Jakob erklärt Lukas Wirtschaft – 4

Märkte sind instabil - der Postkeynesianismus

| 17. November 2020
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Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.

In den letzten drei Artikeln (hier Teil 1, Teil 2 und Teil 3) hat Jakob Lukas zentrale Aspekte der neoklassischen Lehrbuchökonomie erläutert. Heute beginnt Jakob mit der Darstellung des Postkeynesianismus.

»Keynes lebte von 1883 bis 1946. Seine große Stunde schlug mit der Weltwirtschaftskrise von 1929, die Millionen von Menschen in vielen Ländern Armut und Arbeitslosigkeit brachte. Keynes konnte die Krise aus der Sicht vieler Ökonomen besser erklären als die Neoklassik. Für ein paar Jahrzehnte hatte seine Lehre einen erheblichen Einfluss auf die Wissenschaft und die Politik. Manche seiner Ideen wurden auch von neoklassischen Ökonomen übernommen, die sich sogar als Neukeynesianer oder Neokeynesianer bezeichnen. Keynes hätte diese neoklassischen Theorien aber weitgehend abgelehnt. Joan Robinson, eine bedeutende Schülerin von Keynes, bezeichnete solche Schulen als ›Bastard-Keynesianismus‹. Ökonomen, die in seiner Tradition stehen, werden heute als Postkeynesianer bezeichnet. 

Wir beginnen die Beschreibung der Theorie wieder mit einer kleinen fiktiven Geschichte: Du gehst mit Deiner Klasse ins Kino. Es ist ein groß angekündigter Film, auf den ihr alle sehr gespannt seid. Allerdings seid ihr spät dran, die Werbung läuft schon und der Film kann jede Minute beginnen. Deine Klasse steht bereits in einer Reihe an der Kasse, die Kassiererin ist aber unheimlich langsam. Du beschießt dich vorzudrängeln. Ein paar aus deiner Klasse meckern, aber das ist dir egal, du bist einfach zu begierig auf den Film. Andere folgen dir und drängeln sich auch vor. Es entsteht ein Tumult und eure Lehrerin beschwert sich: ›Lasst das doch sein Leute, so wird die Klasse niemals schneller im Kino sein!‹ Endlich im Kino angekommen, bist du von dem Film so fasziniert, dass du aufstehst um noch besser sehen zu können. Wieder meckern ein paar, andere folgend dir aber und stehen ebenfalls auf. Nach und nach steht der ganze Kinosaal, denn die Sitzenden können anders nur noch schlecht sehen. Eure Lehrerin ermahnt euch wieder: ›Bitte setzt euch jetzt wieder hin, davon hat doch keiner was!‹ Nach und nach macht sich Vernunft breit und die Zuschauer setzen sich wieder. Soweit meine Geschichte.«

»Was bitte hat diese Geschichte mit Ökonomie zu tun?«

»Sehr viel! Vorher aber wiederum die Frage: Was ist die Moral der Geschichte?«

»Es geht wohl um Situationen, in denen einzelne sich einen Vorteil verschaffen können, aber nicht alle gleichzeitig. Ich kann mein Blickfeld erheblich vergrößern wenn ich aufstehe, aber alle können das nicht gleichzeitig. Wenn alle aufstehen, schränken sie gegenseitig ihr Blickfeld wieder ein. Ich bin schneller im Kinosaal wenn ich mich vordrängle. Aber nicht die ganze Klasse. Wenn niemand anders mehr vor der Schulklasse steht und die Kassiererin nicht schneller macht, können sie drängeln so viel sie wollen. Die gesamte Klasse wird nicht schneller im Kino sein. Was der eine an Zeit gewinnt, verliert der andere.«

»Richtig. Man nennt das ein Paradox der Verallgemeinerung. Was für einen Einzelnen gilt, stimmt für eine Gesamtheit nicht mehr. Kannst du dir jetzt vielleicht vorstellen, was die Geschichte mit Ökonomie zu tun hat?«

