Editorial

Europas Geister

| 15. Dezember 2020
istock.com/Andrii Zorii

Liebe Leserinnen und Leser,

die EU wird ihre Geister nicht mehr los. Viele Glaubensätze, die vor Corona galten, halten sich hartnäckig. Also wird geflickschustert. Doch so einfach verschwinden die alten und neuen Probleme nicht – hören Sie einfach auf einen Ihnen wohlbekannten Ökonomen.

Symbolfigur

Vor vier Tagen, am 12. Dezember, hatte Heiner Flassbeck Geburtstag. Werner Vontobel würdigt ihn als einen Ökonomen, der sich mit seiner unermüdlichen Kritik am Eurosystem mehr Feinde, denn Freunde gemacht hat. Flassbeck, so Vontobel, sei einer der wenigen Ökonomen, der 1 und 1 zusammenzählen kann. Mit seiner Diagnose der Dysfunktionalität der Währungsunion und insbesondere des deutschen Lohndumpings lag er richtig. Recht bekommen hat er dennoch nicht. Warum? Warum gibt es in der Ökonomie das Phänomen Flassbeck?

Vontobel sieht den Grund darin, dass Flassbecks Einsichten – nachdem man die Währungsunion faktisch kaputt gemacht hatte – erst recht nicht mehr salonfähig gewesen seien. Sie hätten bedeutet, dass Deutschlands Reallöhne zehn Jahre lang rund 2% schneller steigen müssten als im Rest der Währungsunion, um Ungleichgewichte zu beseitigen. Stattdessen auferlegte die EU-Kommission den »Sünderländern« drastische Sparmaßnahmen. Sie sollten den Gürtel enger schnallen, um so ihre Schulden zurückzahlen zu können.

Das sei die wichtigste Lektion, die Vontobel von ihm gelernt habe: Keine Wissenschaft wird so sehr von der Macht pervertiert wie unsere. Und Heiner Flassbeck ist dafür die Symbolfigur.

Notgeburt

Beleg für Flassbecks Diagnose ist nicht zuletzt der Europäische Stabilitätsmechanismus, kurz ESM. Es bedarf offensichtlich eines quasi-staatlichen Organs, das die Zahlungsfähigkeit der Mitgliedsländer in ihrer eigenen Währung sichert, konstatiert Paul Steinhardt. Eine solche Instanz aber gibt es im Eurosystem nicht, weil man die Mitgliedsländer unwiderruflich der sogenannten Marktdisziplin unterwerfen wollte.

Anstatt nun aber die dysfunktionalen Regeln des Eurosystems über Bord zu werfen, hat man mit dem ESM die Währungshoheit teilweise auf ein Finanzinstitut übertragen, das bei der Mittelvergabe den Ländern, die die Refinanzierung des ESM garantieren, ein Mitspracherecht einräumt. Brisant: Anders als die EZB, ist der ESM nicht Teil des EU-Institutionsensembles, sondern ein in Luxemburg ansässiges und von der EU unabhängiges Finanzunternehmen, das von EU-Mitgliedsländern auf Basis eines intergouvermentalen Vertrags gegründet wurde.

Für die deutsche Presse ist die jüngste Reform des ESM dennoch ein Erfolg für die Finanzstabilität, weiß Steinhardt. Wer sich weigert mitzufeiern, ist gegen »Europa«, ein Nationalist und Feind der wirklichen Freiheit.

Hoffnungszeichen

Der Spiegel erblickt ein »Hoffnungszeichen für die Welt«, genauer für die Weltwirtschaft: Der verheerenden und nicht enden wollenden Pandemie zum Trotz sollen »einige Entwicklungen sogar auf einen globalen Aufschwung hin[deuten]«.

Deutschland als Exportnation soll an diesem Aufschwung kräftig Anteil haben. Und tatsächlich steigen die Aufträge im Verarbeitenden Gewerbe nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes auch im Oktober weiter an, wie unser Konjunkturbericht zeigt. Saison- und kalenderbereinigt liegen sie um 2,9 % höher als im September.

Zum »Hoffnungszeichen« gehört auch, dass der geliebte deutsche Export nach dem heftigen Aprilschock endlich wieder zum Erfolgsmodell zu werden scheint. So stiegen die Auslandsaufträge im Vergleich zum Vormonat um 3,2 %.

Die gute konjunkturelle Entwicklung im Oktober im verarbeitenden Gewerbe überrascht, handelt es sich doch um einen Monat, der bereits wieder von erheblichen Shutdowns in Europa geprägt war. Die optimistischen Prognosen der deutschen Wirtschaftsinstitute scheinen sich also vorerst zu bestätigen. Man geht auf das Jahr gerechnet nur noch von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 5,2 % aus.

Weniger optimistisch sind allerdings nach wie vor die Unternehmen. Vor allem die Erwartungen im Dienstleistungssektor sind von deutlichem Pessimismus geprägt. Die Geschäftsunsicherheit ist gestiegen. Für die Branche scheint klar: Die zweite Corona-Welle hat die Erholung der deutschen Wirtschaft unterbrochen. Und der Einzelhandel warnt angesichts des Lockdowns inmitten des Weihnachtsgeschäfts schon vor einer Pleitewelle.

Lackmustest

Um solche wirtschaftlichen Zusammenbrüche zu verhindern, schaffen die Regierungen in großem Stil neues Geld. In Amerika zum Beispiel stieg die Geldmenge zwischen Februar und Oktober um drei Billionen Dollar – ein Wachstum von zwanzig Prozent in sieben Monaten.

Wer glaubt, dass die Preise wegen dem vielen Geld steigen werden, der erwartet, dass 2021 das Jahr der zurückkehrenden Inflation sein wird. Das ist das Mantra der Monetaristen: Nach Jahren der Deflationsbekämpfung ist das Inflationsgespenst zurück. Die Wirtschaft, sie wird wegen der unverantwortlichen Geldpolitik zusammenbrechen.

Unter den Ökonomen bilden die Monetaristen jedoch eine kleine Minderheit. Die amerikanische Federal Reserve und auch die Europäische Zentralbank vertreten längst eine gänzlich andere monetäre Schule. Sicher aber sei, schreibt Dirk Bezemer: Die kommenden Jahre werden ein Lackmustest für verschiedene Inflationstheorien sein. Interessant für Ökonomen, aber auch für den Rest der Menschheit. Denn das Experiment findet nicht unter Laborbedingungen statt und kann auch nicht wiederholt werden.