Neue US-Sicherheitsstrategie – "zweite Zeitenwende" für Europa
Transatlantik im Umbruch: Die neue US-Sicherheitsstrategie reduziert Europas Status als unverzichtbarer Partner und setzt auf geoökonomische Prioritäten.
Das Weiße Haus hat seine neue Nationale Sicherheitsstrategie (National Security Strategy, NSS) vorgelegt und damit einen Kurs eingeschlagen, der die globalen Beziehungen grundlegend neu ordnet. Das Dokument rückt von der bisherigen Grundannahme ab, dass das transatlantische Bündnis eine dauerhafte sicherheitspolitische Architektur darstellt. Kooperation wird nicht mehr als Selbstverständlichkeit definiert, sondern als Arrangement, das an Bedingungen geknüpft ist. Staaten, die aus Sicht Washingtons unzureichend in Verteidigung investieren oder wirtschaftlich nicht stabil genug sind, sollen künftig nicht mehr automatisch auf amerikanische Unterstützung zählen können.
Die NSS verfolgt einen breiten Ansatz: Neben militärischen Fragen wird wirtschaftliche Stärke ausdrücklich zur sicherheitspolitischen Kategorie erklärt. Die USA betonen technologische Eigenständigkeit, Kontrolle über kritische Lieferketten und eine staatliche Industriepolitik. Handelspolitik wird damit zum geopolitischen Instrument. Frühere Selbstverständlichkeiten offener Märkte geraten ins Hintertreffen, weil Abhängigkeiten zunehmend als strategisches Risiko gelten. Für Europa bedeutet dies, dass ein wirtschaftliches Umfeld, das lange auf Globalisierung und Spezialisierung basierte, vor einer strukturellen Verschiebung steht.
Eine der schärfsten Passagen betrifft die Migration. Die USA erklären, vollständige Kontrolle über Grenzen, Einwanderungssysteme und alle Wege zu beanspruchen, über die Menschen legal oder illegal in das Land gelangen. Staaten sollen „zusammenarbeiten, um destabilisierende Bevölkerungsströme zu stoppen“. Später folgt der Satz: „Die Ära der Massenmigration ist vorbei.“ Diese Formulierungen richten sich nicht allein an die amerikanische Innenpolitik, sondern spiegeln implizit Kritik an europäischen und deutschen Praktiken wider, die den Kontinent verändere. Sie greifen damit Positionen auf, die in der Rede von JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz ähnlich artikuliert wurden – sowohl in der Wortwahl als auch im Befund einer politisch und gesellschaftlich überlasteten europäischen Ordnung.
Das Dokument markiert jedoch keinen vollständigen Bruch. In einem zentralen Absatz heißt es, Europa bleibe „strategisch und kulturell von entscheidender Bedeutung“. Die USA könnten es sich nicht leisten, den Kontinent abzuschreiben. Dieser Satz wirkt wie ein Gegenpol zu den scharfen Diagnosen – und ist dennoch kein Festhalten an alten Gewissheiten. Er verweist vielmehr darauf, dass ein destabilisiertes Europa den USA selbst Probleme bereiten würde. Europas wirtschaftliche Schwäche, technologische Abhängigkeiten und migrationspolitische Überlastung begrenzt nach Ansicht der US-Regierung die politische Stabilität und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit des Kontinents.
Entsprechend alarmiert fallen die Reaktionen in Europa aus. CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sprach von einer „zweiten Zeitenwende“. Andere Stimmen sehen in der NSS Elemente eines „Scheidungsbriefs“, der den transatlantischen Beziehungen die bisherige normative Grundlage entzieht. Entscheidend dürfte jedoch weniger die Frage sein, ob die Allianz zerbricht, sondern welche Form sie künftig annehmen kann. De facto entsteht eine Partnerschaft auf Probe: Europa bleibt relevant, verliert aber den Status eines unverzichtbaren Ankers der US-Strategie.
Durch die geoökonomische Aufladung des Sicherheitskonzepts entsteht eine transatlantische Ordnung, in der Europa sicherheits- und wirtschaftspolitisch stärker in die Pflicht genommen wird, ohne dass Washington eine automatische Rückversicherung anbietet. Europa müsse seine seine strukturellen Schwächen adressieren, wenn es in diesem Rahmen nicht an Bedeutung verlieren will.
Die neue Sicherheitsstrategie markiert damit keinen bloßen Kurswechsel, sondern eine strukturelle Neudefinition transatlantischer Beziehungen. Die Frage, wie die EU in einem Umfeld wachsender Abschottung und technologischer Rivalität bestehen und ein eigener sicherheitspolitischer Rahmen ohne die USA aussehen kann, dürfte damit zur zentralen strategischen Aufgabe der kommenden Jahre werden.