»Vielleicht gibt es in der Ökonomie auch solche Paradoxien. Was für einen einzelnen Konsumenten oder Unternehmer vorteilhaft ist, ist für die gesamte Wirtschaft schädlich, wenn es alle tun.«

»Richtig. Keynes ging es um das große Ganze. Er ging nicht von einzelnen Märkten aus, sondern untersuchte die Gesetzmäßigkeiten der gesamten Wirtschaft. Er gilt deshalb als Schöpfer der sogenannten Makroökonomie. Keynes und seine Nachfolger haben eine ganze Reihe solcher Paradoxien in der Wirtschaft aufgedeckt. Aus solchen Paradoxien hat Keynes geschlossen, dass Märkte instabil sind und vom Staat immer wieder auf Spur gebracht werden müssen. Diese Paradoxien widersprechen allerdings dem alltäglichen Denken. Deshalb rufen Keynes´ Empfehlungen ohne weitere Erklärung häufig Ablehnung hervor. Denn die Wirtschaft kennen wir vor allem aus der Perspektive unseres eigenen Haushalts oder der Firma in der wir arbeiten. Wir sagen uns, es ist besser für mich, Ersparnisse zu haben als Schulden, deshalb ist es für die gesamte Wirtschaft auch besser zu sparen als Schulden zu haben. Darüber nachzudenken, was passiert, wenn alle das Gleiche tun, sind wir nicht gewohnt. Das muss man üben. Und das werden wir jetzt auch tun. Am besten du vergisst erst einmal, was du über die Wirtschaft bisher gedacht hast und gibst Keynes ungewohnten Einsichten eine Chance, dann werden sich dir verblüffende Perspektiven eröffnen. Bist du bereit für Keynes´ Neustart?«

»Ich bin bereit!«

Abbildung 1

Paradoxien am laufenden Band

»Um das gesamtwirtschaftliche Denken zu üben, schauen wir uns das Geldsystem etwas genauer an. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Denn das richtige Verständnis des Geldsystems ist für Keynes ebenfalls von zentraler Bedeutung: In einer Geldwirtschaft gelten aus seiner Sicht andere Gesetzmäßigkeiten als in einer Tauschwirtschaft. Deshalb ist die Neoklassik für ihn auch nicht auf die heutige Wirtschaft anwendbar. Fangen wir mit einem ganz einfachen Zusammenhang an: Du möchtest ein Auto kaufen, das 10.000 € kostet. Wenn du jetzt das Auto bei dem Händler bezahlst, hast du eine Ausgabe von 10.000 € gemacht und dein Händler eine Einnahme von 10.000 €. Allgemein gesagt: Wenn ich jemandem einen bestimmten Geldbetrag bezahle, dann ist er um diesen Betrag reicher und ich ärmer. Es gilt also folgendes:

  • Jeder Ausgabe von Geld steht eine gleich hohe Einnahme von Geld gegenüber und jeder Einnahme eine gleich hohe Ausgabe.

 Richtig?«

»Klar!«

»Das Beispiel mit dem Autohändler handelt von zwei Personen. Dieser Zusammenhang lässt sich aber auch auf Gruppen anwenden. Angenommen, Deine Klasse spielt im Klassenraum verbotenerweise um Geld. Du verlierst ein bisschen, gewinnst aber auch. Wenn du am Ende des Spiels 50 € mehr in der Tasche hast, muss einer oder mehrere zusammen im Rest der Klasse 50 € weniger haben.«

»Auch klar!«

Abbildung 2

»Du hast mehr eingenommen als du ausgegeben hast. Der Rest der Klasse hat zusammen dagegen mehr ausgegeben als er eingenommen hat. Dieser Zusammenhang gilt natürlich auch für mehrere Gruppen: Wenn die Parallelklasse mitmacht und Deine Klasse am Ende des Spiels 500 € mehr hat, muss die Parallelklasse 500 € weniger haben.«

