Unter Beobachtung, rumänische Ausgabe
Das rumänische Verfassungsgericht annulliert die erste Runde der Präsidentschaftswahl. Der Vorgang treibt die Auswüchse der liberalen, von starken Verfassungsgerichten gebändigten Demokratie auf die Spitze.
Gegen Ende eines wahrlich nicht arm an spektakulären Ereignissen gewesenen Jahres hält Rumänien eine Überraschung bereit: Das Verfassungsgericht annulliert die erste Runde der dortigen Präsidentschaftswahl. Der Vorgang treibt die von Philip Manow in seinem Buch „Unter Beobachtung“ analysierten Auswüchse der liberalen, von starken Verfassungsgerichten gebändigten Demokratie auf die Spitze.
Ein ungültiges Wahlergebnis
Am 6. Dezember 2024 erklärte das rumänische Verfassungsgericht (Curtea Constituțională a României, CCR) die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, die am 24. November stattfand, für ungültig. Zwei Tage später, am 8. Dezember, hätte die Stichwahl zwischen den erst- und zweitplatzierten Kandidaten stattfinden sollen. Dabei handelt es sich um den parteilosen Rechtspopulisten Călin Georgescu und um Elena Lasconi von der liberalen Uniunea Salvați România (USR).
Georgescu steht für Souveränität und Nationalismus, traditionelle rumänische Werte, Elitenkritik, Gegnerschaft zu EU und NATO. Auch Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt er ab. Er hatte seinen Wahlkampf vor allem auf TikTok geführt und seine Erstplatzierung kam für alle Beobachter überraschend. Vorgeworfen wird ihm, massenhaft Bots finanziert zu haben, die seine Videos teilten. Zu diesem Zweck habe er – undeklariert und illegal – ausländische, mutmaßlich russische Gelder angenommen. Zudem seien die TikTok-Videos, anders als vorgeschrieben, nicht als politische Werbung gekennzeichnet worden.
Auch die zweitplatzierte Kandidatin Lasconi, seit 2020 Bürgermeisterin der Kleinstadt Câmpulung, gehört nicht zum rumänischen Establishment. Die USR wurde erst 2016 gegründet und agitiert vor allem gegen die in Rumänien grassierende Korruption. Im Europäischen Parlament gehört die Partei zur wirtschafts- und gesellschaftsliberalen Renew-Fraktion. Wegen des Überraschungserfolgs Georgescus hatten es weder der Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Rumäniens (PSD) noch der Kandidat der nationalliberalen Partidul Național Liberal (PNL), der der amtierende Staatspräsident Klaus Johannis nahesteht, in die für den 8. Dezember vorgesehene Stichwahl geschafft.
Der Eingriff des Verfassungsgerichts hat eine Vorgeschichte in zwei Akten. Bereits am 5. Oktober hatte das Gericht die Kandidatur der Nationalistin Diana Iovanovici Șoșoacă für ungültig erklärt. Sie gehört zur teils rechtspopulistischen, teils rechtsextremen Partei S.O.S. România und ist seit 2024 Mitglied des Europäischen Parlaments. Das Urteil kann man hier aufrufen und es sich elektronisch übersetzen.
Verblüffend ist, dass die Gegnerschaft zur EU und insbesondere eine Verunglimpfung der NATO explizit als Gründe für den Ausschluss von der Kandidatenliste angegeben werden (sehen Sie zur NATO die Randnummern 6, 10, 12 und 15). Wahrscheinlich sollte Rumänien nicht aus der NATO austreten – aber ist es einer Präsidentschaftskandidatin in einer Demokratie tatsächlich verboten, es anders zu sehen? Der zweite Akt der Vorgeschichte bestand darin, dass das Verfassungsgericht am 27. November, nachdem der Erfolg Georgescus offenbar geworden war, eine Neuauszählung der Stimmen anordnete. Die Neuauszählung ergab keine Hinweise auf Manipulation.
