SPOTLIGHT SPEZIAL

Das war 2022 unter dem Makroskop

| 29. Dezember 2022
istock.com/Jakub Laichter

Liebe Leserinnen und Leser,

die traditionellen Neujahrswünsche haben wenig geholfen: 2022 ist kaum besser geworden als das vergangene Jahr. Beherrschte 2021 die Corona-Pandemie das Weltgeschehen, war es 2022 der Ukraine-Krieg – mit all seinen Folgewirkungen, die uns weit ins neue Jahr und darüber hinaus beschäftigen werden. Damit steht nach 2020 und 2021 auch 2022 im Zeichen einer sich ausweitenden „Polykrise“. Wir stehen am Anfang einer Epoche, die als Zeit der Umwälzungen in Erinnerung bleiben wird und die auch den redaktionellen Inhalt von MAKROSKOP geprägt hat.

Und so werfen wir in diesem Spotlight zum Jahresende einen Rückblick und bieten Ihnen eine Auswahl unserer erfolgreichsten und meistgelesenen Artikel, Essays, Analysen und Kommentare, die in den vergangenen zwölf Monaten Ihren Nerv getroffen oder auch polarisiert haben.

Einen scharfsinnigen Prolog bietet Eric Bonse. Es ist ein Nachruf auf die „Friedensunion“. Mit dem Ukraine-Krieg werden die Karten neu gemischt ‒ nicht nur in der Ukraine und Russland, sondern in ganz Europa. Deutschland gibt nicht mehr den Ton an, das Europaparlament spielt nur noch eine Statistenrolle. Die EU hat kein starkes Blatt erwischt, eine klare Strategie ist in ihrem Spiel nicht zu erkennen. Wie bei früheren Krisen wirken die EU-Politiker wie Getriebene, nicht wie selbstbewusste und zielstrebige Akteure. Über eine neue europäische Friedensordnung wird in Brüssel nicht einmal diskutiert. Über den Sinn und Zweck von Wirtschaftssanktionen auch nicht. Die EU führt einen Wirtschaftskrieg, der Europa spaltet, statt es zu einen.

Vieles von dem haben wir auf MAKROSKOP kritisch begleitet. So auch das verkürzte Narrativ der medialen Berichterstattung, die den Beginn des Ukraine-Kriegs auf den 24. Februar 2022 mit der Invasion Russlands datiert. Außen vor bleibt allzu oft die Vorgeschichte eines schon lange schwelenden Konflikts, wie Ulrike Simon schreibt. Und auch Peter Wahl betont, dass wir es schon seit Jahren mit einem Kalten Krieg zu tun haben. Er sieht einen Prozess, in dem Kontinuität und Bruch miteinander amalgamiert sind. Insofern ist für ihn die Rede von der „Zeitenwende“ eine unzutreffende Vereinseitigung. Die Zeiten haben sich schon vorher geändert.

Ein weiteres beliebtes Narrativ des Jahres war, dass wir mit unseren Importen von russischem Öl und Gas den Krieg Russlands finanzieren würden. Also müssten wir Putin mit einem Energieembargo den Geldhahn zudrehen. Die ökonomischen Folgen eines solchen Energieboykotts für Deutschland und Europa wurden als beherrschbar oder aber als notwendiger Preis gesehen, den wir zu zahlen bereit sein müssten. Dem widerspricht Günther Grunert: Die Vorstellung, mit einem sofortigen Boykott von Öl und Gas die russische Kriegsmaschinerie stoppen zu können, ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Denn den Krieg würde dies nicht verkürzen oder gar beenden, wohl aber die Gefahr einer schweren Wirtschaftskrise mit massiven und dauerhaften Folgen heraufbeschwören.

Tatsächlich häufen sich die Alarmmeldungen zum Zustand der deutschen Industrie seit Monaten. Das Ifo-Institut meldete bereits im März 2022 einen „historischen Einbruch“ bei den Geschäftserwartungen. Das „substanzielle Rezessionsrisiko“ (Sachverständigenrat) ist längst zu einer Rezessionserwartung geworden – und das, obwohl Deutschland noch nicht einmal das Vor-Corona-Niveau erreicht hat. Im Gegenteil, der vielfach prognostizierte Post-Pandemie-Boom fällt in Deutschland ganz aus.

Andreas Nölke lokalisiert die Ursache dieser Meldungen im Exportsektor: Die ausgeprägte Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft mag in den letzten fünfzehn Jahren zu einem soliden Wirtschaftswachstum und einer vergleichsweise geringen Arbeitslosigkeit geführt haben, weist aber in Zeiten der Deglobalisierung nun deutlich zunehmende Nachteile auf. Der Ukraine-Krieg, so Nölke, könnte ein Sargnagel dieses Exportmodells sein…

…und womöglich ebenso für das deutsche Sozialmodell. Auch hier ist längst von einer Zeitenwende die Rede: So plädierte der Präsident des Bundessozialgerichts Rainer Schlegel im Mai in der FAZ für den Abbau des Sozialstaates, der angesichts der Klimaziele und des Ukraine-Kriegs nicht mehr finanzierbar sei. Schlegel wiederholt das sattsam bekannte Argument, eine Anhebung der Sozialabgaben ginge „zulasten der Wettbewerbsfähigkeit unserer stark global ausgerichteten Wirtschaft.“ Hartmut Reiners widerspricht: Weder der Klimawandel noch der Ukraine-Krieg haben irgendeinen Bezug zu den Schieflagen in unserem Sozialversicherungssystem. Wir stehen deshalb auch in der Sozialpolitik nicht vor einer „Zeitenwende“, sondern vor altbekannten Problemen.

Das und einige andere Themen werden Sie in diesem Spotlight Spezial finden. Liebe Leserinnen und Leser, auch wenn wir nicht wirklich glauben dürfen, dass das Neue Jahr besser wird als das vergangene, wollen wir für einen Moment Optimisten bleiben: Wir wünschen Ihnen einen guten Rutsch und ein Frohes Neues!