Profitgier oder Modernisierung?
Die Ärzteverbände laufen Sturm gegen Kapitalgesellschaften, die in Medizinische Versorgungszentren investieren. Ihre Empörung ist unglaubwürdig, weil sie selbst den Boden für diese Entwicklung bereitet haben. Ein eigenes Konzept für die Zukunft der ambulanten Versorgung fehlt.
Seit einiger Zeit stehen die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) im Fokus einer Kampagne von Ärzte- und Zahnärzteverbänden gegen Investoren, die das Gesundheitswesen als renditeträchtiges Anlageobjekt entdeckt haben. Die Ärztefunktionäre beschwören eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung, weil es den Finanzkapitalisten nur um den Profit und nicht um die Qualität der medizinischen Versorgung gehe.
Reaktionär-konservative Standespolitik
Sicher ist es den Hedgefonds, Private Equitys und anderen Kapitalanlegern herzlich egal, womit sie ihre Renditen erzielen, solange diese ihren Erwartungen entsprechen. So funktioniert der Kapitalismus nun mal. Aber die Ärzteverbände haben selbst mit ihrer Standespolitik dafür gesorgt, dass die ambulante ärztliche Versorgung für den Kapitalmarkt attraktiv geworden ist.
Das Leitbild des Arztberufes ist in Deutschland seit über hundert Jahren die private Einzelpraxis. Dieses Modell genügt schon lange nicht mehr den Anforderungen der modernen Medizin, die kooperatives Arbeiten und integrierte Versorgungsformen benötigt. Die Ärzteverbände haben es versäumt, ökonomisch wie medizinisch sinnvolle integrierte Versorgungsformen zu entwickeln, und jeden in diese Richtung gehenden Ansatz bekämpft.
Diese Politik geht auch an den Vorstellungen der nachwachsenden Generation von Ärztinnen und Ärzten über ihre berufliche Zukunft vorbei, von denen viele lieber als Angestellte arbeiten als eine eigene Praxis zu führen. Über 60 Prozent der Absolventen des Medizinstudiums sind Frauen, die meist einen anderen Blick auf ihre Work-Life-Balance haben als die alte Ärztegeneration. Auch deshalb haben in den Ruhestand gehende niedergelassene Ärztinnen und Ärzte wachsende Probleme, ihre Praxen zu verkaufen.
Eine weitere Steilvorlage der Ärzteverbände für investorengetriebene MVZ ist der von ihnen geführte Kampf für den Erhalt des dualen Systems von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung (GKV, PKV) ein. Mit der Behandlung von Privatpatienten werden deutlich höhere Erträge erzielt als mit den von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gezahlten Vergütungen, was natürlich das Interesse von Investoren weckt. Vor diesem Hintergrund ist die Kampagne gegen investorenbetriebene MVZ unglaubwürdig, wenn nicht heuchlerisch.
Ideologische Borniertheit
Die 2004 eingeführte Zulassung von MVZ zur vertragsärztlichen Versorgung im GKV-System hat eine teilweise skurrile Vorgeschichte. Die ambulante Versorgung wird in Deutschland seit jeher von Einzelpraxen dominiert. Polikliniken und Ambulatorien mit angestellten Ärztinnen und Ärzten haben seit den frühen 1930er Jahren keine Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung. Das Kassenarztgesetz von 1955 hat dieses Modell gesetzlich festgeschrieben.
Schon in den 1970er Jahren zeichnete sich ab, dass es keine Zukunft hat. Die Entwicklung in der Medizin führt zu einer wachsenden Spezialisierung und neuen Anforderungen an die Kooperation und Integration der ärztlichen Fachdisziplinen. Dennoch haben die Ärztefunktionäre an ihrem Modell der Einzelpraxis stets festgehalten und jeden Ansatz zu integrierten Versorgungsformen bekämpft.
Das hatte im Prozess der deutschen Einigung fatale Folgen. Das DDR-Gesundheitswesen war zwar 1989 baulich und technisch in einem erbärmlichen Zustand, aber das regional abgestufte System von Ambulatorien und Polikliniken war dem westdeutschen System der Einzelpraxen organisatorisch überlegen. Daher gab es auch in der alten Bundesrepublik etliche Fachleute, die für den Erhalt seiner Institutionen und deren Integration in das GKV-System eintraten.
Aber die westdeutschen Ärztefunktionäre setzten im Einigungsvertrag die Umwandlung der Ambulatorien und Polikliniken in eigenständige Einzelpraxen kompromisslos durch. Sie wurden dabei auch von Krankenkassenfunktionären unterstützt, denen an einem störungsfreien Verhältnis zur organisierten Ärzteschaft mehr lag als an der Harmonisierung der Polikliniken mit dem Kassenarztsystem.