Das rumänische Nikolaus-Urteil
Am 6. Dezember erfolgte dann die Annullierung der Wahl. Um zu diesem Urteil zu gelangen, müssen sie das Amtsblatt Rumäniens aufrufen, im dort erscheinenden Kalender den 6.12. anklicken und dann das Dokument mit der Nummer 1231 auswählen (eine direkte Verlinkung ist hier nicht möglich). Im Kern stellt das Gericht dar, dass die TikTok-Kampagne des Kandidaten Georgescu wegen ihrer Finanzierung und Intransparenz illegal war und das Wahlergebnis verzerrt habe. „Im vorliegenden Fall“, so ein zentraler Satz im Urteil, „wurde der freie Charakter der Stimmabgabe dadurch verletzt, dass die Wähler durch eine Wahlkampagne fehlinformiert wurden, bei der einer der Kandidaten von einer aggressiven Werbung profitierte, die unter Umgehung der nationalen Wahlgesetze und unter missbräuchlicher Ausnutzung der Algorithmen von Social-Media-Plattformen durchgeführt wurde“ (aus Randnummer 9 – nichtamtliche DeepL-Übersetzung, durchgeführt von mir, MH).
In Randnummer 16 des Urteils hält das Gericht zudem ausdrücklich fest, dass nicht nur der Wahlgang wiederholt werden muss, sondern auch die Einreichung der Kandidaturen erneut durchzuführen und vom Zentralen Wahlbüro zu bewerten ist. Das ebnet den Weg für eine mögliche Nichtzulassung Georgescus. Bis zur für Ostern 2025 erwarteten Neudurchführung der Wahl soll der amtierende Präsident im Amt bleiben.
Das CCR stellt also nicht fest, dass die Wahl und ihre Auszählung manipuliert worden wären. Der Kandidat Georgescu mag sich durch Regelverletzungen strafbar gemacht haben, aber das wäre nach normalen Maßstäben ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Möglicherweise könnte so etwas, im Falle der Wahl Georgescus zum Staatspräsidenten, auch in ein Amtsenthebungsverfahren münden. Aber darum geht es hier nicht. Der TikTok-Wahlkampf habe vielmehr dazu geführt, dass die Wählerinnen und Wähler falsch informiert worden seien und in der Folge, salopp gesagt, falsch abgestimmt hätten.
Auf dem Verfassungsblog beschreibt der Staatsrechtler Csongur Kuti im Einzelnen, gegen welche verfassungsmäßigen und einfachgesetzlichen Bestimmungen der CCR hier verstößt. So deutlich diese Übertretungen auch sein mögen: Der Nachweis hilft nichts. Denn vor welcher Instanz könnten die Rumäninnen und Rumänen das Vorgehen des Gerichts rügen? Vor dem zuständigen Verfassungsgericht ja nun gerade nicht (zur EU weiter unten). Es fällt schwer, dem Kommentator der WELT zu widersprechen: Ein „Staatsstreich mit legalistischer Fassade“.
Demokratie unter Beobachtung
Der bizarre Vorgang veranschaulicht einen historischen Prozess, den es keineswegs nur in Rumänien gibt: Mit dem Aufstieg mächtiger Verfassungsgerichte konzentriert sich zunehmende Macht in den Händen technokratischer Verfassungsinterpreten. Mit dieser Macht, ihren politischen Implikationen und ihrem Beitrag zur weithin beklagten Krise der Demokratie beschäftigt sich Philip Manow in seinem 2024 erschienenen Buch „Unter Beobachtung“. Die vermeintliche Krise der Demokratie, sagt Manow, ist eigentlich eine Krise einer spezifischen Spielart: der „liberalen“ Demokratie, die durch nicht-majoritäre Institutionen dergestalt „unter Beobachtung“ gestellt und gezügelt wird, dass der politische Prozess nicht mehr wirklich offen ist.
Seit den Neunzigern haben Verbreitung und Macht von Verfassungsgerichten weltweit zugenommen. Uns in Deutschland fällt diese konstitutionelle Verschiebung wenig auf, denn wir sind an ein starkes Verfassungsgericht mit der Befugnis, Gesetze zu verwerfen (die so genannte abstrakte Normenkontrolle), gewöhnt. Der internationale Trend setzte aber später ein. Ein besonderes Augenmerk schenkt Manow den Vorgängen in Osteuropa, wo starke Verfassungsgerichte als Hüter der neuen Staatsformen eingesetzt wurden und die Konsolidierung der jungen Demokratien begleiteten. Nach erfolgter Konsolidierung verschwanden die mächtigen Verfassungsgerichte aber nicht wieder von der Bildfläche, vielmehr waren sie nun bestrebt, ihre eigene Machtfülle zu konsolidieren.
