Gewinnen ist alles
Nach zwei Tagen und einer Nacht, zu schweigen von mehreren Wochen gegenseitiger Beschuldigungen und Erpressungen, erklärten sich siebenundzwanzig nationale Regierungen, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament allesamt zu Gewinnern. Ein Wunder?
Das erste, was man über Brüssel wissen muss, ist, dass dort nichts so ist, wie es scheint, und dass man alles auf unterschiedlichste Weise – jedem sein eigenes »Narrativ« – darstellen kann. Außerdem ist die Zahl der Akteure und Spielfelder riesig und verwirrend, und eingebettet in einen institutionellen Rahmen, genannt »die Verträge«, der so kompliziert ist, dass kein Außenstehender ihn versteht. Wer sich auskennt, findet darin unzählige Möglichkeiten zur Verschleierung, zu verfahrenstechnischen Tricks, zu ausweichenden Zweideutigkeiten, Vortäuschungen und Ausreden – widersprüchliche Interpretationen und alternative Fakten sind willkommen.
Und obendrein gibt es ein tief verwurzeltes, stillschweigendes Verständnis unter den Mitgliedern jenes höchst exklusiven und geheimen Gremiums, des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs, wonach es die Pflicht eines jeden von ihnen ist, dafür zu sorgen, dass keiner von ihnen als Verlierer nach Hause zurückkehren muss, damit alle auch weiterhin gewillt sind, das Spiel weiter zu spielen.
Zum Beispiel der Corona-Wiederaufbau-Solidaritäts-Fonds. Das erste, was man wissen muss, ist, dass er nichts mit Corona zu tun hat und alles mit der Rettung der italienischen Regierung vor Signor Salvini. Das zweite, dass er auch nichts mit europäischer Solidarität zu tun hat: Jedes Land bekommt etwas und niemand zahlt etwas, da der Fonds durch Schulden und nur durch Schulden finanziert wird – eine supranationale Erweiterung des Schuldenstaates (Schulden statt Steuern). Außerdem weiß niemand, wie diese Schulden bedient und zurückgezahlt werden sollen, und es interessiert auch keinen, da die Rückzahlung erst in sieben Jahren beginnen soll.
Höchstwahrscheinlich wird sie ohnehin durch neue Schulden oder, über irgendeinen geheimnisvollen Kanal, durch die Europäische Zentralbank getätigt werden. Das wäre natürlich gemäß den Verträgen illegal, aber dasselbe gilt ja wohl auch schon für die Schuldenaufnahme selber. Vermutlich müssen auch alle 27 nationalen Parlamente dem Fonds zustimmen, aber darüber macht sich niemand Gedanken, da ja alle einen Anteil an der Beute bekommen.
Das bedeutet nicht, dass nun Friede, Freundschaft, Eierkuchen herrschen. Imperien hängen von einem erfolgreichen Management der peripheren durch die zentralen Eliten ab. In der EU wird erwartet, dass die peripheren Eliten entschieden »pro-europäisch« auftreten. Konkret bedeutet das, dass sie für die »immer engere Union der Völker Europas« sein müssen, die von Deutschland und, mehr oder weniger, Frankreich durch die Brüsseler Bürokratie gesteuert wird.
Deutschland und die Europäische Kommission verdächtigen seit langem die derzeitigen Regierungen von Ungarn und Polen, nicht ausreichend »pro-europäisch« zu sein. Ähnliche Verdächtigungen werden auch im sogenannten Europäischen Parlament geäußert, das keine Mitglieder duldet, die nicht für »mehr Europa« sind. (»Mehr Europa« ist die raison d'être dieses seltsamen Parlaments, das weder eine Opposition noch ein Recht zur Gesetzesinitiative hat.) EP-Mitglieder aus Ungarns und Polens liberalen Oppositionsparteien finden daher reichlich Unterstützung dafür, den nicht-liberalen Regierungen ihrer Heimatländer europäische Gelder vorzuenthalten, um die dortigen Wähler glauben zu machen, dass sie mehr Geld von »Europa« bekommen, wenn sie für »pro-europäische« Parteien stimmen. Warum also nicht Zahlungen aus dem Corona-Fonds davon abhängig machen, dass ein Land die Einhaltung der »Rechtsstaatlichkeit« gewährleistet, wobei »Rechtsstaatlichkeit« so definiert wird, dass es der Politik der gewählten nicht-liberalen Regierungen an Rechtsstaatlichkeit gebricht?
