Makroskop
Keynes on Air

Der New Deal – Roosevelts "Ökonomisches Experiment"

| 16. Dezember 2025

Inmitten der wirtschaftlichen Depression der dreißiger Jahre hielt John Maynard Keynes für die BBC regelmäßig Rundfunkvorträge. In der heutigen wirtschafts- und geopolitischen Krise wirken viele seiner damals revolutionären Vorstellungen wieder überraschend aktuell.

Zum traditionellen Founder's Feast seines King's College lud Keynes im Dezember 1933 als Ehrengast Felix Frankfurter ein, Professor für Verwaltungsrecht in Harvard und in jenem Jahr Gastprofessor in Oxford. Im Verlauf ihres Gesprächs kam die Idee auf, Keynes möge seine wirtschaftspolitischen Ratschläge in einem Brief an Präsident Roosevelt zusammenfassen, den Frankfurter dem Präsidenten zu überbringen versprach. Im Anschluss daran arrangierte Keynes die Veröffentlichung dieses Briefes in The New York Times sowie in The Times um die Jahreswende.

Am 13. Januar 1934 nahm Keynes dies zum Anlass, die amerikanische Wirtschaftslage und insbesondere Roosevelts Politik des New Deal auch für die Hörer der BBC zu kommentieren.

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Die ökonomischen Experimente von Präsident Roosevelt werden sich vielleicht, so denke ich, in der Wirtschaftsgeschichte als außerordentlich bedeutsam erweisen, denn zum ersten Mal – jedenfalls kann ich mich an keinen vergleichbaren Fall erinnern – wird dabei von einem der Herrscher der Welt theoretischer Rat zur Grundlage für umfassendes Handeln gemacht.

Möglich geworden ist ein derart bemerkenswertes Ereignis, weil fast alle herkömmlichen Ratschläge völlig diskreditiert worden sind. Die geistige Verfassung in Amerika, die der Bereitschaft zugrunde liegt, unorthodoxe Experimente auszuprobieren, ergibt sich aus einer Wirtschaftslage, die so verzweifelt ist wie noch nie.

Auch wenn wir hierzulande das Gefühl haben, selbst eine ziemlich schwere Depression erlitten zu haben, ist es dennoch für uns kaum vorstellbar, an welchem Punkte die Dinge in Amerika vor einem Jahr angelangt waren. Die Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch wie die schlimmsten Werte, die je bei uns verzeichnet wurden, die Bauern ruiniert, die Banken zahlungsunfähig, in keiner Richtung ein Hoffnungsschimmer zu erkennen – und all das nur drei Jahre nach einem Höhepunkt des Stolzes und Wohlstands, wie ihn kein anderes Land auf der Welt je erreicht hatte.

Die Ökonomik ist eine rückständige Wissenschaft

Zudem wurde der Kulminationspunkt dieser wirtschaftlichen Katastrophen nach einer Phase erreicht, in der orthodoxer Sachverstand in Finanzfragen und die Hochfinanz der Vereinigten Staaten nach allgemein dafürgehalten großen Einfluss auf Präsident Hoover und seine Berater ausgeübt hatten. Dies also schien das Ergebnis davon zu sein, dass man der sogenannten fundierten Meinung gefolgt war.

Hinzu kamen dann noch die Finanzskandale, die in den Augen der Öffentlichkeit die führenden Persönlichkeiten der Finanzwelt moralisch ebenso sehr diskreditierten, wie sie durch die desaströse Wirtschaftslage intellektuell blamiert worden waren.

Es ist unmöglich, das, was jetzt in den Vereinigten Staaten vor sich geht, angemessen zu würdigen, wenn man sich nicht diesen Hintergrund für den sogenannten New Deal bewusst macht: Hier wird orthodoxer Ratschlag verächtlich beiseitegewischt, und das Staatsoberhaupt kehrt den Finanziers und sogenannten Praktikern geradewegs den Rücken, um sich Theoretikern und Idealisten mit wenig oder gar keiner Erfahrung in diesen Angelegenheiten zuzuwenden.