Starke Verfassungsrechte mit Befugnis zur Normenkontrolle verrechtlichen die Politik und engen politische Spielräume ein, aber das muss nicht in Krisen münden. Wenn es gut läuft, begegnen sich Politik und Recht auf Augenhöhe und setzen sich gegenseitig Grenzen. Wenn die Politik im Falle übergriffiger Gerichtsentscheidungen glaubhaft mit Verfassungsänderungen drohen kann, werden die Richter vorausschauende Zurückhaltung üben und sich auf die Unterbindung offenkundig missbräuchlicher Grundrechtseingriffe beschränken. Und wenn die Politik weiß, dass solche Eingriffe verfassungsrechtlich geahndet werden, wird sie ihrerseits entsprechende Zurückhaltung üben.
Die Drohung mit Verfassungsänderungen ist aber nur glaubhaft, wenn die Parteiensysteme nicht allzu zersplittert sind. In jungen Demokratien, die sich erst noch konsolidieren müssen, ist die Zersplitterung in der Regel ausgeprägt und die Verfassungsgerichte können politikverhindernd tätig werden, ohne Gegenmaßnahmen befürchten zu müssen. Von ihrer Befugnis, Gesetzte zurückzuweisen, machten und machen osteuropäische Verfassungsgerichte umfänglichen Gebrauch, wie Manow im Einzelnen zeigt. Als Verfassungsinterpreten der letzten Instanz können die Verfassungsgerichte zudem auch ihre eigenen Befugnisse ungestört maximieren, wenn ihnen im politischen System das Gegengewicht fehlt.
Ein Beitrag zur Krise der Demokratie
Je mehr das geschieht, umso enger werden die politischen Handlungsspielräume, umso unbedeutender werden Wahlergebnisse und umso mehr herrscht die große politische Alternativlosigkeit – die Politik wird, in den Worten der Politikwissenschaftlerin Claire Moulin-Doos, durch überbordende Konstitutionalisierung gegen demokratische Gestaltung immunisiert. Schließt man die Wählerinnen und Wähler aber zunehmend von der Politik aus, werden sie sich von den Institutionen entfremden. Hierin sieht Manow eine (von mehreren) Erklärungen für den Aufstieg populistischer Parteien. „Die jetzige Krise“, schreibt Manow, „muss vor dem Hintergrund des Sieges, der Überdehnung, des Triumphalismus und damit der mangelnden Selbstkritik des liberalen Modells verstanden werden“ (Seite 107).
Leidenschaftlich warnt Manow davor, die Kritik am überkonstitutionalisiert-liberalen Demokratiemodell als Ablehnung der Demokratie schlechthin misszuverstehen. Die Kritiker als Demokratiegegner zu markieren, kann nur in immer neuen Wellen der Verrechtlichung münden, gilt es dann doch, die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen (solche Debatten führen wir derzeit auch in Deutschland). Tatsächlich aber untergraben neue Konstitutionalisierungsschübe die elektorale Legitimierung von Politik immer weiter, was populistischen Widerständen im Gegenzug noch mehr Nahrung gibt. Auf diese Weise schaukeln sich die Immunisierung der Politik und populistische Gegenreaktionen immer weiter hoch. Der Populismus, sagt Manow, ist „das Gespenst der liberalen Demokratie – weil er als Wiedergänger der vom Liberalismus erstickten Politik verstanden werden muss“ (Seite 26).