Klingt gut? Nun, es gibt die Verträge. Nach den Verträgen bleiben die Mitgliedsländer, auch Hilfeempfänger wie Ungarn und Polen, souverän, und ihre innenpolitischen Institutionen und Entscheidungen, zum Beispiel in der Familien- und Einwanderungspolitik, sind Sache ihrer Wähler, nicht die von Brüssel oder Berlin. Wenn es um die rechtlichen Institutionen eines Landes geht, ist das einzige, was die EU legitim etwas angeht, ob die EU-Gelder ordnungsgemäß ausgegeben und abgerechnet werden. Hier aber hat Polen eine makellose Bilanz, und Ungarn scheint noch auf oder über dem Niveau »pro-europäischer« Länder wie Bulgarien und Rumänien zu stehen, von Malta ganz zu schweigen.
Was also ist zu tun? In Brüssel gibt es immer einen Weg. Kommission und Parlament versuchen seit einiger Zeit, Polen und Ungarn mithillfe einer anderen Bestimmung in den Verträgen zu bestrafen, die es Mitgliedsländern verbietet, die politische Unabhängigkeit (»Rechtsstaatlichkeit«) ihrer Justiz zu beschneiden. Aber das ist eine so mächtige Keule, dass ihre Anwendung Einstimmigkeit unter den jeweils übrigen Mitgliedsstaaten erfordert, hier würden sich Ungarn und Polen gegenseitig decken. (Auch könnte ein solches Verfahren unangenehme Fragen nach der politischen Unabhängigkeit anderer Höchstgerichte, zum Beispiel des französischen Conseil d'Etat aufwerfen).
Nun aber kommt der Corona-Fonds ins Spiel, und mit ihm die Idee eines sogenannten »Rechtsstaatsmechanismus«, mit dessen Hilfe Zuwendungen der EU ohne Erfordernis der Einstimmigkeit, dennoch aber unabhängig vom nachzuweisenden Einzelfall widerrechtlicher Mittelverwendung gestrichen oder zurückgefordert werden können – und zwar dann, wenn es nach Einschätzung der EU in einem Land an Rechtsstaatlichkeit fehlt, also an einer unabhängigen Justiz, einschließlich eines liberalen Verfassungsgerichts, und vielleicht auch an der Bereitschaft, zur Aufnahme von Flüchtlingen nach Maßgabe einer EU-Verteilungsquote.
Kann das funktionieren? In Brüssel ist, wie gesagt, vieles möglich. Die Argumentation ist ähnlich wie die, mit der sich die Europäische Zentralbank vor dem Europäischen Gerichtshof gegen das deutsche Bundesverfassungsgericht durchgesetzt hat (im sogenannten PSPP-Urteil). Überschreiten Organe der Europäischen Union ihre Zuständigkeit, wenn sie in Ausübung derselben diese weit auslegen, weil sie sie nach ihrer Einschätzung anders nicht (mehr) wirksam ausüben können. Dagegen insistierte das deutsche Gericht, dass die europäischen Befugnisse strikt auf das beschränkt sind, was die Mitglieder ausdrücklich in den Verträgen zugestanden haben, und wenn mehr europäische Befugnisse benötigt würden, müssten die Verträge entsprechend geändert werden, was nicht nur Einstimmigkeit, sonders diverse Volksabstimmungen erfordert. Eben hierauf beriefen sich nun die Regierungen Polens und Ungarns (der polnische Außenminister in einem Namensartikel in der FAZ vom 26. November, unter dem Titel »Die EU-Verträge sind heilig«), und dies war der Punkt, an dem das Ringen begann.
