Ist Zinszahlung ein Argument gegen Staatsverschuldung?
Links und Rechts eint die Vorstellung eines durch Steuereinnahmen fixierten Ausgabenrahmens. Bei steigender Zinslast komme der Staat nicht um Steuererhöhung herum. Links ist, wer für Steuererhöhungen, rechts ist, wer dagegen ist: Eine politische (Schein-)Debatte.
Wenn es um Staatsverschuldung geht, herrscht auf beiden Seiten des politischen Spektrums Einigkeit: Zinszahlungen des Staates schränken dessen Ausgabenfähigkeit ein. Was für Zinsaufwendungen gezahlt wird, fehle für Realausgaben. Für die Linke bedeutet dies, dass sie zur Erhaltung des politischen Gestaltungsspielraums Steuererhöhungen für Reiche verlangt. Für die Rechte, dass tatsächliche oder zu substituierende Staatsverschuldung zu Steuererhöhungen führt – so, wie es die Linke mit ihrer Forderung nach Steuererhöhungen ja geradezu vorexerziert. Wegen des angeblich mit ihr in letzter Konsequenz verbundenen Zugriffs auf das sauer verdiente Geld der Bürger (und insbesondere der konservativen staatlichen Professoren, Richter und Beamten) sei Staatsverschuldung deshalb des Teufels.
Links und Rechts eint also die Vorstellung eines durch Steuereinnahmen fixierten Ausgabenrahmens, weshalb der Staat bei steigender Zinslast nicht umhinkönne, den Ausgabenrahmen durch Steuererhöhung auszudehnen. Links ist, wer für Steuererhöhungen, rechts ist, wer dagegen ist: Politische (Schein-)Debatten auf der Höhe der Zeit.
Falls Sie sich der einen oder der anderen Seite zugehörig fühlen, halten Sie es dennoch mit Mark Twain: Wenn du feststellst, dass du derselben Meinung bist wie die Mehrheit, ist es Zeit scharf nachzudenken.
Stellen wir also fest, dass staatliche Ausgaben für Altverschuldung (die Summe der in den jeweiligen Haushaltsjahren eingegangen Neuverschuldung) in der öffentlichen Diskussion (zu Recht) keine Rolle spielen. Hier ist nie die Rede davon, dass die Rückzahlungsfähigkeit des Staates davon abhängen könnte, dass er genügend Steuern einnimmt.
Tatsächlich hat sich der Bund zur Sicherstellung jederzeitiger Liquidität in § 20 Bundesbankgesetz einen kostenlosen und betragsmäßig unbegrenzten Überziehungskredit bei der Deutschen Bundesbank eingeräumt. Dadurch ist die Rückzahlungsfähigkeit des Bundes für fällig werdende Kredite völlig unabhängig vom Stand der Steuereinnahmen jederzeit gewährleistet. Insolvenzrechtlich gesprochen (auch wenn es kein Insolvenzrecht für Staaten gibt) ist der Zustand der Zahlungsunfähigkeit für die Bundesrepublik Deutschland, solange sie bei Eurokrediten bleibt, generell ausgeschlossen.
Um dem im Eurosystem verankerten Verbot der Staatsfinanzierung Rechnung zu tragen, ist der Bund indes gehalten, den Überziehungskredit an die Bundesbank zurückzuzahlen. (Die Bundesbank fungiert sinngemäß als Tochterunternehmen des Bundes, dessen Gewinne dem Bund zustehen, deren Verluste ihm aber nicht zugerechnet werden).
Bemerkenswerter Weise gilt also die Möglichkeit der Zahlungsanweisung aus Überziehungskredit der Bundesbank – die nebenbei die politische Rhetorik von Steuereinnahmen als Vorrausetzung für Staatsausgaben als völlige Ente entlarvt – nicht als verbotene Staatsfinanzierung. Dies belegt eindrücklich, dass es bei modernen staatlichen Geldsystemen funktionale Gesetzmäßigkeiten gibt, die entgegen aller Ideologie selbst im deutsch geprägten Eurosystem nicht außer Kraft gesetzt werden können. Draghis "Whatever it takes" gehörte in diese Kategorie: Die Zentralbank dominiert die Märkte und garantiert die Währung. Die Frage ist nur, welche Interessen sie auf diesem Wege bedient.
