Protektionismus und Schutzzölle – Für und Wider
Inmitten der wirtschaftlichen Depression der Dreißiger Jahre hielt John Maynard Keynes für die BBC regelmäßig Rundfunkvorträge. In der heutigen wirtschafts- und geopolitischen Krise wirken viele seiner damals revolutionären Vorstellungen wieder überraschend aktuell.
Im Juni und Juli 1932 trafen sich Abgesandte aus 19 Staaten in Lausanne, um über die Zukunft der Reparationen und Kriegsschulden zu beraten. John Maynard Keynes, gehörte dem Ausschuss an, den der britische Premierminister James Ramsay MacDonald mit dem Auftrag eingesetzt hatte, das Programm der Themen der bevorstehenden internationalen Währungs- und Wirtschaftskonferenz zu erörtern und den Premierminister persönlich zu beraten.
Im selben Monat wandte sich Keynes mit der Erörterung der möglichen Themen auch an die Öffentlichkeit. Am 25. November 1932 hielt er den ersten Vortrag in einer Sendereihe der BBC zum Thema Freihandel und Protektionismus. Die ihm folgenden, von Keynes nicht namentlich erwähnten Sprecher waren die Parlamentsabgeordneten Sir Henry Page-Croft (Tory) und C. R. Attlee (Labour).
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Ich weiß nicht, mit welchem Anspruch ich in dieser Frage der Schutzzölle als unparteiischer Vorredner der Parteigänger gelten darf, die später zu Ihnen sprechen werden. Alle drei werden wir uns bemühen, die Wahrheit zu sagen. Ich kann jedoch den Anspruch erheben, für beide Seiten große Sympathie zu hegen, obgleich ich, wie Sie feststellen werden, mit beiden eher in praktischer als in theoretischer Hinsicht sympathisiere. Denn die theoretischen Argumente, die von den Befürwortern des Freihandels und den Protektionisten jeweils angeführt werden, sind meines Erachtens zumeist untauglich oder fehl am Platz. Andererseits haben beide Parteien jeweils eine wichtige praktische Maxime auf ihrer Seite.
Die Position der Freihandelsbefürworter
Lassen Sie mich mit der wesentlichen Wahrheit beginnen, auf der die Position der Freihandelsbefürworter beruht. Sie lässt sich am besten veranschaulichen, indem man zur Sache beginnt. Wir alle wissen, dass wir, als Einzelne oder als Gruppen betrachtet, produktiver und reicher sind, wenn wir uns auf die Tätigkeiten konzentrieren, für die wir am besten geeignet sind, zu Spezialisten für die Herstellung bestimmter Güter werden und davon leben, unsere Erzeugnisse gegen die Erzeugnisse anderer Spezialisten zu tauschen.
Wir bezweifeln nicht, dass es zum Wohlstand beiträgt, wenn wir die Industrie in Städten konzentrieren. Wir wissen, dass es dumm wäre, eine höhere Zulassungsgebühr für ein Kraftfahrzeug zu erheben, das in einer Grafschaft benutzt wird, in der es nicht hergestellt worden ist. Es fällt uns nicht ein, besondere Steuern zu erheben zu dem Zweck, einen Mann aus Lancashire daran zu hindern, einen in Birmingham gebauten Wagen zu benutzen.
Und all das ist genauso wahr für das Verhältnis zwischen Ländern wie für das zwischen Einzelpersonen oder zwischen Bezirken. Es wäre doch Verschwendung und dumm, uns mit etwas zu befassen, was wir nur mangelhaft können, während wir etwas anderes viel effizienter leisten könnten. Es ist nichts Geheimnisvolles an einer Grenze, die geeignet wäre, diesen selbstverständlichen Schluss des gesunden Menschenverstandes über den Haufen zu werfen. Die meisten gegenteiligen Argumente der Protektionisten sind Spitzfindigkeiten – insbesondere jenes, das ich gerade gesagt habe, gelte unter den Bedingungen allgemeinen Freihandels, sobald aber andere Länder Schutzzölle erheben, gereiche es uns zum Vorteil, das Gleiche zu tun.
Die Schutzzölle des Auslands verringern die Gelegenheiten für vorteilhaften Handel, doch ist das kein Grund, weshalb wir sie noch weiter verringern sollten. Wenn wir zudem für das, was wir benutzen, mehr bezahlen müssen als nötig, wird das unsere Kosten selbst in jenen Wirtschaftszweigen erhöhen, auf die wir uns am besten verstehen, so dass es mit unserer Leistungsfähigkeit auf ganzer Linie bergab geht.
