Internatione Beziehungen

Der Aufstieg Chinas – ein friedlicher Prozess?

| 08. Februar 2023
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Je weiter Chinas Wirtschaftswachstum fortschreitet, um so nervöser scheinen die USA zu werden. Ist die Konfrontation zwischen beiden Ländern unausweichlich? Ein Blick in die Literatur wirkt ernüchternd.

Spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 wird der rasante ökonomische Aufschwung der Volksrepublik China von vielen in Forschung und Politik mit Staunen, Unbehagen oder gemischten Gefühlen betrachtet. Die Frage, die im Raum schwebt: Kann der Aufstieg Chinas friedlich verlaufen? 

In der politikwissenschaftlichen Literatur der Internationalen Beziehungen wird dies kontrovers diskutiert. Randall Schweller[1] als Anhänger der Theorie des neoklassischen Realismus erwartet, dass sich die zukünftigen außenpolitischen Bestrebungen von China und den USA gegenseitig ergänzen und der Aufstieg Chinas daher weitgehend harmonisch verlaufen wird.

Weitaus pessimistischer ist John Mearsheimer, Professor für Politikwissenschaft an der University of Chicago und Vater der Theorie des offensiven Neorealismus. Seiner Einschätzung nach wird es früher oder später zwangsläufig zur Konfrontation kommen zwischen China und den USA, dem bis dato alleinigen Hegemon.

Mearsheimer: Überleben in einer Welt der Anarchie

In seinem Bestseller The Tragedy of Great Power Politics[2] hat Mearsheimer eine systemische und äußerst sparsame Theorie Internationaler Politik entworfen: den offensiven Neorealismus. Dieser basiert auf fünf einfachen Annahmen:

  • Die Struktur des internationalen Systems basiert auf dem Ordnungsprinzip der Anarchie – es existiert keine übergeordnete souveräne Instanz, die aggressives bzw. schädliches Verhalten von Staaten effektiv sanktionieren könnte.
  • Staaten verfügen über unterschiedlich starke offensive militärische Fähigkeiten, die ihnen zumindest die Möglichkeit eröffnen, sich gegenseitig anzugreifen und daher stets bedrohlich wirken.
  • Zwischenstaatliche Beziehungen sind geprägt von permanenter Unsicherheit über die Intentionen des jeweils anderen, insbesondere über die gegnerische Entschlossenheit bezüglich des Einsatzes ihrer offensiven militärischen Fähigkeiten.
  • Die Sicherung des eigenen Überlebens im Sinne des Erhalts von nationaler Souveränität und territorialer Integrität gilt als oberstes Staatsziel.
  • Nationalstaaten respektive Großmächte sind die wesentlichen Akteure internationaler Politik; sie handeln rational und treten als Einheit auf.

Daraus folgt, dass Staaten ihr Überleben in einer von Angst und Unsicherheit geprägten, anarchisch aufgebauten Welt ohne übergeordneten Nachtwächter nur gewährleisten können, indem sie sich primär selbst helfen und ihre nationale Sicherheit ausbauen.[3] Die Gewährleistung der nationalen Sicherheit gelingt Mearsheimer zu Folge am effektivsten, wenn Staaten bei außenpolitischen Entscheidungen stets versuchen, ihre Machtposition im internationalen System zu verbessern. Denn umso größer diese ist, desto größer ist auch der außenpolitische Handlungsspielraum von Staaten.

Das Ziel jeder aufstrebenden Großmacht ist demnach, immer die eigene Macht relativ zum Gegner bzw. zu allen anderen Staaten auszubauen, bis man den Status eines regionalen Hegemon in einem sodann unipolaren internationalen System erreicht hat. Fortan gilt es, diesen Status durch die Verhinderung des Aufstiegs anderer Großmächte in anderen Teilen der Welt zu verteidigen, denn die Machtprojektion einer Großmacht und die damit verbundene Sicherheitsbedrohung reicht in der Regel über die heimische geopolitische Einflusssphäre hinaus.

Eine chinesische „Monroe Doktrin“

Mit Blick auf China stellt Mearsheimer fest, dass sich das chinesische Bedrohungspotenzial im asiatischen Raum zukünftig enorm erhöhen wird, wenn die chinesische Wirtschaft weiter so rasant wächst. Denn ökonomische Macht ist die Basis für militärische Macht und erstere kann jederzeit in letztere transformiert werden. China ist bereits jetzt Nuklearmacht und besitzt die mit Abstand größte Truppenstärke in Asien. Wie jede aufstrebende Großmacht wird folglich auch China nach regionaler Hegemonie streben und damit die vorherrschende Polarität, das heißt die relative Machtverteilung des internationalen Systems anfechten.

Als östliches Spiegelbild des westlichen Hegemon USA wird China eine eigene „Monroe Doktrin“ verfolgen, indem es keine Sicherheitsbedrohungen im chinesischen Hinterhof tolerieren wird. Mit anderen Worten: China wird versuchen die USA aus dem asiatisch-pazifischen Raum zu verdrängen. Gleichzeitig wird Peking versuchen, seine Macht in die US-Einflusssphäre zu projizieren, um auch über intensive Beziehungen zu anderen westlichen Staaten die Autorität Washingtons zu untergraben.