Zug I (die EU): Wir laden Sie ein, dem Corona-Fonds zuzustimmen, einschließlich des Rechtsstaatsmechanismus und der Gefahr, dass Sie nichts bekommen, es sei denn, Sie kehren um und verlassen Ihren illiberalen Weg. Was Sie dafür machen müssen, wird Ihnen zum geeigneten Zeitpunkt mitgeteilt. Gegenzug (Polen und Ungarn): Wir werden niemals für diesen Mechanismus stimmen, also vergessen Sie Ihren Fonds. Zug II: Wenn Sie gegen den Mechanismus und damit gegen den Fonds stimmen, werden wir einen Fonds für die anderen Länder einrichten, 25 an der Zahl, und dafür werden wir auch eine Vertragsgrundlage finden, die Verträge sind lang und komplex genug, Papier ist geduldig, wie die Deutschen sagen, und Sie werden keinen verdammten Cent bekommen. Gegenzug: Das wäre aber gar nicht nett, es wäre nicht europäisch (na ja…), und im Übrigen wäre es illegal. Der Chor (die deutsche Presse, singend und tanzend): Seht her, Geld regiert die Welt; sie tun, was man ihnen sagt, denn sie wollen unser Geld. Ist es nicht schön, reich zu sein?
Auftreten die Präsidenten, angeführt von Merkel, dea ex machina, Meisterin der Geschlossenen Sitzung, die das Land vertritt, das zufällig in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 formell den Vorsitz über die anderen Länder innehat, und informell sowieso. Deutschland braucht Osteuropa fürs Geschäft. Es glaubt auch, den Amerikanern nicht das Monopol auf antirussische Geopolitik überlassen zu dürfen. Deshalb, aus »historischen Gründen« sowieso, lieber kein Streit mit Polen über polnische Souveränität. Nach vielem Hin und Her, in der Dunkelkammer internationaler Diplomatie mit 27 Parteien, stimmen Polen und Ungarn dem Corona-Wiederaufbau-und-Solidaritäts-Fond zu, ergänzt durch ein Dokument zum Rechtsstaat. Diesem zufolge wird die Kommission eine »Haushaltssicherungsrichtlinie« erlassen, die Corona und alle anderen EU-Subventionen an ein nationales Rechtssystem bindet, das politisch unabhängig genug ist, um eine korrekte Verwendung erhaltener EU-Gelder zu gewährleisten und so gefasst ist, das es über die bisherige Rechtslage hinausgeht. (Wie, wird man sehen.)
Die Richtlinie wird nicht in Kraft treten, bevor sie nicht vom Europäischen Gerichtshof überprüft wurde. In der Zwischenzeit - wahrscheinlich bis Anfang 2023 - wird die Kommission keine Maßnahmen ergreifen, und an alle 27 Länder wird Corona- und anderes Geld fließen. Sobald, und falls, der »Mechanismus« die Prüfung durch den Gerichtshof bestanden hat, kann die Kommission ein Verfahren gegen Polen, Ungarn oder beide einleiten, um bereits ausgezahlte Gelder zurückzufordern, und kann zur Begründung behaupten, dass die polnischen und ungarischen Rechtssysteme so verrottet, also politisiert, sind, dass man von ihnen grundsätzlich nicht erwarten kann, dass sie Urteile nach Art des Rechtsstaats fällen. Es ist klar, dass dies noch mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, und niemand weiß, wie die Welt dann aussieht und was die Mitgliedsstaaten dann für Sorgen haben werden.
In Europa wirken Gnadenfristen Wunder. Im Moment herrscht überall Freude: bei den diversen Präsidenten, dem Parlament (das glaubt, nunmehr einen Mangel an »pro-europäischer« Gesinnung durch Geldentzug korrigieren zu können), der Kommission (die ein neues Spielzeug bekommt, um Mitgliedsstaaten an der Peripherie des Imperiums schikanieren zu können), dem Gerichtshof (der sich über eine neue Zuständigkeit freuen kann) und bei den nationalen Regierungen einschließlich Ungarns und Polens (die nicht über die informellen Zusicherungen sprechen wollen, die sie im Dunkeln glauben erhalten zu haben). Die Politik des Aufschubs, Merkels Lieblingsdisziplin, kennt nur Gewinner – so lange sie währt.