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Warum Solidarität auch ökonomisch vernünftig ist

| 09. Juni 2023
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Moderne Sozialpolitik ist kein bloßes Derivat der Wirtschaftspolitik und Einkommensverteilung ‒ sie hat längst eine eigene ökonomische Dynamik bekommen.

Die Herausgeber einer Denkschrift zu 60 Jahren Sozialgerichtsbarkeit stellen in ihrer Einleitung fest, dass die Ökonomen in der Forschung und Lehre zu Fragen der Sozialstaatlichkeit in den letzten Dekaden massiv an Gewicht verloren haben. Lehrstühle für Sozialpolitik, die früher zur Standardausstattung von Ökonomie-Fakultäten gehörten, gibt es kaum noch. Die in der akademischen Lehre dominierende neoklassische Ökonomik kann mit der Sozialpolitik wenig anfangen. Sie wird auf Sozialabgaben als betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor reduziert.

Die wenigen von der Lehrbuchökonomie präsentierten Abhandlungen zur Sozialpolitik basieren großenteils auf der in den 1950er Jahren in den USA entwickelten Public-Choice-Theorie, die in Deutschland in den 1980er Jahren auch als Neue Politische Ökonomie bekannt wurde. Sie repräsentiert einen „ökonomischen Imperialismus“ (Kenneth Boulding), der die auf die Marktwirtschaft gemünzte Denkfigur des Homo oeconomicus auf die sozialen Sicherungssysteme überträgt. Deren Besonderheiten werden als fatale Abweichungen von marktwirtschaftlichen Regeln interpretiert, ohne zu fragen, ob diese im Sozialstaat überhaupt eine Relevanz haben.

Die seit über 20 Jahren in den Sozialstaat implantierten marktanalogen Mechanismen haben zu schweren Verwerfungen geführt. Dieser Sachverhalt wird im sozialpolitischen Diskurs aber nicht als ökonomisches Problem diskutiert, sondern als Frage der sozialen Gerechtigkeit. Diese „Subjektivierung der Sozialpolitik“ (Stefan Lessenich) blendet die ökonomischen Parameter sozialer und gesundheitlicher Dienste aus, die sich zu einer großen Sozialökonomie entwickelt haben. Zwischen der Ökonomisierung und der Kommerzialisierung der Absicherung sozialer Risiken wird kaum unterschieden. Es mangelt an einer ökonomischen Fundierung der Sozialpolitik als der Steuerung eines Wirtschaftszweiges mit mehr als acht Millionen Beschäftigten, der sich grundlegend von anderen Branchen unterscheidet.       

Eine auskömmliche Rente, eine umfassende gesundheitliche Versorgung, die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit gehören zum Standard moderner Gesellschaften, der auch in der Sozialcharta der EU kodifiziert ist. Private Absicherungen dieser Risiken können sich nur dann legitimieren, wenn sie diese Aufgabe effektiver und wirtschaftlicher wahrnehmen als öffentliche Institutionen. Das ist aber nachweislich nicht der Fall:

  • Eine Arbeitslosenversicherung wird von der Versicherungswirtschaft gar nicht angeboten. Die Arbeitsmarktrisiken sind von Bedingungen abhängig, die von ihren Aktuaren nicht in Versicherungsprämien kalkuliert werden können.
  • Das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung ist weniger krisenanfällig als das von Unwägbarkeiten der internationalen Finanzmärkte und den Interessen von Kapitalanlegern abhängige Kapitaldeckungsverfahren. Dieses hat zudem hohe Overhead-Kosten und unerwünschte externe Effekte, zum Beispiel in Form sprunghaft steigender Preise auf dem Immobilienmarkt als einem bevorzugten Anlagebereich von Pensionsfonds.
  • Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gibt für die gleichen medizinischen Versorgungsleistungen ein Drittel weniger aus als die Private Krankenversicherung (PKV). Die in der Wirtschaftspresse ständig wiederholte Behauptung, ein einheitliches Krankenversicherungssystem führe „zu einer schlechteren Versorgung und weniger medizinischer Innovation“ (FAZ 23.09.2022), ist aus der Luft gegriffen. Das duale System von GKV und PKV hat, wie der Wirtschafts-Sachverständigenrat (2004/2005) feststellte, keine ökonomische Legitimation.
  • In der Pflegeversicherung bietet der von der PKV verwaltete private Zweig die gleichen gesetzlichen Leistungen wie die soziale Pflegeversicherung aber nur als Kostenerstattung, was mit erhöhtem bürokratischem Aufwand für die Versicherten und ihre Angehörigen verbunden ist.

Der Ausbau des Sozialstaats hat ökonomische und soziale Effekte, die neue Steuerungsformen und eine größere Versichertennähe erfordern. Im Gesundheits- und Sozialwesen ist eine bedeutende Dienstleistungswirtschaft entstanden, die aus der Sozialpolitik eine „Güterproduktion“ (Christian von Ferber) gemacht hat. Das Sozialbudget umfasst heute Institutionen und Leistungen, „die sich den bereitliegenden kategorialen Schemata: Herrschaftsverband, Unternehmen, Organisation, System in wesentlichen Aspekten entziehen“. Die gängigen Charakterisierungen der Sozialpolitik als Einkommensverteilung oder „staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter“ greifen daher zu kurz.

Daraus hat sich eine andere Sicht auf die ökonomischen Zusammenhänge der Sozialpolitik ergeben, in der „das Problem der politischen Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse ins Zentrum des sozialpolitischen Interesses getreten“ ist (Franz-Xaver Kaufmann). Deshalb muss die Beschäftigung mit der Sozialpolitik zum einen auf einer Theorie des sozialen Wandels beruhen, der mit veränderten Bedürfnissen infolge der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung einhergeht.

Zum zweiten bewegt sich die Sozialpolitik mit dem Ausbau der gesundheitlichen und sozialen Dienste auf einer neuen ökonomischen Ebene. Sie betrifft nicht nur Einkommenstransfers, sondern läuft auch auf eine erhebliche Ausdehnung nicht marktmäßig gesteuerter Produktionssektoren“ (Kaufmann) hinaus. Die volkswirtschaftlichen Effekte der Sozialpolitik müssen in den theoretischen Erwartungshorizont ihrer Maßnahmen einbezogen werden, denn:

„Eine soziologische Theorie der Sozialpolitik, die dieses aus der (gegenüber den Staatshaushalten) verselbständigten Finanzmasse der Parafiski abgeleitete Element der volkswirtschaftlichen Macht verkennt, verschließt sich einer wichtigen Eigenschaft des Gesellschaftsprozesses, den wir Sozialpolitik nennen.“ (Christian von Ferber)

Anders ausgedrückt: Die moderne Sozialpolitik ist kein bloßes Derivat der Wirtschaftspolitik und Einkommensverteilung, sondern hat eine eigene ökonomische Dynamik bekommen. Daraus ergeben sich nach Christian von Ferber drei Bereiche der wissenschaftlichen Bearbeitung (Hervorhebungen im Original):

  1. Bestimmbarkeit der Bedarfsrelationen im Spektrum möglicher Güterproduktion.
  2. Bestimmbarkeit der Relationen von Ressourcenallokationen zu bedarfsdeckenden Güterproduktionen.
  3. Koordination der produktiven Tätigkeit der Wirtschaftssubjekte ohne zentrale Kontrolle.

Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem Buch „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“, erschienen in der Edition MAKROSKOP.