Gegen die Zerstörung der auf Kooperation und Integration ausgerichteten Einrichtungen des DDR-Gesundheitswesens wehrte sich in der Politik nur Brandenburgs Sozialministerin Regine Hildebrandt. Ihr Ministerium entwickelte gemeinsam mit dem Berliner IGES-Institut ein Konzept zum Umbau von Polikliniken in Einrichtungen, die mit dem Kassenarztrecht des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) kompatibel sind. In diesen Gesundheitszentren genannten Häusern praktizieren niedergelassene neben angestellten Ärztinnen und Ärzten und anderen Gesundheitsberufen unter einem Dach mit gemeinsamer Verwaltung.
Es entwickelte sich in den 1990er Jahren vom Auslaufmodell zur Alternative, wie sogar das Deutsche Ärzteblatt feststellte. Vor allem in der Fachmedizin stiegen die Praxiskosten auf eine von Einzelpraxen zunehmend weniger finanzierbare Höhe. Heute dient das Brandenburger Modell Immobiliengesellschaften als Muster für den Betrieb von multidisziplinären Ärztehäusern.
2003 zog die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt daraus den längst fälligen Schluss und ermöglichte mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) ab 2004 die Zulassung von MVZ mit angestellten Ärztinnen und Ärzten zur vertragsärztlichen Versorgung. Das war auch eine Art Kulturrevolution, weil es zuvor in den Kassenarztpraxen mit Ausnahme von Ärztinnen und Ärzten in der Weiterbildung kein angestelltes ärztliches Personal geben durfte.
Mit welchen ideologischen Verstrahlungen diese Reform zu kämpfen hatte, zeigt eine Anekdote. Im ersten Arbeitsentwurf des Gesetzes wurden diese Einrichtungen noch Gesundheitszentren genannt. Das empörte eine CDU-Abgeordnete, weil es das Modell von Regine Hildebrandt und der DDR sei. Daraufhin ersetzten die Beamten des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) diesen Begriff durch Medizinische Versorgungszentren, ohne sonst ein Wort im Gesetzentwurf zu ändern.
Heuchelei
Später wurden die Rechtsformen der MVZ im SGB V auf Drängen von Ärzteverbänden eingegrenzt. Seit 2012 dürfen sie nur von Personengesellschaften, eingetragenen Genossenschaften und GmbHs betrieben werden (§ 95 SGB V). Aktiengesellschaften sind damit außen vor, auch wenn sie im Hintergrund wirken, etwa als Abrechnungsstellen oder Ärztehäuser betreibende Immobiliengesellschaften. Auch wurde der Anteil von Krankenhaus-MVZ an der kassenzahnärztlichen Versorgung je nach Versorgungsgrad einer Region begrenzt.
Der Gesundheits-Sachverständigenrat hat die Versuche, die Gründung von MVZ mit juristischen Tricks zu behindern, mehrfach kritisiert. Verschiedene von Ärzteverbänden in Auftrag gegebenen Gutachten über die Entwicklung investorenbetriebener MVZ können keine wirkliche Gefährdung der Versorgungsqualität durch diese Unternehmensform belegen. Das ergibt auch eine im Auftrag des BMG erstellte Expertise.
Das heißt natürlich nicht, dass die Expansion von Kapitalinteressen im Gesundheitswesen kein Problem ist. Alle vorhandenen Untersuchungen zu diesem Thema zeigen, dass sich dieses Geschäftsmodell vor allem auf Großstädte und besondere Versorgungsbereiche wie die Augenmedizin, Zahnmedizin, Radiologie und Kardiologie konzentriert, die besonders ertragreich sind. Die allgemein- und fachmedizinische Grundversorgung interessiert sie nur, wenn die Praxen in Regionen oder Stadtteilen mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil von PKV-Mitgliedern liegen. Die investorengetriebenen MVZ verschärfen die großen regionalen Unterschiede in der Versorgungsdichte von Arztpraxen, aber sie sind nicht die Verursacher dieser Disparität.
Die Klagen von Ärztefunktionären über „Heuschrecken“ im Gesundheitswesen wären glaubwürdiger, wenn sie diesen Zusammenhang ansprechen würden. Aber dann müssten sie auch das duale ärztliche Vergütungssystem für Privat-und Kassenpatienten und die damit zusammenhängenden großen Unterschiede in den Praxiseinkünften thematisieren, die Investitionen in Arztpraxen für Investoren so attraktiv machen. Darüber schweigen sie und dürfen sich deshalb nicht wundern, wenn man ihre Kampagne gegen die investorenbetrieben MVZ als Heuchelei bezeichnet.