Das alles liegt gewiss auf der Hand, aber das macht es nicht unwichtig. Im Gegenteil, es ist furchtbar wichtig. Der Befürworter des Freihandels hat den Startvorteil, dass zunächst enorm viel für seine Position spricht. In neun von zehn Fällen verkündet er die Worte der Weisheit und schlichten Wahrheit – und ebenso des Friedens und guten Willens – gegen irgendeinen Kleingeist, der durch Spitzfindigkeit und manchmal auch Korruption versucht, einen Vorteil für sich zu ergattern auf Kosten seines Nachbarn und seines Heimatlandes.
Der Freihändler geht aufrecht im Licht des Tages, spricht offen und freundlich zu allen, die vorübergehen, während der Protektionist in seinem Winkel knurrt.
Enttäuschung über Ottawa
Und auch die praktische Erfahrung mit Schutzzöllen ändert nicht das Mindeste an dieser allgemeinen Vermutung. Ganz im Gegenteil. Es gibt kein bedeutendes Land mit einem seit alters bestehenden Zollsystem, das nicht hundert Dummheiten begangen hätte – Dummheiten, die, einmal begangen, nur schwer zu korrigieren sind, ohne weiteren Schaden anzurichten; Dummheiten, die von allen verständigen Leuten im Lande selbst freimütig eingestanden werden.
Wir selbst haben, nach meinem Urteil, gerade erst ein Beispiel dafür erlebt, nämlich im Ergebnis der Konferenz von Ottawa. Denn entgegen den hochgespannten Hoffnungen und hehren Idealen, mit denen die Konferenz begonnen wurde, ist es kaum vorstellbar, wie die wärmsten Fürsprecher einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb des Empires sie anders denn als Enttäuschung werten sollten, einmal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die sie dem Bemühen in den Weg legen mag, auf der für das nächste Frühjahr anberaumten Weltwirtschaftskonferenz etwas Nützliches zu erreichen.
Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie bei Zollverhandlungen die üblen Elemente die Oberhand über die guten Elemente zu gewinnen neigen, wenn es ums Geschäft geht. Statt den Freihandel durch echte Kürzungen der Schutzzölle innerhalb des Empires zu fördern, wie Herr Baldwin das in seiner Eröffnungsansprache noch erhoffte, bin ich persönlich der Ansicht, dass die Konferenz die Zölle für alle Beteiligten fester gezurrt hat als zuvor – obgleich manche Autoritäten, wie ich weiß, bereit sind, das Gegenteil zu behaupten.
Die Grenzen des Freihandels
Warum habe ich dann zu Beginn gesagt, dass ich mit beiden Seiten sympathisiere? Ich werde es Ihnen erklären. Denn trotz allem, was ich gerade gesagt habe, haben manche, die sich nicht scheuen, von Schutzzöllen Gebrauch zu machen, unter bestimmten wichtigen Gesichtspunkten einen weiter gefassten Begriff vom nationalen Wirtschaftsleben und ein besseres Gespür für dessen Eigenart.
Befürworter des Freihandels haben, bis zur Überheblichkeit gestärkt durch die wesentlichen Wahrheiten – man könnte sagen, Binsenwahrheiten – ihres Anliegens, den gesellschaftlichen Vorteil der bloßen Billigkeit des Marktes erheblich überbewertet und dem bloßen Wirken der Methoden des laisser-faire Vorzüge zugesprochen, die einfach nicht bestehen.
Der Protektionist hat häufig schlechte ökonomische Argumente benutzt, mitunter aber hat er ein besseres Gespür für die komplizierten Gleichgewichte, Harmonien und Eigenschaften eines gesunden nationalen Wirtschaftslebens bewiesen – und ebenso für die Einsicht, keinen Teil davon ohne Not zu opfern, und sei es für das Ganze.
Die Tugenden der Vielfalt und Universalität, die Gelegenheit zur Verwendung jeder Gabe und jeder Befähigung, die Annehmlichkeiten des Lebens, die seit alters bestehenden Traditionen einer Landschaft: all diese Dinge, von denen es viele gibt, selbst im materiellen Leben eines Landes, und die man mit Geld nicht kaufen kann, müssen berücksichtigt werden. So hat nationale Protektion auch ihre idealistische Seite – eine Seite, die eine ausgewogene nationale Wirtschaftspolitik in Einklang zu bringen versucht mit dem Frieden und der Wahrheit und der internationalen Fairness des Freihandels.
