jetzt schon weit überzogen; es scheint unmöglich, dass es eine zweite Welle der Verschuldung geben kann, um die zweite Welle der Pandemie zu bekämpfen. Auf jeden Fall will das jeder vermeiden, auch weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass es 2021 eine dritte Welle geben wird. Ohne massive staatliche Zuwendungen könnte eine zweite Welle von Lockdowns den mittelständischen Dienstleistungswirtschaften, die aus den Industriegesellschaften der 1970er und 1980er Jahre hervorgegangen sind, endgültig das Rückgrat brechen. Insolvenzen werden sich ausbreiten, und Banken werden unter Zahlungsausfällen zusammenbrechen: das wirtschaftliche Armageddon.

Was gedenken die Regierungen zu tun, eingedenk des enormen Protestpotenzials, das ausbrechen könnte, wenn sie nicht in der Lage sind, große Teile ihrer Gesellschaften vor einer Katastrophe zu schützen?

In diesem Zusammenhang ist es ebenso interessant wie deprimierend, ein Interview zu lesen, das der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte am 8. Oktober der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben hat. Zwei Punkte sind besonders bedenklich.

Erstens, wie Conte sein deutsches Publikum über den technokratischen Charakter seines nationalen Wiederaufbauprojekts beruhigt, wenn er verspricht, dass Italien »das Vertrauen, das Europa in es gesetzt hat, mit den Investitionen und Strukturreformen, die Italien jetzt braucht, zurückzahlen wird. Wenn Italien produktiver und wettbewerbsfähiger wird, wird dies allen im gemeinsamen europäischen Markt zugute kommen...«.

Nachdem er angedeutet hat, dass ein Teil der europäischen Gelder verwendet werden könnte, um die italienische Staatsverschuldung mit hohem Zinssatz durch eine europäische Staatsverschuldung mit niedrigem Zinssatz zu ersetzen, verspricht Conte eine »Steuerreform« in Form einer »vollständigen Digitalisierung und Vereinfachung unseres schwerfälligen Steuersystems«, begleitet von einer Digitalisierung der Zahlungssysteme im Allgemeinen und einer vollständigen Integration der öffentlichen Datenbanken: »Wir müssen das ganze Land verkabeln«. Nur so, meint Conte, könne nicht nur die Schattenwirtschaft, sondern auch die »regionale und sogar soziale Ungleichheit« beendet werden: »Wir müssen in unsere materielle Infrastruktur investieren, in unsere Autobahnen und Bahnverbindungen, unsere Flughäfen und Häfen modernisieren« und uns in Richtung »einer nachhaltigen Wirtschaft und erneuerbaren Energien« bewegen.

Kein Wort über das unterfinanzierte Gesundheitssystem, über eine kläglich unzulängliche öffentliche Verwaltung, über die Fähigkeiten der Arbeitnehmer und die Art von Unternehmen, die man für öffentliche Investitionen braucht, um Arbeitsplätze im Inland zu schaffen, anstatt sie zu zerstören und im Ausland neu zu schaffen. Und erst am Ende erwähnt Conte die »kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat der italienischen Wirtschaft bilden«, die, wie er einräumt, »gezielte Maßnahmen« benötigen, die er nicht näher spezifiziert, »um ihre finanzielle Basis zu verbessern«.

Zweitens erinnert Conte den Interviewer stolz daran, dass der italienische Staat zwei Jahrzehnte lang einen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet habe, indem er, abgesehen vom Schuldendienst, weniger als seine Einnahmen ausgegeben habe. Dies entsprach natürlich genau den Forderungen der Europäischen Union nach Sparmaßnahmen, deren Einhaltung, was Conte nicht sagt, ein Hauptgrund für die niedrigen italienischen Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen einschließlich des Gesundheitswesens war – zwei Prozent des BIP weniger als in Deutschland – und damit auch für die verheerenden Auswirkungen der ersten Corona-Welle. Laut Conte war es die hohe Staatsverschuldung, die die Sparsamkeit diktierte, und nicht eine gemeinsame Währung, die Italien eine unabhängige Geldpolitik verweigert und das Land damit nicht nur der Gnade der Finanzmärkte, sondern auch der »europäischen Solidarität« ausliefert.

Was wird diese Solidarität bewirken? Mit weniger Zahlungen an seine Schuldner, so Conte, und höheren Einnahmen aus der digitalisierten Steuereintreibung und der fiskalischen Eroberung der Schattenwirtschaft werde Italien in der Lage sein, mehr auszugeben. Nicht nur für Flughäfen und Häfen, sondern, so Conte, auch für Bildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und »eine weitsichtige Familienpolitik, die den Bevölkerungsrückgang beendet«.

Aber wann wird das sein? Kann eine einmalige Finanzspritze, wie hoch sie auch sein mag, die italienische Wirtschaft, die mit einer notorisch überbewerteten Währung lebt, kompensieren? Oder erwartet die italienische Regierung, dass die »Strukturreformen« (Conte), die mit dem Geld gekauft werden sollen, die italienische Wirtschaft produktiv genug machen, um den gleichen Wechselkurs wie die Volkswirtschaften Nordeuropas zu rechtfertigen?

Derzeit kann Italien mit 209 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds (Recovery and Resilience Fund) rechnen, die bei gutem Verlauf im Jahr 2021 ankommen könnten und die es in den sieben Jahren bis 2027 ausgeben muss. Dies entspricht 1,9 Prozent pro Jahr des geschätzten geschmolzenen BIP Italiens im Jahr 2020, weniger als das, was Jahr für Jahr nötig wäre, um das Gesundheitssystem auf nordeuropäischem Standard zu halten.

Doch wer erwartet wirklich, dass die technokratischen Spielzeuge, für die das meiste Geld ausgegeben wird, die Produktivität der italienischen Wirtschaft steigern werden, so dass das Land auf europäische Finanzspritzen verzichten kann, wenn sein europäischer Reichtum erschöpft und es mit dem unersättlichen Biest Euro wieder allein zu Hause sein wird?

Im Gegensatz zu Brücken und Flughäfen sind Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, öffentliche Nahverkehrsmittel, Wirtschaftsplanungsbüros und andere soziale und nicht nur physische Infrastrukturen keine einmalige Angelegenheit, sondern müssen regelmäßig bezahlt werden. Sie erfordern eine grundlegende Abkehr von den Lehren der neoliberalen Wirtschaft (»Primärüberschuss« über zwanzig Jahre!) mit ihrer Huldigung der Märkte und des Privateigentums anstelle von staatlichen und öffentlichen Einrichtungen.

Nichts davon ist in Sicht, weder in Brüssel noch in Rom.