Es verwundert nicht, dass daraus einige Verwirrung entstanden ist. Der Präsident selbst ist kein Ökonom und behauptet es auch nicht. Die Ökonomik ist im Moment, wenn man gestehen muss und was auch immer man für die Zukunft erhoffen mag, eine rückständige Wissenschaft, in der halbveraltete Ideen weitreichenden Einfluss haben, und zwar in akademischen Kreisen kaum weniger als anderswo.

Es muss für den Präsidenten schwierig gewesen sein zu erkennen, wohin er sich wenden sollte, um den besten verfügbaren Rat zu bekommen. In der Praxis hat er sich gegenüber jedem, der neue Ideen vorzubringen hatte, außerordentlich zugänglich gezeigt, wenn er ihn für unabhängig und uneigennützig hielt.

Natürlich bekam er eine ganze Menge Ratschläge, manche davon unvereinbar mit den übrigen und nicht alle von gleicher Qualität. Da er selbst ein Empiriker ist, der keiner bestimmten Lehre oder Methode anhängt, dabei tolerant, optimistisch, mutig und geduldig, hat er bereitwillig sein politisches Können und die Macht seines Amtes eingesetzt, um allen möglichen Ideen eine Chance zu geben, entschlossen, sie nach den Ergebnissen zu beurteilen, aber erklärtermaßen experimentierend und sorgsam darauf bedacht, sich nicht auf Zeitpläne einzulassen, deren praktische Umsetzung gefährlich oder enttäuschend zu erscheinen begann.

Liberale Reformen

Der Präsident selbst hat sich mit allgemeinen Vorstellungen zufriedengegeben und als Leitungsrohr für die umfassenderen Ideen anderer gewirkt, weil er zu Recht der Auffassung war, dass er sich um die Einzelheiten nicht zu kümmern brauche. Und er hat sich nicht allein damit befasst, die Vereinigten Staaten aus der katastrophalen Depression zu führen.

Ganz genauso und vielleicht noch mehr ist ihm an vielen liberalen Reformen gelegen, von denen einige seit langem überfällig sind. Vor allem hat er sich zum Vertreter des kleinen Mannes gemacht, des Angestellten, des Kleinanlegers, des Kleinbauern, des Bankeinzahlers, des Inhabers kleiner Sparvermögen, gegen die Hochfinanz und die Großunternehmen. Jedermann hat gespürt, dass er generell dafürstand. Das ist zweifellos die Haupterklärung für die außerordentliche Popularität, die ihn im Moment zu einem ebenso mächtigen Diktator in den Vereinigten Staaten macht, wie es irgendeiner der weniger konstitutionellen Diktatoren der heutigen Welt ist.

Es wäre bereits eine ganz schöne Strecke, auch nur die Titel der Maßnahmen durchzugehen, die schon ergriffen wurden, um dem New Deal Gesetzeskraft zu verleihen. Ich kann hier nur ein oder zwei nennen. Der National Industrial Recovery Act oder N. R. A. enthält Elemente zur Sozialgesetzgebung, beispielsweise die Abschaffung der Kinderarbeit und die Regelung der Arbeitszeiten. Außerdem sorgt er für eine branchenspezifische Organisation der Planung, vermeidet dabei aber den für Trusts und Kartelle üblichen Missbrauch.

Neben diesem Gesetz gibt es Maßnahmen zur Unterstützung der Bauern – Vorkehrungen zur Senkung ihrer Hypothekenzinsen, finanzielle Mittel, um Überschüsse an Feldfrüchten aufzukaufen und zu lagern, und Anreize, um den Anbau von Feldfrüchten zu reduzieren, wo es Überproduktion gegeben hat.

Weiterhin sind da die Finanzmaßnahmen des Präsidenten, um es den Einlegern zahlungsunfähiger Banken zu ermöglichen, ihr Geld zurückzubekommen, und sie gegen ähnliche Verluste in Zukunft abzusichern. Hilfen auch für Kleinanleger durch den Securities Act, der weitgehend auf unserer eigenen Gesetzgebung zum Schutz von Investoren beruht, in mancher Hinsicht allerdings noch über unsere Gesetze hinausgeht.

