Editorial

Krisengewinner und Krisenverlierer

| 17. November 2020
istock.com/Chiemi Kumitani

Liebe Leserinnen und Leser,

nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung sind Menschen, die schon vor der Coronakrise sozio-ökonomisch am unteren Rand der Gesellschaft standen, während der Pandemie noch weiter abgerutscht. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlichte schon im Sommer eine Studie, in der eine unerwartet höhere Vermögensungleichheit in Deutschland festgestellt wurde: So befinden sich zum Beispiel 35 Prozent des Gesamtvermögens in der Hand von nur einem Prozent der Erwachsenen, während die ärmere Hälfte über lediglich 1,3 Prozent verfügt.

Lastenverteilung nach oben oder nach unten?

Das wirft fast zwangsläufig die Frage eines Lastenausgleichs auf. Diejenigen, die finanziell von der Krise stark betroffen sind, sollten von den Krisengewinnern finanziell kompensiert werden, schreibt Eva Lickert. Es sei zu begrüßen, dass seit Beginn der Coronakrise die Forderung nach einer Vermögenssteuer nicht nur in Deutschland immer lauter wird.

In Belgien zum Beispiel hat sich die Regierung in der letzten Oktoberwoche darauf geeinigt, zusätzlich zur bereits bestehenden Vermögenssteuer eine sogenannte »Solidaritätssteuer« auf Wertpapierdepots ab einer Million Euro zu erheben. Die zusätzlichen Steuereinnahmen sollen in das unterfinanzierte Gesundheitssystem fließen. Die österreichischen Grünen verlangen als Instrument der gerechten Lastenverteilung ebenfalls die Einführung einer Vermögenssteuer.

In den Niederlanden hingegen ist eine umgekehrte Lastenverteilung im Gespräch: Die Senkung der Dividendensteuer und mehr als viertausend »Steuerdeals«, die die Steuerumgehung befördern. Eine zusätzliche strukturelle Erhöhung der Gehälter für Bedienstete im Gesundheitswesen, die die Mehrbelastung und den akuten Personalmangel berücksichtigt, wird es dafür nicht geben. Das Kabinett hat dafür seit Juni verschiedene Argumente vorgebracht; so etwa, dass es sich bei Lohnsteigerungen um Ausgaben und nicht um Investitionen in Kapital handle; zumal es sowieso »keinen Spielraum für zusätzliche Nettoausgaben« gäbe.

Dirk Bezemer sieht das anders: Wenn höhere Pflegekräftegehälter zu einer besseren Pflege und damit zu einer besseren Erhaltung des »Humankapitals« der Niederlande führen, dann gleichen sie sehr stark Investitionen. Doch seit zehn Jahren werden Finanzindikatoren (wie Budgetnormen) Vorrang vor Indikatoren wie den Stickstoff- und CO2-Werten, Personal- und Ressourcenmangel in den Gemeinden, Mangel an Polizisten und Lehrern gegeben. All dies ist Beleg dafür, dass wir zu wenig in unser Sachkapital investieren. Die Entscheidung des Kabinetts gegen Gehaltserhöhungen im Gesundheitssektor, sind also nicht Ausdruck einer soliden Haushaltspolitik, so Bezemer, sondern einer falschen Setzung von Prioritäten.

Wenn der Rahmen gesprengt ist

Kein Wunder also, dass die Verteilung der wirtschaftlichen Folgen durch eine große Schieflage geprägt ist: Bestimmte Branchen und Qualifikationen sind extrem betroffen, für andere ändert sich kaum etwas bis nichts. Und schließlich gibt es wirtschaftliche Tätigkeitsfelder, die bedingt durch die Pandemie sogar eine steigende Nachfrage verzeichnen, so dass man hier von Krisengewinnern sprechen kann. Diese unterschiedlichen Verteilungswirkungen kann der Staat nicht achselzuckend hinnehmen, weder bei den gesundheitlichen noch bei den wirtschaftlichen Folgen, konstatiert auch Stefan Dudey.

Das grundlegende Problem der wirtschaftspolitischen Bemühungen zur Krisenbekämpfung bestehe in dem Mangel an einer Einbettung der Maßnahmen in ein gesamtwirtschaftliches Konzept so Dudey. Hier zeige sich: Wer den Staat lediglich als Rahmensetzer für alle anderen wirtschaftspolitischen Akteure begreift, nie aber als eigenen wirtschaftspolitischen Akteur mit einer laufenden Aufgabe im aktuellen Konjunkturgeschehen, der steht einer so komplexen Krisensituation wie der gegenwärtigen recht hilflos gegenüber, laboriert folglich mutlos vor sich hin und ist im besten Fall auf einer Lernkurve unterwegs.

Kann Baerbock Staat?

Die Parteivorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, macht bei Anne Will Geräusche, die Paul Steinhardt leise hoffen lassen, dass diese Botschaft nun auch die Politik erreicht hat. Zwar unterließ sie den Hinweis, dass die politische Steuerung einer Volkswirtschaft zweifelsohne eine äußerst schwierige Aufgabe ist, diese dagegen niemals am Geld scheitern muss. Immerhin aber machte Baerbock deutlich, um welche Frage es bei staatlichen Ausgaben wirklich gehen muss. Nämlich, für was der Staat Geld ausgibt. Es sei nicht nachhaltig, wenn man »21 Milliarden in den fossilen Bereich« steckt und Staatshilfen, wie etwa an Lufthansa, nicht an »Bedingungen« knüpft. Stichwort: Falsche Prioritätensetzung.

Raus aus dem geopolitischen Tiefschlaf

Es gehört zu den wenigen positiven Erfahrungen der Ära Trump, dass die Europäische Union aus ihrem geopolitischen Tiefschlaf erwacht ist. Begriffe wie »multipolare Welt«, »europäische Souveränität« und »strategische Autonomie«, die zuvor nur in Paris diskutiert wurden, sind dank Trumps »America first«-Politik sogar in Brüssel und Berlin hoffähig geworden.

Auch die ökonomische Debatte hat sich weiterentwickelt. Freihandel und Neoliberalismus wurden durch Trumps Strafzölle und den US-Protektionismus erschüttert. Die EU hat sich zwar nicht von ihrer Doktrin verabschiedet. Doch immerhin hat sie eingesehen, dass transatlantische Blütenträume wie das Freihandelsabkommen TTIP ausgeträumt sind - und dass man sich neue Partner suchen muss.

Doch nun droht die EU die Lehren der letzten Jahre wieder zu vergessen. Die Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten wird gefeiert, als sei Trump nur ein bedauerlicher Ausrutscher gewesen und der Trumpismus keine anhaltende Gefahr. Wer Merkel oder Kommissionschefin Ursula von der Leyen zuhört, könnte meinen, wir lebten wieder im Jahr 2015, und als habe es die disruptive Trump-Ära nie gegeben. Dabei ist der Machtwechsel in Washington für die EU vielleicht die letzte Chance, erwachsen zu werden, so Eric Bonse in seiner neuen Kolumne »Blick aus Brüssel«.