Editorial

Nach Trump

| 10. November 2020
istock.com/Flaggenwelt

Liebe Leserinnen und Leser,

Trump ist weg, Corona bleibt – aber was bedeutet das für eine progressive Politik und den Aufschwung der Wirtschaft? Darüber und einiges mehr wird in dieser Ausgabe zu reden sein.

Die Geister, die ich rief…

Donald Trump wird als Witzfigur in die Geschichte eingehen. Doch der Protest, der in den über 70 Millionen Stimmen für ihn zum Ausdruck kommt, ist kein Witz, so das Fazit von Heiner Flassbeck zum Wahlsieg von Joe Biden. Dennoch werde man versuchen, nach dem Alptraum ganz schnell zum politischen business–as-usual zurückzukehren.

Doch das wird kaum möglich sein. Offenbar hat Trump mit seiner Anti-Establishment-Position vielen Menschen die Hoffnung gegeben, von der politischen Spitze her das seit vielen Jahrzehnten erstarrte westliche System fundamental umzugestalten. Es geht dabei um Gleichheit. In den USA bedeutet das nicht einmal Umverteilung. Es geht lediglich um die einfache Frage, ob nur einen Bruchteil der sozialen Mobilität wieder möglich ist, den der amerikanische Traum dem Tellerwäscher einst versprach.

Doch machen wir uns nichts vor, schreibt Flassbeck, selbst wenn Joe Biden wirklich gewillt wäre, etwas zu lernen und sich für die Abgehängten einzusetzen, es wäre ein Kraftakt ohnegleichen.

Denn auch wenn Trump nun abgewählt sein mag, es bleiben Strukturen, Narben, Verwerfungen, die nicht so einfach verschwinden. Amerikas Gesellschaft ist tief gespalten. Die Welt nach Trump ist nicht mehr dieselbe wie vor Trump. Und vor allem – die Demokraten konnten keine Senatsmehrheit erreichen. Ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus ist sogar geschrumpft. Das hat nicht zuletzt Konsequenzen für das Wahlprogramm Joe Bidens, das den Abbau der Ungleichheit, Umweltschutz und öffentliche Investitionen betont hatte. Geteilte Regierung aber heißt Blockade- und Obstruktionspolitik der Republikaner. Schon 2010 verloren die Demokraten ihre Kongressmehrheit. Es folgten Sparpolitik, Stagnation und »Deaths of Despair« (siehe hierzu das Buch unter diesem Titel von Anne Case und Angus Deaton).

Das Gespenst der Pandemie

Überhaupt scheint der Aufschwung der US-Wirtschaft jetzt gänzlich ins Stocken geraten zu sein. Die neue fiskalpolitische Unterstützung droht sich weiter zu verzögern – während die tobende Pandemie auch in Amerika wieder an Fahrt gewinnt.

Eine ähnliche Entwicklung droht auch in Europa. Zwar stiegen Auftragseingänge und Produktion im September weiter, doch das hier und jetzt spielt sich im November ab: steigende Infektionszahlen und ein Lockdown in Deutschland bis mindestens Ende des Monats. Das Gespenst der Pandemie ist mit aller Macht zurückgekehrt. Das drückt die Stimmung der Unternehmen und zeigt, dass der Blick auf die Konjunktur stehts rückwärtsgewandt ist. Ein Blick, in dem die Gegenwart noch nicht abgebildet ist.

Auch Großbritannien, dass die Corona-Krise ohnehin wirtschaftlich schlechter verkraftet hat als Kontinentaleuropa, wird in Kürze Deutschland und Frankreich in einen zweiten Lockdown folgen. Für Lee Jones ist das ein kolossales politisches Versagen, das durch die Aushöhlung des Staates der letzten 40 Jahre verursacht wurde. Stehe die Linke wirklich für eine progressive Politik, so Jones, sollte sie sich den damit verbundenen Maßnahmen widersetzen, statt sie zu unterstützen. Denn in Rahmen dieser Maßnahmen sei es versäumt worden, sämtliche wohlfahrtsrelevanten Aspekte in den Blick zu bekommen, um auf dieser Basis abzuwägen und zu entscheiden, was im Gemeinwohlinteresse liegt und was nicht.

Das Erbe des Trumpismus?

Vielleicht ernten wir nur, was wir säen? Die Lügen und Unverfrorenheiten Donalds Trumps, die grassierende Pandemie, die darin kulminierende kulturelle, politische und wirtschaftliche Krise – all das hat einen Hauch von Apokalyptik, die an einen Zombiestreifen erinnert, in dem ein Virus eine von Egoismus und Niedertracht korrumpierte Gesellschaft befallen hat. Ein »Moral Hazard« im umgekehrten Sinne, dessen Fehlanreize nicht in einem ausgebauten Solidarsystem liegen – wie es die Public-Choice-Theory als geistiges Kind des Neoliberalismus postuliert –, sondern gerade in dessen Fehlen.

Der britische Historiker Tony Judt sprach vor einigen Jahren von dem Paradoxon des Wohlfahrtsstaates, »dass seine Anziehungskraft durch seine eigenen Erfolge untergraben wurde«. Der Wohlfahrtsstaat hat sich zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt, die seine grundlegende Bedeutung für den Zusammenhalt von Wirtschaft und Gesellschaft verschleiert. Seine Funktion liegt darin, die Menschen von Existenzsorgen zu entlasten und das sozioökonomische Gleichgewicht zu stabilisieren. Aber damit droht auch das Bewusstsein verloren zu gehen, dass dieser Freiheitsgewinn nur über Freiheitseinschränkungen, auch Sozialabgaben und Steuern gesichert werden kann.

Auf diesem Phänomen beruht das »seltsame Überleben des Neoliberalismus« (Colin Crouch). Seine Ideologie lässt sich auf zwei zentrale Postulate eindämpfen: »Forget macroeconomics!« und Maggie Thatchers Verdikt: »So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.« Soziale und ökonomische Fragen sind demnach Ausdruck individueller Präferenzen und Verhaltensweisen.

Das alles wohlgemerkt ist nicht das Erbe Trumps, sondern hat Trump womöglich erst hervorgebracht.