Wenn es wahr wäre, dass wir alle ein wenig reicher sein würden – vorausgesetzt, das ganze Land und alle seine Arbeiter spezialisierten sich auf ein halbes Dutzend in Massenproduktion hergestellter Erzeugnisse und jeder Einzelne täte nichts anderes und hätte auch keine Hoffnung, etwas anderes zu tun, als sein ganzes Leben lang einen winzigen, ungelernten, repetitiven Handgriff –, würden wir dann alle lautstark die sofortige Zerstörung der unendlichen Vielfalt von Gewerben und Gerwerken und Beschäftigungen verlangen, die der glorreichen Erlangung dieses maximalen Grades an spezialisierter Billigkeit im Weg steht?
Natürlich würden wir das nicht – und das allein reicht, um zu beweisen, dass die Argumentation für den Freihandel, wie ich sie zu Beginn dargelegt habe, etwas ausgelassen hat. Unsere Aufgabe ist es, die Ausgewogenheit der Diskussion wiederherzustellen.
Schutzzölle und Beschäftigung
Ich will drei Beispiele geben. Aber bevor ich darauf zu sprechen komme, ist der Argumentation der Protektionisten ein weiteres Zugeständnis zu machen. Es gab eine Zeit, da habe ich die vorübergehende Nützlichkeit eines Schutzzolls als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleugnet.
Ich denke noch immer, dass ein weltweites System von Schutzzöllen die Arbeitslosigkeit auf der Welt insgesamt eher vergrößern als verringern würde. Aber ich würde nun zugeben, dass die Erhebung eines Schutzzolls unsererseits in Zeiten schwerwiegender Arbeitslosigkeit wahrscheinlich einen Teil unserer Bürde der Arbeitslosigkeit auf andere Länder abwälzen könnte.
Denn das Freihandelsargument gegen den Einsatz eines Schutzzolls, dass damit Arbeitskräfte von einer Branche angezogen würden, für die sie verhältnismäßig schlecht geeignet sind, geht von der Grundannahme aus, dass sie bei Nichtbestehen eines Schutzzolls in einer anderen, geeigneteren Branche beschäftigt würden, rechnet aber nicht mit dem möglichen Fall, dass sie überhaupt nicht beschäftigt werden.
Protektion für Automobile...
Nun zu meinen Beispielen für Schutzzölle, die ich für gerechtfertigt halte. Da ist zunächst unsere Automobilindustrie. Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass der Schutz, den wir dieser Branche seit dem Weltkrieg gewährt haben, klug und zuträglich gewesen ist. Diese Industrie war neu, fortschrittlich und in beständigem Wandel begriffen, an sich schon von erstklassigem Interesse und erstklassiger Bedeutung, von einer Art, für die man unsere nationalen Begabungen als exzellent geeignet vermuten würde, indem sie einer bestimmten, typischen Sorte Engländer überaus ansprechende und reizvolle Aufgaben und Probleme stellt.
Ja, es wäre wahrhaft schockierend, wenn wir ohne eine prosperierende und erfindungsreiche Automobilindustrie auskommen müssten. Als wir jedoch während des Krieges anderweitig beschäftigt waren, haben die Vereinigten Staaten sowohl in finanzieller als auch in technischer Hinsicht einen gewaltigen Vorsprung uns gegenüber gewonnen, und so wäre die englische Automobilindustrie mit Sicherheit in den Bankrott getrieben worden, hätte man sie der vollen Wucht ausländischer Konkurrenz ausgesetzt. Die heutigen Ergebnisse sind eine triumphale Bestätigung für den Schutz, den wir ihr gewährt haben. Kann irgendjemand das bestreiten?
... für Eisen und Stahl...
Jene ist eine neue Branche. Mein nächstes Beispiel ist ein alter Wirtschaftszweig: Eisen und Stahl. Hier haben wir den Fall einer Industrie mit einer großartigen Vergangenheit, die dem Verfall entgegensieht – woran wir selbst in keinem geringen Maß die Schuld tragen. Das Problem ist kompliziert; ich kann hier nicht darauf eingehen. Doch würde ich die Hilfe eines Schutzzolls nicht verwerfen, wenn er Teil eines wohlabgestimmten allgemeinen Planes für die Erholung dieser Branche wäre.
