Jakob erklärt Lukas Wirtschaft – 3

Der vollkommene Markt und die Realität

| 10. November 2020
istock.com/Irina Shpiller

Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.

Jakob hat Lukas erklärt, welche Voraussetzungen der vollkommene Markt genau besitzen muss, damit sich ein Gleichgewicht einstellt. Dabei wurde deutlich, dass der mathematische Beweis für die Effizienz von Märkten auf sehr starken Vereinfachungen der Realität basiert. Wie Neoklassiker mit dieser Diskrepanz umgehen, aber auch den neoklassischen Arbeitsmarkt und das für die Neoklassik fundamentale Saysche Gesetz erklärt Jakob heute.

»Auf den Vorwurf einer unrealistischen Darstellung der Marktwirtschaft antworten Neoklassiker unterschiedlich, je nach dem wen man fragt. Eine Antwort wäre: Sozialwissenschaften kommen nicht ohne Vereinfachungen aus. Natürlich sind Menschen nicht hyperrational. Aber tendenziell sind sie doch eher rational als irrational. Sie vergleichen beim Kauf von Autos, Kühlschränken, Glühbirnen verschiedene Angebote und wählen das beste Preis-Leistungsverhältnis. Die Antwort wäre also: Die Wirklichkeit ist zwar nicht ganz so ideal wie in dem Modell aber immer noch ähnlich genug. Die zweite Antwort besagt: Wenn man weiß, wie der ideale Markt aussieht, kann man die Wirklichkeit auf Abweichungen zu dem idealen Markt untersuchen. Deshalb gibt es in neoklassischen Lehrbüchern beispielsweise auch Modelle, in denen nicht alle Voraussetzungen für den vollkommenen Markt erfüllt sind. Also zum Beispiel Märkte ohne vollkommene Konkurrenz mit einem Monopol. Solche Modelle seien dann realistischer.«

»Und was kann die Politik dann aus diesen Modellen lernen? Darauf wollten wir ja hinaus: auf seine verantwortungsvolle Politik.«

»Die Politik sollte daraus lernen, dass unvollkommene Märkte weniger optimal sind als vollkommene Märkte. Auch wenn man den vollkommenen Markt letztlich nicht erreichen kann, sollte sie versuchen, die Wirtschaft dem vollkommenen Markt anzunähern. Das bedeutet auf der einen Seite, dass sie in einen funktionierenden Markt nicht eingreifen soll, wie etwa durch Mindestlöhne oder festgelegte Preise. Einige Neoklassiker fordern aber in bestimmten Fällen doch einen Eingriff in den Markt. In einer schweren Wirtschaftskrise beispielsweise soll der Staat Schulden machen und in die Wirtschaft investieren. Das sind Neoklassiker, die Ideen von Keynes aufgenommen haben, auf den wir gleich zu sprechen kommen. Die Politik hat aber andererseits auch die Funktion, die Voraussetzungen für einen funktionierenden Markt zu schaffen, indem sie das Eigentum schützt oder Monopole zerschlägt.«

»Ich verstehe. Aber was bedeutet das für meine Frage? Was bedeutet das für den Sozialstaat?«

Abbildung 1

Keine Arbeit? Nicht im vollkommenen Markt!

»Dazu sollten wir uns den neoklassischen Arbeitsmarkt anschauen. Er funktioniert im Prinzip genauso wie der Markt für Güter, den wir eben besprochen haben. Die Rollen haben sich aber verändert: Diesmal sind die Unternehmen die Nachfrager – sie fragen Arbeit nach. Die Anbieter sind die Arbeitssuchenden – sie bieten Arbeit an. Wie verhalten sich die Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt? Bei Mankiw lernen wir, dass sie sich genauso verhalten wie die Eiskäufer: Je billiger die Arbeit, je niedriger der Lohn, desto mehr Arbeiter werden sie einstellen. Je billiger, je mehr. Das ist übrigens für den vollkommenen Markt eine entscheidende Voraussetzung. Kannst du dir vorstellen warum?«

»Hätte Michael auch bei einem niedrigeren Lohn die Arbeitslosen nicht eingestellt, wären sie arbeitslos geblieben. Arbeitslosigkeit klingt für mich aber nicht besonders optimal.«