Die "Rückzahlung" des Überziehungskredits folgt einer einfachen Logik: Was nicht durch Steuereinnahmen gedeckt wird, erfordert "Staatsverschuldung". Die Staatsausgaben sind da aber (jedenfalls idealtypisch) schon längst getätigt.
Was übrigens änderte sich, wenn das Delta zwischen Staatsausgaben und Steuereinnahmen nicht durch "Staatsverschuldung" – die Einwerbung von Zentralbankreserven durch den Bund gegen Zinszahlung – ausgeglichen würde? Im Einzelfall tatsächlich gar nichts, außer dass die nicht insolvenzfähige Bundesbank den Kredit ausbuchte. Die reale Welt bliebe völlig unverändert.
Zwar handelte es sich möglicherweise um im Eurosystem verbotene Staatsfinanzierung. Dann allerdings hätte die Europäische Zentralbank bereits gegen dieses Verbot verstoßen, als sie der irischen Notenbank als Teil des Eurosystems in der Eurokrise erlaubte, Schulden des irischen Staates statt Rückzahlung als aktuellen Verlust zu verbuchen.
Wie ernst sind vor diesem Hintergrund vermeintliche Schuldenquoten der Eurostaaten, wenn es real nur eines Federstriches der Zentralbanken bedürfte, alle Staatsschulden auf ein beliebiges Niveau zu senken, ohne dass dies – bis auf die Tatsache, dass keine Nachfrage für liquide Mittel mehr bestünde – irgendwelche Auswirkungen in der realen Welt hätte? Wer im (Über-)Bestand liquider Mittel etwa hinsichtlich der Durchsetzung der Zinsvorstellungen der EZB für ihre Kredite ein Problem sähe, müsste einräumen, dass staatliche Schuldeninstrumente offenbar, indem sie Liquidität in Wertpapiere umwandeln, eine ganz andere Bedeutung als die der Geldbeschaffung für den Staat haben. Ganz zu schweigen davon, dass staatliche festverzinsliche Wertpapiere wegen ihrer oben beschriebenen völligen Risikolosigkeit den Anker des Wertpapierssystems bilden.
Um auf die Altverschuldung zurückzukommen: Das Bedienen von Altverbindlichkeiten über neue Staatsverschuldung stellt kein Problem dar, weil die Schuldenbremse nur für die jeweils aktuelle Neuverschuldung gilt. Heimlich still und leise wird also die Zahlung der Altverschuldung über das Anwachsen der Inanspruchnahme des Überziehungskredits und in der Folge über erneute "Staatsverschuldung" finanziert. Die Altschulden werden übergewälzt.
Warum stellen staatliche Zinszahlungen ein Problem dar?
Wenn es seit Bestehen der Bundesrepublik so ist, dass der öffentliche Schuldenberg (das Nettogeldvermögen des Privatsektors) analog zur Expansion der Wirtschaft wächst und die Hauptforderungen aus Krediten (Staatsanleihen) mit neuen Krediten refinanziert werden, warum stellen dann staatliche Zinszahlungen ein Problem dar? Stehen doch die oben für die Bezahlung und Überwälzung der Hauptforderung dargelegten Instrumente im selben Maße (und erst Recht) für Zinszahlungen zur Verfügung.
Das Problem besteht darin, dass im Rahmen der Schuldenbremse, die die Möglichkeit aktueller Neuverschuldung prozentual an die Höhe der Steuereinnahmen koppelt und damit für den laufenden Haushalt einen festen relativen Ausgabenrahmen vorgibt, fällige Zinszahlungen wegen der Starrheit des Haushaltsrahmens im Haushaltsjahr tatsächlich auf Kosten sonst möglicher Realausgaben gehen. Innerhalb des starren Haushaltsrahmens der Schuldenbremse ist nämlich insbesondere die "Verschuldensgrenze" ebenfalls starr.
