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Fehlschüsse und Querschläger

| 05. November 2021
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Liebe +Leserinnen und +Leser,

Der EuGH sanktioniert ein Justizurteil des polnischen Verfassungsgerichts mit Strafzahlungen, weil es den generellen Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht infrage stellt. Folgerichtig, da Polen die „Zerstörung des Rechtsstaats“ vorantreiben würde, sind sich nahezu alle Beobachter in der westlichen Hälfte der EU einig.

Die Postwachstumstheorie sei diffus, nicht kohärent, drücke sich vor unbequemen Fragen und hätte auch kein makroökonomisches Fundament, so die Kritik, die unter anderem die Podcaster Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen äußern.

Was haben die Kritiken an Polen und der Postwachstumstheorie gemeinsam? Beide griffen mitunter zu kurz, gehen Fehl, sind unlauter oder wenig faktenbasiert, so die Retour. Die Autoren dieses Spotlights schlagen sich auf die Seite der Angegriffenen – willkommen also bei einem klassischen Pro & Contra.

Der Soziologe Frank Furedi hält nicht viel davon, was der Souveränitätstransfer von den Nationalstaaten zur EU in der Praxis bedeutet: dass jeder Mitgliedstaat seine nationale Souveränität gegen die angeblichen Vorteile der Mitgliedschaft in einem großen föderalistischen Block eintauscht.

Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin der EU könne viel von der „Werte- und Rechtsgemeinschaft“ reden. Tatsächlich aber offenbare von der Leyens herrische Sprache ihre neokoloniale Verachtung für das Recht eines nationalen Gerichts, über die Angelegenheiten seiner Bürger zu entscheiden. Ihre Behauptung, dass die EU "vorrangig sicherstellen muss, dass die Rechte der polnischen Bürger geschützt werden", hieße nichts anderes, als dass sich die EU das Recht anmaßt, sich in die inneren Angelegenheiten Polens einzumischen, so Furedi weiter.

Wolfgang Streeck, seinerseits ebenfalls Soziologe, sieht das ähnlich: So möge der EuGH, oder im Vorgriff darauf die Europäische Kommission, in die Verträge funktionale Gründe für „mehr Europa“ hineinlesen, oder allgemeine Absichten versteckt im Bekenntnis der Mitgliedstaaten zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“, oder „Werte“ wie „Demokratie“ und „Menschenrechte“, die etwa einen auf dem letzten Stand aufgeklärten Sexualunterricht an öffentlichen ungarischen Schulen erfordern.

Sicher sei, dass der Gerichtshof keine Gelegenheit verpassen werde, den Vorrang des europäischen Rechts über das nationale Recht zu bestätigen. Die Amtsausübung des EuGH, der die Legitimität des Rechts an die Stelle der erschöpften Legitimität supranationaler Politik setzen will, erinnert Streeck denn auch an eine Figur in einer Kurzgeschichte von Damon Runyan namens Rusty Charley: Ein kleiner Gangster, der am Broadway der 1940er Jahre seinen Unterhalt verdiente, indem er beim Würfelspiel mit seinen Mit-Gangstern die Würfel in seinem Hut warf und dann das Ergebnis verkündete, ohne es die Mitspieler sehen zu lassen. Obwohl er immer gewann, hatte niemand Lust, dumme Fragen zu stellen, da Charley, so Runyan, "ein Typ war, der es hasste, ein Lügner genannt zu werden".

Fragen aber stellt Daniel Deimling, wenngleich zu einem gänzlich anderen Thema: Warum die Podcaster Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen von „Wohlstand für Alle“ anzweifeln, dass grenzenloses Wachstum bei begrenzten Ressourcen auf Dauer nicht möglich ist. Deimling, der über das Postwachstum seine Dissertation geschrieben hat, wirft den beiden vor, dass ihre Einschätzungen mehr auf ihrem Gefühl und weniger auf Fakten basieren würden.

Fakt hingegen sei, erwidert Deimling, dass wir über unseren Verhältnisse lebten und der Ressourcenverbrauch der Industrienationen in keiner Weise auf die Weltbevölkerung übertragbar sei – wir verbrauchen zu viel von allem. Um auf ein global verträgliches Maß zu kommen, dürften wir nur ein Fünftel von dem konsumieren, was wir heute konsumieren. Um das Zwei-Grad-Ziel der Vereinten Nationen einzuhalten, müssten wir unseren Konsum um 75 Prozent senken. Um Nachhaltigkeit zu erreichen, müssten die industriellen Wirtschaften zunächst sogar schrumpfen, um den sogenannten „Steady-State“ zu erreichen.

Zwei Debattenräume sind offen, treten Sie ein.