Kirchen unter Druck: Zwischen Friedensethos und Zeitenwende
Die deutschen Kirchen ringen mit ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg. Neue Stellungnahmen von der EKD und Bischofskonferenz setzen stärker auf nationale Sicherheit und militärische Abschreckung. Kritiker aus beiden Konfessionen warnen vor einer Abkehr vom christlichen Friedensethos.
Die Zeitenwende hat auch die deutschen Kirchen erreicht. Im Herbst veröffentlichten die deutschen Kirchenführungen beider Konfessionen Erklärungen zur Sicherheitspolitik und der Wieder-Einführung der Wehrpflicht. Mit der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Debatte um die Wehrpflicht und der Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands Welt in Unordnung reagieren sie damit auf die nach breiter Meinung drastisch veränderte Sicherheitslage, die 2022 durch den russischen Angriff auf die Ukraine entstanden ist.
Während diese neuen Positionsbestimmungen vielerorts begrüßt wurden – endlich sei in den Kirchen mehr Realismus eingekehrt – wurden auch deutlich kritische Stimmen laut.
Kritik aus evangelischer Sicht
Jan Gildemeister, ist als gelernter Politikwissenschaftler seit langem friedenspolitisch tätig. Seit 25 Jahren unter anderem als Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e.V. (AGDF). Er ist außerdem Mitautor des Buches Frieden suchen in konfliktreichen Zeiten, in dem die These vertreten wird, dass sich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts militärisch nicht lösen lassen. Unter anderem wird darin der Frage nachgegangen, welche friedenspolitische Rolle die Kirche spielen kann.
Herr Gildemeister, Sie haben gemeinsam mit anderen eine ausführliche Kritik der Denkschrift der EKD Welt in Unordnung geschrieben. Was sind Ihre wichtigsten Kritikpunkte?
Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt in der neuen Denkschrift zu einer zentralen Akzentverschiebung: Dem Schutz vor Gewalt wird abweichend von der Denkschrift von 2007 größere Bedeutung beigemessen als weltweite Gerechtigkeit, Freiheit und eine gesellschaftliche Pluralität. Sie folgt nicht mehr dem Konzept menschlicher Sicherheit, das auch die soziale oder wirtschaftliche Situation der Menschheit berücksichtigt, sondern setzt auf nationale Sicherheit.
Inwiefern ist das problematisch?
Ein solches Konzept wird der Realität im Großteil der Welt nicht gerecht. Zudem sind die Konsequenzen, die aus dieser Priorisierung gezogen werden, sehr problematisch: Schutz vor Gewalt wird so interpretiert, dass Deutschland militärisch gesichert werden muss. Angesichts der Bedrohung braucht es dafür Aufrüstung, während an anderer Stelle gekürzt werden muss. Nicht Kriegsdienstverweigerung ist das deutlichere Zeugnis für Christen, vielmehr leisten Soldaten den wichtigeren Dienst. Und nukleare Abschreckung wird für notwendig gehalten – ohne die Risiken zu beschreiben und Schritte zu deren Abrüstung einzufordern. Während die Denkschrift gewaltfreien Instrumenten der Konfliktbearbeitung kaum etwas zutraut, wird unhinterfragt auf militärische Gewalt gesetzt.
Nach meinen – zugegeben beschränkten - Erfahrungen wird in den Gottesdiensten und Gemeinden zu den brennenden Fragen - Ukraine, Gaza, Militarisierung – eher geschwiegen. Entspricht das auch Ihren Erfahrungen? Was kennzeichnet die aktuellen Debatten in den Kirchen?
Ich habe da sehr unterschiedliche Gottesdienste erlebt, zumindest in Fürbitten geht es häufig um den Unfrieden in der Welt. Problematisch finde ich, wenn sich kirchliche Leitungsgremien angesichts der Gewalt in Westasien bzw. Nahost sehr schwer tun, die Rolle der israelischen Politik klar zu benennen. Es ist höchste Zeit, dass die aktuellen friedenspolitischen Themen wie Aufrüstung, Wehrpflicht oder Wege aus dem Ukraine-Krieg kontrovers und zugleich konstruktiv auch an der Kirchenbasis diskutiert werden. Als AGDF werden wir dies anregen und unterstützen.