»Das ist der entscheidende Punkt. Im vollkommenen Markt darf es keine Arbeitslosigkeit geben. Wenn die Unternehmen tatsächlich bei sinkendem Lohn immer mehr Arbeiter einstellen, dann haben irgendwann alle Arbeitslosen eine Arbeit gefunden. Deshalb gibt es im vollkommenen Markt nur dann Arbeitslosigkeit, wenn Arbeiter nicht arbeiten wollen. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist im vollkommenen Markt also ausgeschlossen.«

»Aber was ist, wenn die Unternehmen mehr Arbeiter gar nicht brauchen?«

»Das ist eine interessante Frage. Wir kommen darauf zurück. Wie verhalten sich die Anbieter von Arbeit, die Arbeitssuchenden? Sie bieten umso mehr Arbeit an, je mehr Lohn sie bekommen. Mit steigendem Lohn sind sie zu immer mehr Überstunden bereit.«

»Wir sind also wahre Workaholics! Bei 5000 € monatlich würde ich aber auch bei einem höheren Lohn nicht mehr arbeiten. Freizeit muss auch sein. Und bei einem Lohn von 1 € pro Stunde würde ich auch dann Überstunden machen, wenn ich keine Gehaltserhöhung bekomme. Sonst könnte ich ja nicht überleben.«

»Auch diese Beispiele zeigen, dass die Wirklichkeit kompliziert ist.«

»Mir ist aber immer noch nicht klar, was das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat.«

»Dann erinnere dich noch mal an Michael. Er wollte mehr Arbeiter einstellen, die Arbeiter waren aber zu teuer. Wegen dem Mindestlohn. Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Liegt der Mindestlohn über diesem Gleichgewichtspreis, dann können manche Arbeiter nicht eingestellt werden. Mindestlöhne oder zu mächtige Gewerkschaften führen aus neoklassischer Sicht deshalb zu Arbeitslosigkeit. Sie machen die Arbeit so teuer, dass die Unternehmen nicht alle Arbeiter einstellen können. Deshalb bleiben diese Arbeitssuchenden auf der Straße sitzen. Arbeitslosengeld und hohe Lohnnebenkosten führen übrigens zu demselben Problem. Kannst du mir sagen warum?«

»Weil niemand arbeiten möchte, wenn der Lohn niedriger ist als das Arbeitslosengeld. Kein Unternehmer wird Arbeiter finden, wenn er einen Lohn unter dem Arbeitslosengeld anbietet. Arbeitslosengeld ist also eine Art Mindestlohn und führt zu Arbeitslosigkeit. Was sind Lohnnebenkosten?«

»Die müssen Arbeitgeber für jeden Angestellten bezahlen. Mit Lohnnebenkosten werden auch sozialstaatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld bezahlt.«

»Dann ist es mit den Lohnnebenkosten wie mit den Löhnen. Für den Unternehmer läuft es auf das Gleiche hinaus, ob die Löhne erhöht werden oder ob er höhere Lohnnebenkosten bezahlen muss. Die Kosten für seine Angestellten steigen.«

»Richtig. Du siehst, aus dem neoklassischen Arbeitsmarkt ergeben sich auch Argumente gegen einen zu großen Sozialstaat. Der Staat sollte sich also besser raushalten. Ob die Löhne hoch oder niedrig sein sollen – die Antwort muss dem Markt überlassen werden. Zuletzt sollten wir noch über ein zentrales Gesetz der Neoklassik sprechen, das alle neoklassischen Theorievarianten voraussetzen und das den vielleicht wichtigsten Unterschied zur Lehre von Keynes darstellt. Dabei werden wir auch zwei weitere Argumente gegen einen größeren Sozialstaat kennen lernen.«

