Makroskop
Rentenkompromiss

Fakes statt Fakten: Die aus den Fugen geratene Rentendebatte

| 18. November 2025
Johannes Winkel, Bundesvorsitzender der JU und Friedrich Merz auf dem Junge Union Deutschlandtag (IMAGO / Chris Emil Janßen)

Die Junge Union spielt sich als Anwalt ihrer Generation auf und will den Rentenkompromiss zwischen SPD und Union kippen. In den Medien wird das umlagefinanzierte Rentensystem als eine die nachwachsende Generation benachteiligende Form der Altersvorsorge dargestellt. Das sind Fakes und keine Fakten.

Eine Mindestrente von 48 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens – diesen von ihrer Parteispitze mit der SPD vereinbarten Kompromiss zur Rentenpolitik lehnt die Junge Union ab. Diese „Haltelinie“ erfordert in den kommenden Jahren wegen der demografischen Entwicklung wachsende Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Darin sieht die Junge Union eine unzumutbare Belastung der nachwachsenden Generation.

Aber ohne diese Haltelinie würde die ohnehin schon hohe Altersarmut weiter anwachsen. Sogar Friedrich Merz warnt die Junge Union vor einem „Unterbietungswettbewerb“ in der Frage der Mindestrente. Das Kernproblem unseres Sozialversicherungssystems ist nicht eine Schieflage in der intergenerativen Verteilung, sondern die wachsende Entsolidarisierung und die Verschärfung der intragenerativen Ungleichheit.     

Ignoranz in den Medien

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) sieht das, wie üblich, ganz anders. Die Junge Union habe mit ihrem Widerstand gegen die Haltelinie beim Rentenniveau völlig Recht, denn, so die Leiterin des Wirtschaftsressorts Heike Göbel: “Diese Politik bedroht den Wohlstand von Jung und Alt“ (18.11. 2025).

Die damit aufgestellte Behauptung, die Absenkung des Rentenniveaus würde auch dem Lebensstandard von Rentnern fördern, ist verrückt und zynisch. Das wäre noch zu ertragen, wenn es sich um eine Außenseitermeinung handeln würde. Aber die Behauptung, wir könnten uns die solidarische Alterssicherung nicht länger leisten, hat in den Medien breite Akzeptanz.

Die Berliner Zeitung (BLZ) widmete die Wochenendausgabe vom 8./9. November 2025 einer von ihr entdeckten „Plage der heiligen Kühe“ in einem „Deutschland voller Tabus“, die auf der Titelseite als schwarz-rot-goldene Rinder präsentiert werden. Dazu zählt sie den Datenschutz, den Wehrdienst, den Föderalismus, die Migration, die Bürokratie und die Rente, also Themen, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, aber keineswegs tabuisiert werden. Die BLZ zeigt aber nicht nur mit dem Aufblasen dieses Popanzes ihre Inkompetenz. Sie hat offenbar auch keine Ahnung von den rechtlichen und ökonomischen Grundlagen unseres Sozialstaats.

Rente und Menschenwürde

Die BLZ beklagt, dass die Rentenversicherung „als unantastbar, fast als Grundrecht“ gelte. Nun ja, im Artikel 20 des Grundgesetzes wird die BRD als „demokratischer und sozialer Bundestaat“ definiert. Er gilt zusammen mit dem in Artikel 1 GG festgelegten Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde als „Ewigkeitsartikel“, den man auch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit nicht ändern kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Zusammenhang zwischen Menschwürde und Leistungen des Sozialstaats in etlichen Urteilen betont, so zuletzt im November 2019, als es die Hartz-IV-Gesetze für in Teilen verfassungswidrig erklärte. Die Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit wurde im Bürgergeldgesetz entsprechend reformiert. Aber diese verfassungsrechtlichen Bezüge der Sozialpolitik ignoriert nicht nur die BLZ, sondern auch ein großer Zeil der veröffentlichten Meinung.  

In der Rentenpolitik sollte gemäß dem Sozialstaatsprinzip das Ziel sein, allen Bürgerinnen und Bürgern ein würdevolles Leben im Alter zu ermöglichen. Es geht um die Vermeidung von Altersarmut. Dieser Verfassungsauftrag ist aus dem Blick geraten. Seit über 20 Jahren wird das Märchen erzählt, die Rentner machten sich auf Kosten ihrer Kinder und Enkel ein bequemes Leben und seien mit ihrem Anspruchsdenken mitverantwortlich für die wirtschaftliche Stagnation.

In diesem Sinn führte die rot-grüne Koalition mit ihrer Agenda 2010 den „Nachhaltigkeitsfaktor“ ein, der die Rentenhöhe nicht nur an den eingezahlten Beiträgen orientiert, sondern auch an der demografischen Entwicklung. Die Folge war eine wachsende Zahl von Rentnern und vor allem Rentnerinnen, die beim Sozialamt Wohngeld und andere Grundsicherungsleistungen beantragen müssen, weil ihre Rente selbst für das Nötigste nicht reicht. 