»Keine Frage. Das sind doch Banalitäten!«

»Das sind Banalitäten, aber auch Banalitäten werden sehr leicht übergangen. Banalitäten dieser Art sind für Postkeynesianer ein zentraler Angelpunkt ihrer Theorie. Wirtschaftstheorien müssen mit den Bilanzen von Zahlungsflüssen im Einklang stehen, sonst sind sie falsch. An Hand dieser Banalität können wir bereits zeigen, wie sich das gesamtwirtschaftliche Denken vom individuellen Denken über die Wirtschaft unterscheidet. Nehmen wir das Beispiel der schwäbischen Hausfrau. In Deutschland geistert oft die Vorstellung herum, die schwäbische Hausfrau sei ein großes Vorbild. Denn die schwäbische Hausfrau lebt nicht über ihre Verhältnisse und verschuldet sich nicht. Sie sorgt für die Zukunft vor, indem sie spart. Wäre es nicht besser wenn sich alle daran halten und brav sparen würden?«

»Hm, klingt auf den ersten Blick überzeugend. Aber wahrscheinlich hat das einen Haken, sonst würdest du mich nicht fragen.«

»Prüfen wir mal die Annahme

SCHWÄBISCHE HAUSFRAU: Für eine Volkswirtschaft wäre es besser, wenn sich alle die schwäbische Hausfrau zum Vorbild nehmen und andauernd sparen würden.

Halte dir jetzt die Aussage (1) vor Augen. Wenn die schwäbische Hausfrau spart hat sie mehr Einnahmen als Ausgaben. Genau wie du während dem Spiel mit deiner Klasse mehr eingenommen hast als du ausgegeben hast. Das bedeutet aber zwangsläufig, dass einer oder mehrere im Rest der Gesellschaft mehr Ausgaben haben müssen als Einnahmen. Das Geld, das du bekommen hast, muss ja vorher jemand besessen haben. Und wenn jemand mehr Ausgaben hat als Einnahmen, spart er nicht. Er muss sein Geldvermögen verringern oder Schulden aufnehmen.

Abbildung 3

Sparen hat also zwingend zur Folge, dass andere nicht sparen. Wenn das so ist, können nicht alle gleichzeitig sparen. Das ist logisch unmöglich. Man kann also nicht gleichzeitig alle Sparer loben und alle die Schulden machen oder ihr Vermögen verringern tadeln. Das ist unsinnig. Denn die Mehreinnahmen des Sparers sind ja von den Mehrausgaben anderer abhängig. Die Annahme SCHWÄBISCHE HAUSFRAU ist also falsch.«

»Das klingt wie das Paradoxon im Kino. Ein paar können ihre Sicht verbessern, wenn sie aufstehen, aber alle können das nicht gleichzeitig. Einige können Sparen aber nicht alle gleichzeitig.«

»Richtig. Das wäre ein ökonomisches Beispiel für ein Paradoxon der Verallgemeinerung. Hier ein weiteres: In Deutschland ist man stolz eine große Exportnation zu sein. In den Medien wurde Deutschland als Exportweltmeister immer wieder bejubelt. Die großen Exporte bringen Geld ins Land und stärken die Wirtschaft. Deutschland hat große Exportüberschüsse, es exportiert seit vielen Jahren wesentlich mehr als es importiert. Wäre es nicht besser, wenn sich alle Deutschland zum Vorbild nehmen würden? Prüfen wir folgende These:

EXPORTÜBERSCHÜSSE: Es wäre für alle Nationen besser, wenn sie sich Deutschland zum Vorbild nähmen und andauernd Exportüberschüsse machen würden.