Die evangelische Kirche scheint nach dem Schock des russischen Überfalls wieder „gerechte Kriege“ und notfalls sogar „Präventivkriege“ zu unterstützen. Wenn ich mich kritisch dazu äußere, bekomme ich in der Regel drei verschiedene Antworten: Die erste: Wir haben die moralische Pflicht, ein angegriffenes Land zu verteidigen. Die zweite: Wir müssen gegen Russland unsere Freiheit verteidigen. Die dritte: Was willst Du anderes erwarten – dass die Kirchen Kriege rechtfertigen, ist doch schon seit Jahrhunderten der Fall. Und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche macht das ja auch.
Es ist erst einmal richtig, sich mit denjenigen solidarisch zu zeigen, die von einem anderen Staat angegriffen wurden. Die Denkschrift geht zum Glück nicht so weit, dass sie dafür Waffenlieferungen für moralisch geboten ansieht. Sie hält an einem Vorrang für Gewaltfreiheit und eng gefassten Kriterien für einen legitimen Militäreinsatz fest. Dies wirkt zugleich unglaubwürdig, wenn Aufrüstung und atomare Abschreckung befürwortet werden. Ich würde aber nicht so weit gehen, dass die EKD Kriege rechtfertigt. Was sie aber in der Denkschrift versäumt ist, Alternativen aufzuzeigen und eine Stärkung der Friedens- und Versöhnungsarbeit zu fordern.
Ist es gemäß Ihren Erfahrungen möglich, realen Konflikten mit allgemeinen moralischen Werten beizukommen?
Krisen und Konflikte zeichnen eine große Komplexität aus. Um auf den Ukrainekrieg zurückzukommen: Es fehlt die Ehrlichkeit in der Denkschrift, dass auch die Politik von NATO-Staaten zum Versagen einer gemeinsamen Sicherheitsordnung beigetragen hat: Internationale Verträge wurden vorrangig durch die USA gekündigt, ohne das Sicherheitsempfinden Russlands zu berücksichtigen, wurden immer mehr osteuropäische Staaten aufgenommen. Um einen sinnvollen Beitrag zur friedlichen Transformation von militärisch ausgetragenen Konflikten leisten zu können, bedarf es zunächst einer ehrlichen Analyse der Ursachen und der aktuellen Situation sowie eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Aber auch ein moralischer Kompass ist zentral, der einer Friedenslogik folgt und nicht einer militärischen Sicherheitslogik.
Umfragen zufolge ist die Jugend in Deutschland wenig davon begeistert, ihr Leben im Militäreinsatz für die Freiheit unseres Landes zu opfern. Aber dennoch scheinen auch viele ehemalige Wehrdienstverweigerer das für unabdingbar zu halten.
Alle deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die volljährig werden, werden ab 2026 vor die Frage gestellt, ob sie einen Wehrdienst leisten und damit bereit sind, andere Menschen zu töten und dabei selbst getötet zu werden. Die Entscheidung, wofür sie kämpfen müssen, ob vor der sudanesischen Küste oder in Litauen, trifft für sie die Politik. Mich ärgert, dass eine ehrliche Debatte darüber fehlt, wie konkret die Bedrohung durch Russland wirklich ist und was es real wie zu verteidigen gilt. So lässt die Politik die jungen Menschen alleine. Zugleich werden die Möglichkeiten militärischer Gewalt völlig über- und deren negative Folgen unterschätzt.
Kann und sollte man von der Kirche eine andere Haltung erwarten?