Erträge von Arztpraxen
Ärztinnen und Ärzte gehören überall zu den Spitzenverdienern. Das ist auch in Ordnung, weil sie eine überdurchschnittliche Verantwortung tragen. Aber in der ambulanten Versorgung sind in Deutschland die Ärzteeinkommen besonders hoch. Sie betragen nach Angaben der OECD im Durchschnitt mehr als das Vierfache des Normaleinkommens. In den meisten anderen europäischen Ländern liegt diese Quote beim Zwei- bis Dreifachen.
Allerdings gibt es unter den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten große Unterschiede in der Ertragskraft. Sie hängen vor allem mit den Einnahmen aus privaten Abrechnungen zusammen. Während in der Allgemeinmedizin sowie in der Kinder- und Jugendmedizin der Anteil der Privatabrechnungen nur bei gut zehn Prozent liegt, macht er in der Augenmedizin, der Orthopädie, der Radiologie und der Zahnmedizin etwa die Hälfte des Umsatzes aus.
Zudem gibt es auch innerhalb dieser Praxen erhebliche Einkommensunterschiede. In der Augenmedizin verdienen die operierenden Praxen sehr viel Geld. Dort sind Erträge nach Abzug der Praxiskosten von 500.000 bis über eine Million Euro keine Seltenheit, während mit konservativen Arztpraxen meist nicht mehr verdient wird als mit einer Hausarztpraxis. In der Chirurgie und der Orthopädie haben ausgewählte Praxen lukrative Verträge als Durchgangsärzte der Berufsgenossenschaften, die deutlich höhere Vergütungen zahlen als die GKV. In der Dermatologie sind Schönheitsoperationen ertragreich, die privat bezahlt werden müssen und auch von der PKV nicht getragen werden.
In der Zahnmedizin erklärt sich der im Durchschnitt bei knapp 50 Prozent liegende Anteil von Privatabrechnungen am Praxisumsatz daraus, dass Zahnersatzleistungen seit 2004 auch von GKV-Mitgliedern selbst bezahlt werden müssen. Sie erhalten von ihrer Kasse nur einen Festzuschuss zu den Abrechnungen der Zahnarztpraxen. Würde der Zahnersatz wieder zu einer Kassenleistung, die er bis 2003 war, würde sich das Interesse von Investoren an Zahnarztpraxen wohl deutlich abkühlen.
Die Gebührenordnung für privatärztliche Leistungen (GOÄ) wurde zuletzt 1996 reformiert, aber auch nur in einigen technischen Abrechnungspositionen. Die Bewertung der meisten GOÄ-Positionen stammt aus dem Jahr 1982. Seither hat sich das medizinische Leistungsspektrum deutlich verändert, was aber von der GOÄ nicht mehr erfasst wird. Für neue medizinische Leistungen gibt es Analogbewertungen, mit denen veraltete GOÄ-Positionen von den Arztpraxen zusammengelegt werden. Das bietet kreative Möglichkeiten zur Abrechnungsoptimierung, was erklärt, weshalb die Privateinnahmen der Arztpraxen trotz scheinbar seit Jahrzehnten konstanter GOÄ-Positionen stärker steigen als die Umsätze aus der kassenärztlichen Versorgung.
Einheitliches Krankenversicherungssystem als Perspektive
Seit Jahren versuchen die Bundesärztekammer und der PKV-Verband vergeblich, sich auf eine neue GOÄ zu verständigen. Sie muss vom BMG in Abstimmung mit den Ländern erlassen werden. Aber Karl Lauterbach schiebt diese heikle Aufgabe auf die lange Bank und macht damit seine Kritik am Vormarsch der Investoren im Gesundheitswesen unglaubwürdig.
Deutschland ist das einzige Land in Europa mit einem dualen System von GKV und PKV als Vollversicherung. In allen anderen Ländern beschränkt sich das Geschäftsmodell der PKV auf Zusatzversicherungen zu den Leistungen der staatlichen Versorgungssysteme oder einer GKV. Sogar der Wirtschafts-Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten 2004 festgestellt, dass sich dieses System weder medizinisch noch ökonomisch begründen lässt.
Würde man es in ein einheitliches Krankenversicherungssystem für alle Einwohner überführen, würde man dem Geschäftsmodell der investorenbetrieben MVZ das Wasser abgraben. Aber wenn die meisten Ärztefunktionäre etwas noch mehr fürchten als die Heuschrecken der Finanzwirtschaft, dann ist es die Bürgerversicherung. Deshalb dürfen sie sich auch nicht über den Vormarsch der investorengetriebenen MVZ beklagen. Das ist der Preis für ihre Standespolitik.