Keine Frage, die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) hat, wie das Sozialversicherungssystem insgesamt, große finanzielle Probleme. Aber diese Krise ist nicht durch ein nicht mehr finanzierbares Rentenniveau entstanden, sondern durch die zu Lasten der unteren und mittleren Einkommensschichten gehende Schwächung der Finanzierungsgrundlagen der GRV und der Sozialversicherung insgesamt.

Experten oder Interessenvertreter?

Die BLZ stützt sich in ihrem Artikel auf einen Bericht der zum Imperium der Deutschen Bank gehörenden Fondsgesellschaft DWS. Die hat in einer repräsentativen Befragung festgestellt, dass sich eine große Mehrheit der Deutschengroße Sorgen um ihre Altersversorgung macht. Was anderes ist angesichts der in den Medien ständig verbreiteten Tatarenmeldungen über eine nicht mehr bezahlbare Rentenversicherung und wachsenden Defiziten in der Kranken- und Pflegeversicherung auch nicht zu erwarten.

Man kann der Finanzwirtschaft nicht vorwerfen, dass sie ihr Geschäftsmodell als für alle vorteilhaft darstellt und die damit verbundenen Risiken für die Versicherten und vor allem die Volkswirtschaft verschweigt. Schon Adam Smith hat darauf hingewiesen, dass in einer Marktwirtschaft die Anbieter nicht von ihren eigenen Interessen reden, sondern von den Wohltaten, die sie mit ihren Produkten den Kunden angeblich bieten.

Aber wenn die ihrem Geschäftsinteresse folgende Behauptung, die Privatisierung der Alterssicherung sei nachhaltiger als die Sozialversicherung, von der BLZ als Tatsache bewertet wird, ist das schlechter Journalismus. Die Feststellung des Politikwissenschaftlers Martin Seeleib-Kaiser, wonach die Umlagefinanzierung der GRV von der Produktivitätsentwicklung in der deutschen Wirtschaft abgedeckt wird, wird nur kurz erwähnt und mit Hinweis auf die Entwicklung der Lohnnebenkosten als illusionär abgetan.

Die BLZ bezieht sich dabei auf die Mitglieder das Wirtschafts-Sachverständigenrat Veronika Grimm und Manfred Werding, die die wachsenden Sozialabgaben zum wesentlichen Hemmnis für Wirtschaftswachstum erklären. Sie würden sich noch im laufenden Jahr auf 42 bis 43 Prozent erhöhen. Die Frage sei nicht, „ob die Beitragssätze 50 Prozent erreichen, sondern wann“, behauptet Manfred Werding in einem Interview mit der Rheinischen Post (10.7. 2025) und wurde damit sogar in der Tagesschau zitiert.

Das sind dressierte Zahlen, weil sie sich auf die Bruttolöhne und nicht auf die Arbeitskosten insgesamt als der eigentlich relevanten Größe bezieht. Dazu gehören auch Lohnfortzahlungen, Sonderzuschläge, Kosten für Aus- und Weiterbildung, betriebliche Sozialleistungen und andere Aufwendungen. Bezieht man die Sozialabgaben auf die gesamten Arbeitskosten mit diesen Faktoren, machen sie etwa 27 Prozent der Bruttoarbeitskosten aus, was in etwa dem EU-Durchschnitt entspricht. Außerdem sind nicht die Sozialabgaben eine für die Unternehmen im globalen Wettbewerb relevante Größe, sondern die Abgabenquote insgesamt inklusive Steuern. Auch die ist in Deutschland nicht höher als in vergleichbaren Ländern.   

Mit dem 40-Prozent-Fake hat Manfred Werding schon als Leiter in der von ihm geleiteten Kommission der Arbeitgeberverbände argumentiert. Damit wird zugleich die Illusion genährt, dass mit einer Privatisierung die Ausgaben für die soziale Sicherung abnehmen. Aber sie werden dann nur auf die Privathaushalte verlagert. Die Gewerkschaften werden diese Lebenshaltungskosten bei den Tarifverhandlungen geltend machen. Von einer Senkung der Arbeitskosten durch die Privatisierung von Sozialleistungen kann keine Rede sein.

Das 40-Prozent-Limit wird von der BDA-Kommission auch mit anderen Fakes begründet. Die Jahre mit einer Überschreitung dieses Grenzwertes seien stets Krisenzeiten mit hoher Arbeitslosigkeit gewesen, was den Zusammenhang von hohen Sozialabgaben und Wirtschaftskrisen belege. Den gleichen Unsinn konnte man schon 2002 in einem in die Öffentlichkeit lancierten Kanzleramtspapier lesen, mit dem die Notwendigkeit einer Begrenzung der Sozialabgaben begründet wurde.

Mit einer solchen Behauptung würden Studierende durch Statistikklausuren rasseln, weil Ursache und Wirkung verwechselt werden. Es ist selbstevident, dass eine höhere Arbeitslosigkeit höhere Sozialausgaben mit sich bringt. Daraus einen umgekehrten Zusammenhang abzuleiten, ist dreist.