Geldpolitische Maßnahmen des Präsidenten

Kurzfristig am wichtigsten von allen – und auch am zweifelhaftesten und umstrittensten – sind die geldpolitischen Maßnahmen des Präsidenten, die zum Teil darauf zielen, der Gruppe der Schuldner durch eine Anhebung der Preise zu helfen, und zum Teil darauf abzielen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

Die eine Hälfte dieses Programms hat darin bestanden, den Goldstandard aufzugeben, was wahrscheinlich klug war, sowie in einer Reihe von Maßnahmen – sehr technisch, meiner Ansicht nach aber nicht sehr nützlich –, um den Geldwert des Dollar unter dessen natürlichen Wert zu drücken. Es ist wichtig, dass währungspolitische Regelungen nicht die Ausweitung der Geschäftstätigkeit behindern, aber es ist gar nicht so leicht, dies allein durch währungspolitische Einflussnahme zu bewirken.

Die andere Hälfte seines Programms hingegen ist unendlich wichtiger und berechtigt meines Erachtens zu weit größeren Hoffnungen. Damit meine ich den Versuch, die Arbeitslosigkeit durch Ausgaben im großen Umfang für öffentliche Bauvorhaben und ähnliche Zwecke zu bekämpfen. Dieser Teil seines Programms ist nur sehr schleppend in Gang gekommen. Noch im vergangenen Oktober war praktisch nichts dafür ausgegeben worden, und als Folge davon waren Beschäftigung und Produktion erneut eingebrochen.

Doch in jüngster Zeit scheinen die Investitionen beträchtlich höher gewesen zu sein. Die kürzlich vom Präsidenten vorgetragene sensationelle Haushaltserklärung, die vor vierzehn Tagen in den Zeitungen nachzulesen war, sieht enorme Investitionen unter diesen Titeln in naher Zukunft vor – wenn er sein Programm wahr zu machen vermag. Öffentliche Bauvorhaben, Erneuerung von Eisenbahnstrecken, Arbeitslosenhilfe, Subventionszahlungen an Kommunalbehörden, weitere Hilfen für die Bauern und so fort summieren sich zu dem enormen sogenannten Defizit – von dem allerdings das meiste durch erstklassige Vermögenswerte gedeckt wird.

Ich bezweifle, dass es seiner Regierung in der Praxis möglich sein wird, das ganze Programm zu verwirklichen. Es wird vielleicht mehr Zeit in Anspruch nehmen, es umzusetzen, als gegenwärtig veranschlagt ist. Aber wenn es dem Präsidenten gelingt, einen wesentlichen Teil seines Programms auszuführen, dann erwarte ich persönlich eine erhebliche Verbesserung der amerikanischen Wirtschafts- und Beschäftigungslage innerhalb von sechs Monaten.

Wie dem auch sei: Diejenigen unter uns – und derer sind viele –, die die Idee der Revolution und der Umwälzung all der guten Dinge, die langsam wachsen, nichts abgewinnen können, die aber von unserem gegenwärtigen Versagen beunruhigt sind, die Gelegenheit zu nutzen und das Problem der Armut zu lösen, werden im Grunde ihrer Herzen hoffen, dass ein Mann, der auf diese Weise kühn und sogar frohgemut neue Wege beschreitet, mit keinem anderen Ziel als der Wohlfahrt seines Volkes, darin erfolgreich zu sein vermag.

Ich bin davon überzeugt, dass er die erste Runde für sich entscheiden wird. Die Zeit der Prüfung, die wirklich schwierigere Aufgabe, kommt danach: nämlich den einmal gewonnenen Boden zu behaupten und die fatalen Rückfälle zu vermeiden, die in jüngster Zeit stets unser Wirtschaftssystem gekennzeichnet haben.

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Zuerst erschienen in englischer Sprache bei Macmillan Publishers Limited im Auftrag der Royal Economic Society und als Teil von „The Collected Writings of John Maynard Keynes“ und herausgegeben von Professor Sir Austin Robinson und Professor Donald Moggride. Die kursiven Zwischenzeilen sind kein gesprochenes Wort, sondern wurden von der Redaktion eingefügt. Übersetzung ins Deutsche: Michael Hein.