Die Tyrannei der Gene
Der Bioethiker und Wissenschaftsphilosoph James Tabery kritisiert in seinem Buch Tyranny of the Gene eine fehlgeleitete Präzisionsmedizin, die mit ihrer Suche nach der „Sprache Gottes“ ein dysfunktionales Gesundheitssystem schafft.
Gesundheit ist ein Thema, das die meisten bewegt, wenn es die eigene oder die der Nächsten betrifft. Und natürlich, wenn es um die Kosten geht. Denn die Ausgaben für Produkte und Dienstleistungen, die unter dem Titel „Gesundheit“ rubriziert werden, stiegen in den Industrieländern während der letzten Jahrzehnte nicht nur absolut, sondern auch relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Deutschland macht davon keine Ausnahme. Dort wuchs 1998–2022 der Anteil des Gesundheitssystems von 10 auf 12,7 Prozent. Wenn man berücksichtigt, dass das BIP sich im selben Zeitraum nahezu verdoppelte, bedeutet das einen absoluten Anstieg um 150 Prozent. Als Ursachen für steigende Kosten des Gesundheitswesens werden eine steigende Lebenserwartung und der medizinisch-technische Fortschritt genannt. Die Lebenserwartung nahm im selben Zeitraum um weniger als 10 Prozent zu. Der medizinisch-technische Fortschritt muss dramatisch gewesen sein ‒ bei noch dramatischer sinkenden Grenzerträgen. Zudem ist unklar, ob die Zunahme der Lebenserwartung tatsächlich nur eine Frucht der Medizin ist. In Schweden, wo die entsprechenden Ausgaben 2022 nur bei 10,7 Prozent des BIP lagen, ist die Lebenserwartung höher als in Deutschland.
In der internationalen Rangliste der Gesundheitskosten steht Deutschland unter den europäischen Nationen an der Spitze, wird jedoch noch übertroffen von den USA, wo sie 2022 bei 16,6 Prozent des BIP lagen, also schon ein Sechstel davon in Anspruch nahmen. Eine besondere Note erhält diese Zahl nicht nur dadurch, dass dort die Lebenserwartung ‒ bei extremer sozialer Spreizung ‒ sogar noch deutlich unter der in Deutschland liegt. Auch ein großer Teil der Bevölkerung hat, da nicht ausreichend krankenversichert, an diesem teuersten Gesundheitssystem kaum einen Anteil. Seine Spitzenleistungen hält dieses System also vor allem für die wohlhabenden Schichten bereit.
James Tabery, Professor für Medizinethik an der University of Utah, beschreibt in seinem Buch Tyranny of the Gene: Personalized Medicine and its Threat to Public Health Züge der Medizin, die dieses dysfunktionale Gesundheitssystem prägt, in ihrer Genese. Er arbeitet Trends heraus, deren Fortsetzung sie noch weiter von den Bedürfnissen der breiten Bevölkerungsschichten zu entfernen droht. Diese Entwicklung, so Taberys These, folgte keinesfalls allein einer immanent wissenschaftlichen Logik, sondern ist auch Resultat von starken Unternehmensinteressen, medialen Hype und davon nicht unberührt gebliebenen politischen Entscheidungen.
Wechselwirkung von Genom und Umwelt
Die Genetik ist für Tabery kein Neuland. Ein früheres Werk mit dem Titel Beyond Versus: The Struggle to Understand the Interaction of Nature and Nurture befasst sich detailliert mit der Wechselwirkung von Genom und Umwelt. Das neue Buch ist keine trockene Abhandlung wie das vorige, sondern bettet die Argumentation und die in Anmerkungen dokumentierten Fakten in eine spannende und durch Schlüsselepisoden angereicherte Erzählung ein. Es liest sich wie ein Wissenschaftskrimi und steht damit in einer Tradition des englischsprachigen Sachbuchs, zu der sich im Deutschen wenige Pendants finden. Dass Taberys Buch außer den Anmerkungen auch ein Verzeichnis der zitierten Literatur und einen reichhaltigen Index umfasst ‒ beides Dinge, deren Fehlen in deutschen Sachbüchern immer wieder verärgert ‒, gehört zu den Standards jener Tradition.