Philip Manows „Unter Beobachtung“ eignet sich zur Ausdeutung der Geschehnisse in Rumänien ganz hervorragend. Man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, dass populistische Strömungen aus der Annullierung der November-Wahlen zusätzliche Kraft schöpfen werden. Denn was soll bei den Wählerinnen und Wählern anderes ankommen als: Die Verfassungstechnokratie setzt Wahlen außer Kraft, wenn ihr die Ergebnisse nicht passen? Die Empörung, mit der sowohl der parteilose Rechtspopulist Georgescu als auch die zweitplatzierte liberale Präsidentschaftskandidatin Lasconi auf das CCR-Urteil vom 6. Dezember reagierten, ist nur allzu nachvollziehbar und dürfte Strahlkraft entfalten. Plastischer lässt sich das von Manow theoretisierte gegenseitige Hochschaukeln von technokratischen Machtanmaßungen und populistischen Gegenreaktionen kaum vorführen.
Konstitutionalisierung und Heuchelei in der Europäischen Union
Interessant wird es auch sein, die Reaktionen der EU zu verfolgen. Die beschriebenen Vorgänge sind in mehrerlei Hinsicht mit der europäischen Integration verquickt. Die EU gehört zu den entscheidenden Trägerinnen des Konstitutionalisierungsschubs, denn alle europäischen Verfassungsgerichte, starke und schwache, werden von einem europäischen Superverfassungsgericht überwölbt, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Von Dieter Grimm stammt der Begriff der spezifisch europäischen Überkonstitutionalisierung: Viel europäische Politik vollzieht sich nicht über Entscheidungen im politischen System der EU, sondern als vom EuGH administrierter Verfassungsvollzug. Das schmälert die demokratischen Entscheidungsspielräume.
Nicht nur werden Zugriffe auf zahlreiche – vor allem ökonomische, zunehmend aber auch gesellschaftspolitische – Sachverhalte verschlossen. Auch wird eine Mitwirkung an europäischen Entscheidungen über die Beteiligung an den politischen Unionsorganen verunmöglicht, wenn diese Entscheidungen von Richtern statt von Rat und Parlament getroffen werden. Manows Überlegungen zur fehlenden Balance zwischen Politik und Recht lassen sich gut auf die EU übertragen, denn gerade auf europäischer Ebene ist die Drohung mit Verfassungskorrekturen, die die Judikative disziplinieren könnten, unglaubwürdig. Im Ergebnis trägt die Überkonstitutionalisierung der EU zur großen Alternativlosigkeit auf mitgliedstaatlicher Ebene bei.
Die EU hat zahlreiche Instrumente zur Ahndung mitgliedstaatlichen Fehlverhaltens entwickelt. Ging es dabei ursprünglich vor allem um einen äußerst extensiv interpretierten Binnenmarktschutz, hat sich die Aufmerksamkeit in den letzten Jahren aufgrund der Auseinandersetzungen um die polnischen Justizreformen auf den Schutz der in Artikel 2 des EU-Vertrags gelisteten Unionswerte verlagert: Menschenrechte und Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit. Zur Wahrung der Rechtstaatlichkeit hat der EU-Rat gegen Polen ein so genanntes Artikel-7-Verfahren (das in Sanktionen münden kann, aber Einstimmigkeit erfordert) gestartet. Der EuGH ist noch weit darüber hinausgegangen und hat Teile der polnischen Justizreformen eigenhändig auf Grundlage von Artikel 2 EUV (in Verbindung mit Artikel 19 EUV, in dem es um die Rechtstattlichkeit der EU geht) gerügt.
Zur Annullierung der ersten Runde der rumänischen Präsidentschaftswahl schweigt die EU bisher. Die Kommission „überlässt es den rumänischen Bürgern, über ihr Schicksal zu entscheiden und unterstützt freie und faire Wahlen“, ließ Kommissionssprecherin Paula Pinho wissen (zitiert nach Euronews). Eine Untersuchung kündigt die Kommission in der Tat an – die Prüfung einer etwaigen Verletzung des Digital Services Act durch TikTok. Das ist allerliebst. Was, bitte, wäre los, hätten das ungarische oder das polnische Verfassungsgericht Wahlen wegen „falscher“ Ergebnisse annulliert, unter Verweis auf Einmischungen von außen und auf Aktivitäten in den sozialen Netzwerken? Der Schutz der Unionswerte ist Heuchelei, wenn er immer dann und nur dann in Stellung kommt, wenn es den Interessen der pro-europäischen, zentristischen Eliten nützt.