Damit entsteht aus konservativer Weltsicht das Paradox, dass die Schuldenbremse, die Steuererhöhungen verhindern soll, in einer durch die Zinspolitik der EZB ausgelösten Hochzinsphase (die Bundesregierung muss tendenziell eine höhere Verzinsung als die EZB für Einlagen anbieten) den Staat zur Bewältigung seiner Ausgaben objektiv zu Steuererhöhungen zwingt. Da die aber tabu sind, bleiben nur von jeder konjunkturellen Folgeerwägung abgekoppelte Ausgabenkürzungen. Die Schuldenbremse meuchelt die darbende Wirtschaft vollends (was sogar der IWF sinngemäß bemängelt).
Für die Linke gilt, dass sie die finanztechnische Problematik und gesellschaftspolitische Brisanz der Schuldenbremse nicht erkennt.
Ohne Schuldenbremse, also bei freiatmendem Budget, sind Zinsniveaus ebenso wenig ein Problem wie die Altverschuldung. Dass man große Vermögen oder noch besser Einkommen höher besteuern kann und sollte, steht auf einem anderen Blatt. Wer die Schuldenbremse für Zwecke einer Vermögenssteuer mobilisiert, spielt mit dem Feuer.
Als die Demokratie erstickte
Das letzte Mal nämlich, dass in Deutschland der Staatshaushalt nicht atmen durfte, war unter Reichskanzler Brüning, der dadurch bekanntlich die Demokratie erstickte. Hitler, durch Brünings Austerität an die Macht getragen, war klug genug, sich von ihr zu verabschieden. Die AfD wie auch alle anderen rechten Bewegungen in Westeuropa sind in historischer Analogie ein Kind der Eurokrise und der nationalen Schuldenbremsen. Ein Ende der Schuldenbremse ist von ihr nicht zu erwarten. Sie ist ihr bestes Pferd im Stall, wenn es darum geht, Sündenböcke zu bezichtigen.
Der grundsätzliche Fehler in der Debatte über staatliche Finanzen liegt in der Annahme, der Staat müsse Zinszahlungen über Wirtschaftswachstum "erwirtschaften".
Richtig ist nur, dass staatliche Ausgaben – eigentlich Nettoausgaben: Ausgaben minus Steuereinnahmen – kontrazyklisch genau dann der entscheidende Faktor für Wirtschaftswachstum sind, wenn die Konjunktur gemeinsam mit den Steuereinnahmen lahmt. Insofern schafft "Verschuldung = Nettoausgaben" die Voraussetzung für die Verbesserung von Steuereinnahmen und der am Maßstab des Privatsektors gemessenen Schuldentragfähigkeit des Staates.
Das aber hat mit realwirtschaftlicher Tätigkeit des Staates nichts zu tun – die Analogie zum Privatsektor und dem Schuldenrating von Unternehmen ist völlig verfehlt. Für die Rückführung des Zentralbankkredits muss der Staat anders als ein Unternehmen für dessen Kreditrückzahlung keine realen Leistungen als Kaufpreis für Geld erbringen. Für den Staat geht es nur darum, mittels Kreditgeschäft liquide Zentralbankreserven, die als Folge seiner Zahlungsanweisungen an die Zentralbank ständig neu entstehen, in während ihrer Laufzeit als solche illiquide staatliche Wertpapiere umzuwandeln und so an sich zu ziehen.
Anders als jedes Unternehmen wälzt der Staat zur Bestreitung seines über die Zufallsgröße Steuereinnahmen (auch das nur ein Rückfluss von Zentralbankreserven) hinaus bestehenden Geldbedarfs ständig nur das Geld seiner Zentralbank um. Mit anderen Worten: Der (bundes)staatliche Sektor agiert in der von ihm selbst geschaffenen und verwalteten Geldsphäre, sodass sich alle Analogien zur Sphäre des Privatsektors – Hausfrau oder Unternehmen – grundsätzlich verbieten.
Der Staat arbeitet nicht für Geld – er hat es schon und lässt dafür bei richtiger Weichenstellung andere zum Zwecke öffentlicher Wohlfahrt arbeiten. Wer's nicht glaubt, fragt Ludwig Erhardt.