Denn ich bin überzeugt, dass es sich dabei um eine Industrie handelt, für die wir, rechnet man in Jahrzehnten statt in Jahren, einzigartig gut geeignet sind. Und doch ist offenkundig, wie viel dauerhafter Schaden ihr in nur wenigen Jahren zugefügt werden kann. Ihre fortgesetzte Schwächung wird ganze Gegenden verwüsten; sie wird Zehntausende Männer aus ihrem Zuhause und ihren Verbindungen reißen, um sie hilflos in die Welt zu schleudern; und sie wird ganze Straßenzüge von Häusern wertlos machen, deren finanzielles Schicksal Stahlfabriken in ihren Kalkulationen, was sich rentiert und was nicht, nicht berücksichtigen können.
Demgegenüber halte ich es nicht für wichtig, dass Stahl für Verbraucher heute so billig wie möglich sein sollte. Ich wünsche mir, die Hochöfen an der Nordostküste wieder tosen zu hören und Schiffe mit britischem Stahl den Clyde herunterfahren zu sehen. Und ich bin bereit, für diese Befriedigung, wenn nötig, ein wenig zu bezahlen.
... und für die Landwirtschaft
Mein letztes Beispiel ist für den kompromisslosen Freihändler die größte Crux von allen: die Landwirtschaft. Angenommen, der durchschnittliche Bauer in diesem Land wäre ruiniert, wenn die Preise für seine Erzeugnisse nicht durch Steuern auf Lebensmittel oder entsprechende Maßnahmen angehoben würden. Ist der Befürworter des Freihandels bereit zu erklären: Na gut, dann lasst die Landwirtschaft eben sein?
Selbstverständlich dürfen wir in unseren Gegenmaßnahmen nicht töricht sein oder den Landwirt zum Anbau von Feldfrüchten verleiten, für die das Land, vergleicht man mit anderen Früchten, eher ungeeignet ist. Aber das ist nicht das Dilemma, welches ich dem Freihandelsbefürworter vorsetzen möchte. Nehmen wir an, dass es der britischen Landwirtschaft, solange sie den Unsicherheiten unbeschränkten Wettbewerbs ausgesetzt ist, gegenwärtig nicht möglich ist, den von ihr Beschäftigten den gleichen Lebensstandard zu bieten wie die Massenfertigungsindustrien in den Städten – und diese Annahme ist keinesfalls unwahrscheinlich. Gibt es irgendwelche Freihändler, die sagen: Na, dann lasst die Landwirtschaft eben sein?
Ich hoffe, es gibt keine. Denn jeder, der seinen Verstand nicht in eine Zwangsweste steckt, sollte, wie Sie und ich, wissen, dass es zum erfüllten Leben einer Nation gehört, Landwirtschaft zu treiben. Ich habe zuvor gesagt, dass eine prosperierende Automobilindustrie eine nationale Notwendigkeit sei, und sei es nur, um einem bestimmten Typ von Engländer Gelegenheit zur Entfaltung zu geben. In gleicher Weise ist es wahr, dass ein anderer Typus seinen Lebenszweck in der Hege und Aufzucht von Haustieren und im Kontakt mit den wechselnden Jahreszeiten und der Scholle findet.
Wer behauptet, das Land könne sich Landwirtschaft nicht leisten, täuscht sich über die Bedeutung des Wortes „leisten“. Ein Land, das sich Kunst oder Landwirtschaft, Erfindung oder Tradition nicht leisten kann, ist ein Land, in welchem zu leben man sich nicht leisten kann.
Der Pfad der Weisheit ist in diesen Dingen also schmal, und nur die werden ihn sicher beschreiten, die die Fallen zu beiden Seiten erkennen. Weder Freihandel noch Protektion sind in der Lage, ihre Sache in der Theorie so darzustellen, dass sie es in der Praxis über die andere Seite erhöbe.
Protektion ist eine gefährliche und kostspielige Methode, einen Mangel an Ausgeglichenheit und Sicherheit im Wirtschaftsleben einer Nation zu beheben. Aber es gibt Zeiten, da können wir uns nicht unbesorgt den blinden Kräften des Marktes anvertrauen, und keine andere, wirksamere Waffe ist zur Hand als Schutzzölle.
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Zuerst erschienen in englischer Sprache bei Macmillan Publishers Limited im Auftrag der Royal Economic Society und als Teil von „The Collected Writings of John Maynard Keynes“ und herausgegeben von Professor Sir Austin Robinson und Professor Donald Moggride. Die kursiven Zwischenzeilen sind kein gesprochenes Wort, sondern wurden von den Herausgebern der Collected Writings eingefügt. Übersetzung ins Deutsche: Michael Hein.