Die beiden Hauptlinien der Erzählung beziehen sich auf zwei wissenschaftliche und medizinische Traditionen: hier die einer Medizin, die nach den Lebensbedingungen der Menschen fragt, dort die einer biomedizinischen Medizin, die Ursachen von Erkrankungen und Ansätze zur Heilung vor allem im Genom und seinen Produkten, den Proteinen sucht. Tabery blickt zurück auf die erstere Tradition, indem er einige ihrer bedeutenden Leistungen hervorhebt: unter anderem das Anfang der 1970er in vielen Ländern erfolgte Verbot des weltweit und in manchen Regionen bis heute eingesetzten Insektizids DDT auf Druck der Umweltbewegung, die 1962 durch Rachel Carsons Buch Silent Spring einen entscheidenden Impuls erhalten hatte.
Doch er macht ebenso klar, dass es auf diesem Gebiet noch viel zu tun gibt: Die hohe Prävalenz von Erkrankungen wie Diabetes Typ2 und Asthma in bestimmten Umgebungen deutet darauf hin, dass deren Ursachen vor allem in der psychosozialen Situation sowie den Wohn- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen zu suchen sind. Tabery zitiert Richard Durbin, ehemals Senator für Illinois: Man müsse aus der City von Chicago nur drei Stationen auf der Blue Line fahren, einer S-Bahnlinie, um in der Umgebung ein Abfallen der Lebenserwartung um neunzehn Jahre registrieren zu können.
Diese Diskrepanz ist so wenig durch genetische Faktoren zu erklären wie auch der Sachverhalt, dass in einer indigenen Gemeinschaft die Prävalenz von Diabetes Typ2 erst steil anstieg, nachdem man ihr die Möglichkeit entzogen hatte, ihre Nahrung selber zu produzieren, um sie stattdessen mit hochverarbeiteten, denaturierten Lebensmitteln zu versorgen. Auch steigen weltweit die Raten von Krebs und neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson weiter an, genauso wie Depression, Erschöpfungs- und Angstzustände. Und das trotz aller biomedizinischen Fortschritte.
Molekulargenetik: Schlüssel zum Verständnis des Lebens?
Eine zentrale Rolle in Taberys Buch spielt die National Children’s Study, deren Durchführung der US-Kongress im Jahr 2000 beschloss. Es war geplant, eine insgesamt 100.000 Kinder umfassende, über die Regionen der USA verteilte und alle Schichten einbeziehende Kohorte vom Mutterleib bis mindestens zum 20. Lebensjahr in der jeweiligen Umwelt zu beobachten. Man hoffte, Aufschluss zu erlangen über Faktoren der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie über Bedingungen ihrer Gesundheit bis ins Erwachsenenalter. Doch diese Studie wurde nie im geplanten Umfang durchgeführt. Vielmehr wurde sie 2014 eingestellt, nachdem sie Jahre unterfinanziert blieb und durch die Leitung der NIH ausgebremst und in ihrem Zuschnitt verfälscht worden war. Einige ihrer führenden Wissenschaftler waren schon 2008 ausgetauscht worden.
Mehr als nur den Hintergrund dieses Niedergangs bildete der Aufstieg der Molekulargenetik. Seit den 1950er Jahren hatte man die Struktur des Erbmaterials in Gestalt der Doppelhelix aus ineinander verwundenen Strängen von DNA entdeckt und den „genetischen Code“ als allzu einfaches, lineares Schema beschrieben. Man glaubte, den Schlüssel zum Verständnis des Lebens und damit auch zur Heilung aller Leiden finden zu können, indem man das menschliche Genom „entschlüsselt“. Das war das erklärte Ziel des Human Genome Project (HGP) gewesen, das 1993 initiiert und 2003 abgeschlossen wurde. Man sprach vom zu enthüllenden Heiligen Gral, der das Geheimnis des Lebens enthält. Francis Collins, der damals als Leiter des HGP und von 2009 bis 2021 als Direktor der NIH wesentlichen Anteil an der Deformation und schließlich der Strangulation der National Children’s Study gehabt hatte, glaubte The Language of God lesen zu können.