»Ich bin gespannt.«

Abbildung 2

Vom Schleier des Geldes

»Unrealistisch an neoklassischen Modellen ist auch, dass sie Tauschwirtschaften sind. Auch das berühmte Gleichgewichtsmodell von Arrow und Debreu ist eine Tauschwirtschaft. Wir leben aber in einer Geldwirtschaft. Niemand geht zum Metzger und bietet ihm seine Armbanduhr für ein Kilo Würstchen an. Wenn der vollkommene Markt auf die Wirklichkeit übertragbar sein soll, darf es keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer Tauschwirtschaft und einer Geldwirtschaft geben. Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten müssen dieselben sein. Auf den ersten Blick gibt es aber einen wesentlichen Unterschied: In einer Geldwirtschaft kann man das Geld auf die hohe Kante legen, bevor man wieder etwas einkauft. Wenn man möchte Jahrzehnte lang. Man kann es sogar an die Kinder vererben. Nehmen wir einmal an, alle privaten Haushalte fangen an, eisern zu sparen. Sie kaufen nur noch das allernötigste und bunkern ihr Geld auf ihrem Konto oder unter der Matratze. Wäre das eher gut oder schlecht für die Unternehmen?«

»Schlecht würde ich sagen. Wenn die Leute viel sparen und wenig kauffreudig sind, kriegen die Unternehmen viele ihrer Produkte nicht mehr los und gehen schlimmstenfalls pleite. Die Angestellten würden sich damit aber auch selbst schaden, denn wenn die Unternehmen immer weniger Einkünfte haben, können sie den privaten Haushalten auch immer weniger Löhne bezahlen. Und wenn ein Unternehmen Pleite geht, sind die Angestellten auch noch arbeitslos.«

»Richtig. Das Sparen ist ein zentrales Problem jeder Volkswirtschaft. Jetzt meine Frage: Haben die Unternehmen dieses Problem auch in einer Tauschwirtschaft?«

»Wie soll ich mir das vorstellen?«

»Stelle dir vor, du bist bei einem Schuster angestellt. In einer Tauschwirtschaft würdest du als Lohn kein Geld bekommen, sondern Schuhe. Dein Angebot beim Schuster zu arbeiten ist also immer schon eine Nachfrage nach Produkten, nämlich Schuhen. Die Schuhe kannst du dann beim Bäcker oder Metzger gegen Brötchen und Würste tauschen. Deine Schusterei wird ja darauf achten, so viele Schuhe herzustellen, wie der Bäcker, Metzger, Schreiner usw. haben wollen. Der Bäcker, Metzger und Schreiner verhalten sich genauso. Ganz allgemein steht in einer Tauschwirtschaft jedem Angebot eine Nachfrage gegenüber. Das ist das sogenannte Saysche Gesetz. In der Neoklassik gilt dieses Gesetz aber auch in einer Geldwirtschaft, das heißt, in der Neoklassik gibt es kein Sparproblem. Deshalb redet man auch vom ›Schleier des Geldes‹. Geld macht letztlich keinen Unterschied.«

»Aber wie soll das gehen? Wie sollen die Unternehmen die fehlende Nachfrage ausgleichen, wenn die Leute ihr Geld auf die hohe Kante legen?«

»Zunächst einmal besteht dieses Problem in unserem Modell des vollkommenen Marktes nicht, auch wenn im vollkommenen Markt mit Geld gehandelt würde. Wir hatten gesagt, dass die Marktteilnehmer unendlich schnell handeln. Selbst wenn die – übrigens unsterblichen – Marktteilnehmer ihr Geld für tausend Jahre auf die hohe Kante legen, macht das keinen Unterschied. Tausend Jahre schnurren zu einem Augenblick zusammen. Das angesparte Geld wird also sofort wieder ausgegeben.«

»Aber das ist doch total unrealistisch. Diese Antwort würde mich nicht befriedigen.«

»Deshalb gibt es in der Neoklassik auch eine zweite Antwort: Das Sparen wird dadurch ausgeglichen, dass jemand die Ersparnisse nimmt und sie wieder in die Wirtschaft fließen lässt. Das passiert, wenn Unternehmen Schulden machen und damit beispielsweise neue Fabrikanlagen bauen. Sie investieren. Sie kaufen zum Beispiel von anderen Unternehmen Maschinen und dieses Geld fließt an die Angestellten dieser Unternehmen, die damit wiederum Produkte kaufen. Das gesparte Geld fließt wieder in die Wirtschaft.«