Ökonomische Zusammenhänge

Die Befürworter der kapitalgedeckten Rente leugnen grundlegende volkswirtschaftliche Zusammenhänge. Sie versteigen sich, wie zum Beispiel der Ökonom Bernd Raffelhüschen, zu der Behauptung, mit einer kapitalgedeckten Rentenversicherung würden die Renten vor morgen bereits heute finanziert.

Ebenso gut könnte man behaupten, Flugzeuge seien der Beweis für die Irrelevanz der Schwerkraft. Renten müssen immer aus der laufenden Wertschöpfung erwirtschaftet werden, egal, ob sie per Umlage und Kapitaldeckung finanziert werden. Es werden stets Beiträge erhoben, mit denen Ansprüche auf in Zukunft zu erwirtschaftende Rentenzahlungen erworben werden. Die Kapitaldeckung wird daher auch als Anwartschaftsdeckung bezeichnet. Ihr wesentlicher Unterschied besteht i m Gewährleistungsträger. Der ist bei der Umlagefinanzierung die heimische Volkswirtschaft und bei der Kapitaldeckung die Finanzwirtschaft.

Genau das wird von den Befürwortern der kapitalgedeckten Rente als deren Vorteil herausgestellt. Mit ihr könne man demografisch bedingte Steigerungen der Rentenausgaben auffangen, ohne die Versicherungseiträge erhöhen zu müssen. Damit wird behauptet, dass man die steigenden Rentenkosten für die Boomer-Generation, anderen Volkswirtschaften aufbürden könne.

Das wäre, wenn überhaupt, nur dann ein diskussionswürdiges Argument, wenn Deutschland das einzige Land mit einem demografischen Problem wäre. Aber davon kann keine Rede sein, weil so gut wie alle großen Volkswirtschaften mit Ausnahme der USA mit einem wachsenden Altenquotienten umgehen müssen, allen voran China und Japan. Von denen zu erwarten, sie sollten unsere Renten finanzieren, ist lächerlich.

Außerdem ist Deutschland selbst zum Anlagefeld ausländischer Pensionsfonds geworden. Der Überhitzung des Immobilienmarkts und die für die meisten Erwerbstätigen kaum noch bezahlbaren Mieten in den Metropolen haben hier eine ihrer Wurzeln. Die Alterssicherung einer Volkswirtschaft von den Unwägbarkeiten des Kapitalmarkts abhängig zu machen ist eine riskante Spekulation und keine verantwortungsbewusste Option, wenn es um die Absicherung sozialer Risiken, geht. Der große Finanzcrash von 2008 sollte das eigentlich hinreichend belegt haben.[1]

Teure Privilegien

Mit der Behauptung, die Alterssicherung sei in Deutschland ein politisches Tabu, liegt die BLZ nicht völlig falsch. Aber eine heilige Kuh ist nicht, wie sie behauptet, die solidarische Sozialversicherung, sondern die weder ökonomisch noch sozial begründbaren Privilegien ganzer Berufs- und Einkommensgruppen:

  • Ein Drittel der 5,4 Millionen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sind Beamte. Sie zahlen nicht in die Sozialkassen ein und haben eine deutlich bessere Altersversorgung als Angestellte. Sie schwankt je nach Dienstalter zwischen 50 und 71 Prozent des Gehalts in den letzten Dienstjahren. Die Dienstbehörden tragen außerdem für Pensionäre 70 Prozent der Behandlungskosten in der medizinischen Versorgung, während die Angestellten 50 Prozent ihrer Krankenkassenbeiträge selbst zahlen müssen.
  • Die Beitragsbemessungsgrenze in der Sozialversicherung sorgt für mit steigendem Einkommen abnehmende Beitragssätze. Wer zum Beispiel 10.000 Euro pro Monat verdient und in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geblieben ist, zahlt einen nur halb so hohen Beitragssatz wie die Pflichtversicherten (Lesetipp).
  • Etliche Berufsgruppen haben eigene Versorgungswerke und zahlen gar nicht in die Sozialkassen ein. Dazu gehören vor allem Ärztinnen und Ärzte, Anwälte, Steuerberater und Führungskräfte in Unternehmen.

Wären alle Erwerbstätigen Pflichtmitglieder im sozialen Sicherungssystem, wie es sogar in der nicht als sozialistisch bekannten Schweiz üblich ist, wären die Sozialabgaben deutlich niedriger. Allein in der GKV könnten die Beitragssätze nach vorliegenden Modellrechnungen um über drei Prozentpunkte niedriger sein, wenn sie einer Bürgerversicherung wäre. Aber entsprechende Reformen sind gerade für diejenigen ein Tabu, die das Menetekel einer durch die hohen Sozialabgaben verursachten wirtschaftlichen Stagnation beschwören.

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[1] Näheres bei Adam Tooze (Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben. München 2018, Siedler) und Joseph Vogl (Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010, Diaphanes).