Das HGP innerhalb von zehn Jahren abzuschließen war möglich, weil eine sich stürmisch entwickelnde Sensor- und Computertechnik immer effizientere, billigere und leichter zu handhabende Maschinen zur Gensequenzierung entwickelte. Die Sequenzierung des eigenen Genoms rückte seither in die finanzielle Reichweite vieler Individuen und in den Kostenrahmen öffentlicher Programme.
Tabery charakterisiert diesen Schritt mit der Kapitelüberschrift „Genomics Finds Its Hammer“. Damit spielt er auf the law of the instrument an, dem zufolge Leute, die nur einen Hammer haben, eben überall nur Nägel sehen. Die National Children’s Study sei diesem Gesetz zum Opfer gefallen. Die Führung der NIH sei der Verlockung erlegen, die sowohl von der kostengünstigen Verfügbarkeit und leichten Anwendbarkeit der Sequenzierungstechnik ausgegangen ist als auch von der Illusion, dass man die Ursachen der wichtigsten Erkrankungen schon herausfinden werde, wenn man Millionen von menschlichen Genomen sequenziert hätte. Vor allem versprach man, jedem Patienten individuell die exakt auf sein Genom und sein dort sitzendes Leiden angepasste Medizin verabreichen zu können. Das erschien alles ungleich leichter und schneller zu bewältigen, als die Durchführung einer 100.000 Probanden umfassenden repräsentativen Studie über zwei Jahrzehnte.
Ausgangspunkt der Präzisionsmedizin, wie jenes Konzept dann genannt wurde, war die Beobachtung gewesen, dass manche Patienten bedingt durch genetische Merkmale bestimmte Medikamente nicht vertragen oder Medikamente bei ihnen unwirksam sind. Doch die Hoffnung auf eine genomische Präzisionsmedizin als universelles Modell erwies sich als trügerisch. Die von Francis Collins erträumte medizinische Landschaft, „wo wir ein genbasiertes Designermedikament für fast jede Krankheit haben, die Sie sich vorstellen können“, liegt fern der Realität.
Wenn Gene gar nicht so wichtig sind
Grundsätzlich scheitert diese Vision schon daran, dass das lineare Modell der Proteinsynthese die biologischen Prozesse unzureichend beschreibt. Weder vermag die DNA ohne die Aktivität der lebenden Zelle aus sich heraus überhaupt etwas, noch ist ein Organismus durch sie hinreichend bestimmt. Kritiker des HGP wie der Evolutionsbiologe Richard Lewontin hatten schon zu Beginn auf dessen konzeptionelle Mängel hingewiesen und sollten zunehmend bestätigt werden. Obwohl es eine geringe Zahl von seltenen Erkrankungen gibt, die sich durch wenige genetische Marker charakterisieren lassen, sieht die Gesamtlage, wie Tabery ausführt, überwiegend anders aus:
"Das Bild, das sich innerhalb von nur fünf Jahren nach Abschluss des Humangenomprojekts ergab, war, dass bei den häufigsten Krankheiten, die die Gesellschaft am stärksten belasten, die 'wichtigsten beitragenden Gene' gar nicht so wichtig waren."
Während die ebenso hochtrabenden wie weit gestreuten Erwartungen an eine genomische Präzisionsmedizin unerfüllt blieben, leiden die Konsumenten der wenigen Medikamente, die jene bisher hervorbrachte, an der begrenzten Wirksamkeit und horrenden Kosten, die sich pro Jahr auf fünf- und sogar sechsstellige Beträge summieren. In den USA, wo viele nur über einen lückenhaften Versicherungsschutz verfügen, kann eine Behandlung mit solchen Medikamenten zur Armutsfalle werden. Hinzu kommt, dass die „Präzisionsmedikamente“ oft überraschende Nebenwirkungen haben: oft genug erweist sich ihr Einsatz nach Phasen der Hoffnung und astronomischen Kosten als vergeblich.