Ist diese These überzeugend?«

»Natürlich nicht. Das funktioniert ja nicht. Es können nicht alle andauernd mehr exportieren als importieren.«

»Richtig. Wenn Deutschland mehr exportiert als es importiert, dann hat es mehr Einnahmen als Ausgaben. Exporte und Importe müssen ja bezahlt werden. Also müssen ein Land oder mehrere Länder im Rest der Welt mehr Ausgaben als Einnahmen haben. Und das bedeutet, dass diese Länder Ersparnisse reduzieren oder Schulden machen müssen. Einige Länder haben gegenüber deutschen Banken hohe Schulden angesammelt. Es ist nicht nur so, dass nicht alle Exportüberschüsse machen können: Wenn Deutschland Exportüberschüsse macht, entstehen im Rest der Welt in gleicher Höhe Defizite. 2019 exportierte Deutschland Waren im Wert von über 1,3 Billionen Euro, importierte aber Waren im Wert von etwa nur 1,1 Billionen Euro. Im Rest der Welt entstanden Defizite in der Höhe von 224 Milliarden Euro.

Abbildung 4

Es ist wie bei der schwäbischen Hausfrau: Man kann den, der Exportüberschüsse macht nicht loben und zugleich den, der Verluste macht tadeln. Denn wer Exportüberschüsse macht, ist von den Verlusten anderer abhängig. Mir scheint, durch die Lobeshymnen über den Exportweltmeister sind die deutschen Gehirne inzwischen so geschaltet, dass sie sich angesichts dieses Problems sofort an der Quadratur des Kreises versuchen. Aber es hilft nichts: Die These EXPORTÜBERSCHÜSSE ist ebenfalls falsch.«

»Und wieder eine Paradoxie der Verallgemeinerung: Einige können Exportüberschüsse machen aber nicht alle gleichzeitig.«

»Jetzt kommen wir zu einer etwas komplizierteren Paradoxie, aber sie ist auch nicht wirklich schwer zu verstehen. Es handelt sich um Keynes´ berühmtes Sparparadoxon. Wir betrachten jetzt nicht nur die schwäbische Hausfrau, sondern alle privaten Haushalte zusammen. Außer den privaten Haushalten gibt es in der Volkswirtschaft noch die Unternehmen und den Staat. Das ist eine in der Wirtschaftswissenschaft übliche Einteilung einer Volkswirtschaft. Die privaten Haushalte wünschen sich zusätzlich zu ihrem üblichen Einkommen eine hübsche Summe anzusparen. Sie sparen, sagen wir, durchschnittlich 10 % monatlich. Eigentlich ein ehrenwertes Vorhaben. Zu den Unternehmen und dem Staat sagen sie aber: Bitte keine zusätzlichen Schulden, das ist schlecht für unsere Wirtschaft und eure Ersparnisse sollt ihr ebenfalls nicht reduzieren.

Schauen wir uns jetzt an was in der gesamten Wirtschaft passiert. Wenn die privaten Haushalte ihre Ausgaben durchschnittlich um 10 % reduzieren, erhalten die Unternehmen und der Staat durchschnittlich 10 % weniger Einnahmen. Wenn jetzt weder die Unternehmen, noch der Staat Defizite machen, können sie den privaten Haushalten auch nur noch durchschnittlich 10 % weniger an Löhnen, Beamtengehältern usw. ausbezahlen. Das bedeutet, die privaten Haushalte legen zwar durchschnittlich 10 % zurück, erhalten dann aber nur noch durchschnittlich 10% weniger an Einkommen. Mit anderen Worten: Wenn die privaten Haushalte versuchen zu sparen, ohne dass andere Ersparnisse reduzieren oder Schulden machen, können sie nicht sparen. Aus der hübschen Summe wird – im Durchschnitt – nichts werden. Es ist also ähnlich wie bei der schwäbischen Hausfrau: Ein Sektor der Wirtschaft kann nur dann Ersparnisse ansammeln, wenn andere Bereiche der Wirtschaft Defizite machen.«

»Das ist in der Tat überraschend!«

»Schauen wir uns jetzt ein Paradoxon an, das die Löhne und damit auch den Sozialstaat betrifft.«

»Gerne.«

Im nächsten Artikel werden Keynes' Einwände gegen den neoklassischen Arbeitsmarkt und die Geldschöpfung aus postkeynesianischer Sicht erläutert.

Abbildung 5

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert. Grafiken: Tim Neumann.