Kurssuche im globalen Gewitter
Liebe Leserinnen und Leser,
kurz bevor das 21. Jahrhundert sein erstes Viertel durchschritten hat, wirkt die Weltwirtschaft wie ein System, das zu viele Updates installiert hat und jetzt im Dauerneustart steckt. Staaten errichten Schranken, um ihre Industrien zu schützen. Konzerne verlagern Lieferketten wie Schachfiguren. Und während China bei Schlüsseltechnologien längst die Richtung vorgibt, versucht der Westen, über Ausschlüsse, Exportregeln und Sanktionen Boden gutzumachen. Auf einmal ist Huawei, 1990 gerade einmal 100 Mitarbeiter stark, nicht nur ein rasant gewachsener Konzern, sondern ein Symbol für diese tektonische Machtverschiebung.
In dieser Gemengelage taucht eine Frage wieder auf, die man in der Ära der Globalisierung für erledigt hielt: Wie viel Schutz braucht eine offene Volkswirtschaft eigentlich? Die Debatte über Zölle und Industriepolitik, die schon Keynes im Zuge der Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre führte, ist wieder hochaktuell. Sie ist ein Ausdruck der Unsicherheit, die entsteht, wenn globale Märkte nicht mehr berechenbar sind. Und sie ist ein Eingeständnis: Ohne strategische Leitplanken eines aktiven Staates verliert man beides: den globalen Wettbewerb und die politische Stabilität im Innern.
Innenpolitisch bröckelt das Versprechen von Planbarkeit und Sicherheit – das Fundament jeder Demokratie. Die Rentenpolitik ist dafür ein gutes Beispiel. Österreich zeigt, wie ein System funktionieren kann, wenn man es als gemeinschaftliche Aufgabe versteht. Deutschland hingegen hangelt sich durch Kommissionen und Teilreformen, die den Kern der Sache meiden: die Rolle der Produktivität für die Finanzierung der gesetzlichen Rente. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich im Zuge der Globalisierung das Lohnniveau vieler Beschäftigtengruppen von der gesamtwirtschaftlichen Produktivität entkoppelt. Damit schrumpfte in Relation auch die Finanzierungsbasis des Umlagesystems in einer alternden Bevölkerung. Doch wenn Alterssicherung zur Lotterie wird, verliert eine Gesellschaft ihren inneren Zusammenhalt schneller, als jede Wirtschaftsstatistik es erfassen könnte.
Und dann ist da die Sicherheitspolitik. Die neue strategische Linie der USA zwingt Europa, sich in einer Welt zurechtzufinden, die deutlich rauer geworden ist. Geopolitische Stabilität bekommt plötzlich wieder einen wahrnehmbaren Preis, die wohlmeinende Schutzmacht steht plötzlich nicht mehr auf Abruf bereit. Damit steht die EU vor dem Scherbenhaufen ihrer bisherigen Außenpolitik. Gleichzeitig wachsen systemische Risiken, die kaum jemand auf dem Zettel hat: Schattenbanken, deren Größe und Vernetztheit jede staatliche Aufsicht alt aussehen lässt, sind im Ernstfall ein Brandbeschleuniger für das nach dem Crash von 2008/9 immer noch instabile globale Finanzsystem.
All diese Entwicklungen erzählen dieselbe Geschichte: Die regelbasierte Ordnung der letzten Jahrzehnte war fragiler als gedacht. Jetzt entsteht ein neues Gefüge – und niemand kann sicher sein, ob es am Ende stabiler, gerechter oder friedlicher sein wird. Doch eines ist klar: Wer in diesen Umbrüchen bestehen will, braucht den Mut zur Prioritätensetzung. Das heißt, sich nicht in Symbolpolitik zu verlieren, sondern die großen Linien konsequent zu denken – technologisch, sozial, sicherheitspolitisch.
Die Welt sortiert sich neu. Für Europa gilt: Wenn es keinen eigenen Rahmen setzt, muss es im Zweifel in dem leben, den andere für ihn bauen.