Taberys Buch liefert eine profunde Auseinandersetzung mit einem hochaktuellen Thema. Seine Warnungen sind nicht nur an die USA adressiert. Auch in Europa fällt es schwer, sich der Faszination einer Präzisionsmedizin zu entziehen, die zuvor nie gesehene Heilerfolge erzielen soll. Die Europäische Kommission steigerte ihre einschlägigen Bemühungen, indem sie im Oktober 2023 ein European Partnership for Personalised Medicine gründete, um die Forschung voranzubringen und ihre Ergebnisse schneller in die Gesundheitssysteme zu integrieren. Die EU-Direktorin Irene Norstedt singt das Hohe Lied anschwellender Datenströme, die man nur anzueignen brauche, um sie durch „constantly improving IT tools“ nutzbar zu machen. Schon das Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz und die begleitende Datenstrategie der Europäische Kommission von 2020 propagierten den Glauben, dass man nur genügend Daten sammeln und KI einzusetzen brauche, um wissenschaftliche, technische und medizinische Durchbrüche zu erzielen, die sich bruchlos in gesellschaftlichen Fortschritt und verbesserte Gesundheit umsetzen ließen.
“A fool with a tool is still a fool”, weiß ein Sprichwort. Der durch die Europäische Kommission kultivierte „tool-foolism“ leitet im Verein mit dem manischen Dataismus nicht nur horrende Summen in Vorhaben, die keine Verbesserung der Volksgesundheit zur Folge haben werden. Er macht auch ein reduktionistisches Modell des Menschen zur Norm und im Rahmen einer ausgreifenden Erfassung genetischer Daten und von allgegenwärtigen gentechnischen Tests alle zu ‚präsymptomatischen‘ Patienten. Es entsteht das Bild des Menschen, der allein durch seine Gene determiniert und durch deren Defekte bedroht wird. Die Belastungen der physischen wie auch sozialen Umwelt werden ebenso ausgeblendet wie die Ressourcen des Selbst, die helfen können, Krankheiten zu widerstehen.
Die wesentlichen Faktoren der menschlichen Gesundheit liegen in der physischen Umwelt, der psychosozialen Situation und der durch beide geprägten Lebensweise. COVID-19 hatte unter anderem dort eine erhöhte Sterblichkeit zur Folge, wo die Volksgesundheit bereits zuvor stark gefährdet war: in Oberitalien, Nordindien und Peru etwa durch eine extreme Feinstaubbelastung. In einigen europäischen Regionen, darunter auch in Schweden, wo man keine harten Maßnahmen ergriff, gab es keine merkliche Übersterblichkeit durch COVID-19.
Die hohe Bedeutung des allgemeinen Gesundheitszustands, insbesondere einer ausreichenden Versorgung mit Mikronährstoffen wie Vitamin-D, arbeitet der Mikrobiologe Michael Nehls in seinem Buch Herdengesundheit heraus. So verdichten sich zum Beispiel gegenwärtig die Hinweise darauf, dass für Parkinson, dessen ansteigende Prävalenz ebenso wie die von Alzheimer durch die Alterung der Bevölkerung nicht zu erklären ist, weniger die Gene, sondern vorwiegend Chemikalien ‒ insbesondere Trichloroethylen und seine Verwandten ‒ verantwortlich sind.
Für kenntnisreiche und aufmerksame Leser sei noch eine Aufgabe formuliert: Taberys Buch enthält einen kleinen Fehler hinsichtlich eines biologischen Sachverhalts. Die erste Meldung der genauen Stelle an mich per E-Mail belohne ich mit einem Exemplar meines letzten Buches.
James Tabery: Tyranny of the Gene: Personalized Medicine and its Threat to Public Health. New York NY: Alfred Knopf, 2023.