Für mich besteht die Kirche aus allen Christinnen und Christen, nicht nur aus dem Rat der EKD oder der katholischen Bischofskonferenz. Dass die neue Denkschrift in der Kirche auf breite Kritik stößt, zeigt, dass die Debatte erst begonnen hat. Ich gehe davon aus, dass manche Aussage in der Denkschrift zumindest relativiert und die Bedeutung von Friedensarbeit und gewaltfreier Konfliktbearbeitung in anderen Stellungnahmen betont wird. Und ich bin zuversichtlich, dass ein Teil der Kirche einen Beitrag dazu leisten wird, dass die militärische Zeitenwende hinterfragt und die laufende Hochrüstung kritisiert wird.
Kritik von katholischer Seite
Der Europa-Parlaments-Abgeordnete und praktizierende Katholik Michael von der Schulenburg, der mehr als 25 Jahre lang UN-Friedensmissionen leitete, befand in einem Offenen Brief an Pax Christi, die Erklärung lese sich wie eine Rechtfertigung von Kriegsvorbereitungen. Denn das Argument einer „sicherheitspolitischen Bedrohung durch Russland“, also einer unmittelbaren Kriegsgefahr für Deutschland, sei darin unkritisch übernommen worden. Das sei für Bischöfe einer weltumspannenden Kirche nicht akzeptabel. Eine solche Kriegsgefahr werde nur von europäischen NATO-Mitgliedern (und insbesondere der Bundesregierung) behauptet. In den USA hingegen sei in den jährlich erscheinenden gemeinsamen „Gefahrenanalysen der US-Geheimdienste“ nie von einer derartigen Bedrohung die Rede. Auch in den vielen Ländern außerhalb der NATO, in denen heute die Mehrheit der Christen lebt, werde eine Gefahr, dass Russland letztlich auch uns angreifen würde, offenbar nicht gesehen.
Die sicherheitspolitischen Überlegungen in der westlichen Welt, so von der Schulenburg, würden heute vom Satz des römischen Militärschriftstellers Publius Flavius Vegetius Renatus aus dem 4. Jahrhundert geprägt: Si vis pacem, para bellum – Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. „Doch dieser Spruch geht davon aus, dass der Mensch dem Menschen stets ein Feind ist und Frieden nur durch Waffen erzwungen werden kann. Das ist ein zutiefst menschenverachtendes Weltbild,“ sagt der Europa-Abgeordnete. Eine weitaus christlichere Haltung sei das positive Menschenbild, das auch der UN-Charta zugrunde liege. Dieses gehe davon aus, dass der Mensch durch Vernunft und Vertrauen in der Lage ist, Konflikte friedlich zu lösen – auf eine Weise, die von allen Seiten akzeptiert werden kann.
Anstatt die eigene Kriegstüchtigkeit abzusegnen, wäre es deswegen die vordringliche Aufgabe einer christlichen Gemeinschaft, Gegner nicht zu verteufeln, sondern sich diesen verständnisvoll und ausgleichend zu öffnen, gibt von der Schulenburg zu bedenken. Die Anwendung diplomatischer Prinzipien zur Lösung von Konflikten – wie (i) dem Gegner Respekt zu zollen, (ii) auch seinen Narrativen zuzuhören und (iii) den Versuch zu unternehmen, seine Positionen zu verstehen – seien Prinzipien, die einer christlichen Kirche besser zu Gesicht stünden als die nun veröffentlichte bischöfliche Erklärung zum Wehrdienst.
Von den deutschen Bischöfen wünscht er sich deswegen, dass sie ihre Energie stärker darauf richten, Gesprächsfäden aufzunehmen und Friedensperspektiven zu entwickeln. Er selbst habe das gemeinsam mit anderen bereits im Sommer 2022, also vier Monate nach Ausbruch des Krieges, getan. Und zwar an der Päpstlichen Akademie des Vatikans, der Pontificia Academia Sancti Thomae Aquinatis, die 1879 von Papst Leo XIII., dem Namensvorgänger und Vorbild des heutigen Papstes, gegründet wurde.