Editorial

Der strangulierte Staat

| 18. Dezember 2023
IMAGO / Frank Ossenbrink / YAY Images

Liebe Leserinnen und Leser,

willkommen in einer neuen Woche, die noch einmal im Fokus des folgenreichen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse steht. Das Urteil hat mindestens die Regierung, eher aber die Republik in eine Haushaltskrise gestürzt, die möglicherweise in eine Wirtschafts- und Transformationskrise führen wird. Damit, so der Jurist Andreas Fisahn, produziert es Widersprüche zu Anforderungen, die das Gericht selbst an Gesetzgeber und Regierung formuliert hat – etwa mit seinem Klimaschutzurteil.

Dass auch eine streng ausgelegte Schuldenbremse in weiten Teilen der Bevölkerung dennoch Zuspruch findet, mag auch in der Vorstellung eines durch Steuereinnahmen fixierten Ausgabenrahmens liegen, dessen Überschreitung künftige Generationen belaste. Die Folge sind politische Scheindebatten, die die finanztechnische Problematik und gesellschaftspolitische Brisanz der Schuldenbremse verkennen und diese für Zwecke einer Vermögenssteuer mobilisieren.

Die Schuldenbremse meuchelt die darbende Wirtschaft vollends. Einige mögen sich erinnern: Das letzte Mal, dass in Deutschland der Staatshaushalt nicht atmen durfte, war unter Reichskanzler Brüning – der dadurch die Demokratie erstickte.

Diese und weitere Themen finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • Bei wem sich der Staat verschulden soll Schuldenbremsen sind viel zu plumpe Instrumente – vor allem, wenn sie als reine Ausgabenbremsen angelegt sind. Werner Vontobel
  • Ist Zinszahlung ein Argument gegen Staatsverschuldung? Links und Rechts eint die Vorstellung eines durch Steuereinnahmen fixierten Ausgabenrahmens. Bei steigender Zinslast komme der Staat nicht um Steuererhöhung herum. Links ist, wer für Steuererhöhungen, rechts ist, wer dagegen ist: Eine politische (Schein-)Debatte. Erik Jochem
  • Mehr Schuldenbremse, weniger Klimaschutz Mit seinem Urteil zur Schuldenbremse legt das Bundesverfassungsgericht die Regeln im Grundgesetz sehr streng aus ‒ und produziert damit Widersprüche zu Anforderungen, die das Gericht selbst an Gesetzgeber und Regierung formuliert hat. Andreas Fisahn
  • Ist Selenskyj am Ende? Die westliche Öffentlichkeit kennt das Bild einer in ihrem unerschütterlichen Engagement für einen totalen Sieg über Russland vereinten Ukraine. Zuletzt hat dieses Bild Risse bekommen – und es gibt Rufe nach einem Regimewechsel. Thomas Fazi
  • Rechtsruck: Seltsam vertraut Warum neoliberaler Stress Wähler dazu treibt, sich für die einfachen Lösungen des Rechtspopulismus zu entscheiden. Dirk Bezemer
  • Ein marktradikaler (Alb)Traum Quinn Slobodians Werk „Kapitalismus ohne Demokratie“ deckt die Widersprüchen zwischen marktradikaler Theorie und Praxis auf, indem es auf einen wenig beachteten Safe Space libertärer Blütenträume blickt. Malte Kornfeld
  • Türkei: 20 Jahre Krisen, Kredite und Klientelismus Erdogan scheint fest im Präsidentensattel zu sitzen. Das liegt auch am Versagen der Opposition und ihrer Ökonomen. Denn die Wirtschaftsgeschichte der letzten 20 Jahre ist von miteinander in Konflikt stehenden Dynamiken geprägt. Ilhan Dögüs
  • COP28: Kolumbien, der neue Schrittmacher Kolumbien ist einem globalen Pakt zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffe beigetreten. Dass dieser Schritt durch einen großen Exporteur von Erdöl und Erdgas erfolgt, ist historisch – und könnte die Wirtschaft des Landes endlich diversifizieren. Fadhel Kaboub