»Und warum investieren die Unternehmen, wenn gespart wird?«

»Je mehr gespart wird, desto mehr Ersparnisse stehen zur Verfügung, um Schulden zu machen. Wenn sich das Angebot an Ersparnissen vergrößert, sinkt aber der Preis für Schulden. Der Preis für Schulden ist der Zins. Das ist der sogenannte neoklassische Zinsmechanismus. Weil die Zinsen für Kredite sinken, wird es also lohnender zu investieren. Investieren ist für Unternehmen grundsätzlich eine gute Sache, weil sie dann mehr oder bessere Produkte verkaufen und ihren Profit erhöhen können. Das wäre die zweite Antwort der Neoklassik. Die Investitionen sind immer so groß wie die Ersparnisse und deshalb gibt es in der Neoklassik kein Sparproblem. An dieser Stelle können wir über eine weitere wichtige Frage sprechen: Die Staatsschulden. Neoklassiker wie die meisten Ökonomen des Sachverständigenrats sehen wachsende Staatschulden im Allgemeinen als schädlich an. Das hat auch mit dem Sozialstaat zu tun. Denn wenn die Steuereinnahmen zu niedrig für den Staatshaushalt sind, sind Staatsschulden eine Möglichkeit, den Sozialstaat zu bezahlen. Warum sollten Staatsschulden schlecht sein?«

»Staatsschulden führen zu Inflation und belasten unsere Kinder und Enkel.«

»Das sind zwei häufig genannte Gründe. Durch die Staatsschulden kommt mehr Geld in Umlauf und wenn auch die Menge der produzierten Güter nicht ebenfalls in gleichem Maße wächst, steigen die Preise. Unsere Kinder und Enkel, die zukünftigen Generationen, müssen sich außerdem mit diesen Schulden herumschlagen. Sie müssen hohe Zinsen bezahlen oder den Schuldenberg sogar abtragen. Es gibt aber noch eine weitere Antwort, die mit dem Sparen zu tun hat. Wir hatten gesehen: die Unternehmen verwenden die Ersparnisse für Investitionen. Was passiert, wenn der Staat mit den Ersparnissen Schulden macht?«

»Das Angebot an Ersparnissen verringert sich.«

»Und was passiert, wenn sich das Angebot verringert?«

»Dann steigt der Preis.«

»Richtig. Und der Preis für Schulden ist der Zins. Wenn der Staat Schulden macht passiert also das Umgekehrte, wie wenn die privaten Haushalte sparen: der Zins steigt. Also haben die Unternehmen weniger Interesse zu investieren.«

»Staatschulden schränken also das Wirtschaftswachstum ein.«

»Das ist eine Antwort in vielen neoklassischen Lehrbüchern, die sich auch bei Mankiw findet. Sie wird als Crowding-out bezeichnet. Die Investitionen der Unternehmen werden vom Staat verdrängt. Wenn der Staat auf der anderen Seite seine Schulden reduziert, sinken die Zinsen und die Unternehmen haben ein größeres Angebot an Ersparnissen, die sie für die Investitionen verwenden können. Ein ähnlicher Zusammenhang besteht auch bei den Steuern. Was passiert mit den Ersparnissen, wenn die privaten Haushalte mit Steuern belastet werden?«

»Wenn die Steuern steigen, werden die privaten Haushalte vermutlich weniger Sparen können. Also sind auch weniger Investitionen möglich. Investieren können aber auch die Unternehmen mit ihren Profiten. Höhere Unternehmenssteuern würden aber die Profite senken und die Unternehmen hätten weniger Spielraum zu investieren.«

»Das ist ein weiteres neoklassisches Argument gegen einen zu großen Sozialstaat. Ein zu großer Sozialstaat, der mit Steuern oder Staatsschulden bezahlt wird, bremst demnach das Wachstum. Kommen wir jetzt aber zur Lehre von John Maynard Keynes.«

»Gerne.«

Der nächste Artikel erläutert gesamtwirtschaftliche Paradoxien, die eine zentrale Grundlage für den Postkeynesianismus darstellen.

Abbildung 3

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.