Die USA werden sich einen solchen Affront jedoch nicht kampflos bieten lassen. Gemeinsam mit einigen chinesischen Nachbarn wie Indien, Russland, Japan, Singapur, Australien, Vietnam und/oder Südkorea wird es zu einer US-geführte Allianz kommen, um gemeinsam eine neue Containment-Politik zu etablieren – eine defensive Strategie zur Verhinderung der Ausbreitung des territorialen Einflusses von China. Die chinesischen Nachbarstaaten werden sich also eher auf die amerikanische als auf die chinesische Seite schlagen, da China aufgrund der geographischen Nähe die größere Sicherheitsbedrohung darstellt. Die US-Koalition wird vor allem versuchen, das chinesische Wirtschaftswachstum auszubremsen, um China unter Inkaufnahme eigener Verluste ökonomisch relativ stärker zu schwächen. Denn Sicherheit überwiegt Wohlstand – wer nicht überlebt, kann auch nicht prosperieren.

Als Ergebnis prognostiziert Mearsheimer einen intensiven Macht- bzw. Sicherheitswettbewerb zwischen China und der US-Koalition: Wettrüsten, Stellvertreterkriege, Regime-Change-Versuche, innenpolitische Freund-Feind-Propaganda, Reisebeschränkungen und/oder Exportkontrollen. Gleichwohl wird es zumindest vereinzelt bei gemeinsamen globalen Problemen wie der Rüstungskontrolle oder dem Klimawandel zur Kooperation kommen.

Gefahr eines atomaren Konflikts höher als im Kalten Krieg

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen direkten atomaren Krieg zwischen China und den USA gering bleibt, ist sie für Mearsheimer insgesamt dennoch höher als zu Zeiten des Kalten Krieges. Zum einen stellt Asien ein multipolares Ungleichgewicht dar. Mehrere unterschiedlich starke potenzielle Großmächte wie Indien, Russland, China oder Japan fürchten die Intentionen und offensiven militärischen Fähigkeiten des jeweils anderen – Fehlkalkulationen sind also wahrscheinlicher.

Zweitens besteht Asien nicht aus einem großen Schlachtfeld wie Europa im Kalten Krieg, sondern aus vielen kleinen wie Südkorea oder Taiwan. Dadurch sinken die Kosten pro Schlacht, was diese wahrscheinlicher macht. Da kleine Schlachten keine signifikante internationale Machtverschiebung provozieren, wirkt auch die nukleare Abschreckung weniger effektiv. Die USA werden keinen Atomkrieg riskieren, „nur“ weil China Taiwan einnimmt.

Schließlich könnte der Sicherheitswettbewerb zwischen beiden Staaten den „Hypernationalismus“ in China weiter anheizen und die USA immer mehr als existenzieller Feind wahrgenommen werden. Die Folge wäre ein befeuerter Sicherheitswettbewerb, der die Hemmschwelle für einen Krieg innerhalb der chinesischen Bevölkerung senken würde.[4] Kurzum: Nach Mearsheimers Analyse sind die Aussichten alles andere als rosig.

Schweller: Unterschiedliche Nationalismen

Nicht so für Randall Schweller: Der neoklassische Realismus folgt weitgehend den systemischen neorealistischen Grundannahmen, ergänzt diese jedoch um eine subsystemische Variable: Der außenpolitische Handlungsspielraum von Staaten wird nicht mehr a priori durch die individuelle relative Machtposition determiniert. Entscheidend ist zudem, wie die systemischen Zwänge, die sich daraus ergeben, innenpolitisch wahrgenommen werden.

Was die zukünftigen amerikanisch-chinesischen Beziehungen betrifft, identifiziert Schweller Nationalismus – den Realismus der Innenpolitik – als den zentralen Einflussfaktor auf die innenpolitische Wahrnehmung in beiden Ländern. Akkumulation und Projektion von Macht sind abhängig von einem starken Staat, der wiederum nur so stark ist, wie er fähig ist, die hierfür notwendigen Ressourcen aus seiner Gesellschaft zu mobilisieren. Nationalismus dient dazu, die Bevölkerung mit dem Ziel zusammenzuschweißen, staatliche Macht zu gewinnen und im Sinne des nationalen Interesses zu nutzen.

Hierbei stellt Schweller jedoch fest, dass aufsteigende und absteigende Großmächte unterschiedliche Nationalismen erfahren. Bei einer aufsteigenden Großmacht mit hohem Wirtschaftswachstum fungiert Nationalismus als eine Art kumulativer Prozess: entweder wird dieser durch die nationale Unzufriedenheit über zu wenig internationalen Einfluss oder durch die nationale Ermutigung über neu gewonnen internationalen Einfluss geschürt.

Bei einer absteigenden Großmacht hingegen wird der Nationalismus in erster Linie durch die nationale Unzufriedenheit über zu hohe Kosten geschürt, die mit der Aufrechterhaltung des internationalen Status Quo verbunden sind. Präferiert wird daher ein „fairer“ Kostenausgleich (Burden-Sharing), zum Beispiel durch einen unilateralen Rückzug oder eine Neuverteilung zu eigenen Gunsten.

Chinesische Expansion, amerikanischer Rückzug

Auf dieser theoretischen Grundlage argumentiert Schweller, dass die vor allem ökonomisch bedingte aufsteigende Großmacht China – getrieben von einem nach mehr internationalem Einfluss strebenden extrovertierten Nationalismus – zukünftig eine noch stärkere Außenpolitik der Expansion verfolgen wird. Die chinesische Affinität für neue Handelsabkommen, Chinas Engagement in Afrika sowie Pekings Großprojekt einer Neuen Seidenstraße dienen als Paradebeispiele einer solchen expansiven Außenpolitik.

Anders die USA: Aufgrund eines nach weniger internationalem Einfluss strebenden introvertierten Nationalismus werden sie eher eine Außenpolitik der Zurückhaltung bzw. des Rückzugs etablieren. Die Trump’sche Außenpolitik des „America First“ stützt diese Annahme. Ein unilateraler Rückzug erfolgte zum Beispiel beim US-Austritt aus dem Pariser Klima- oder dem Iran-Atomabkommen. Gleichzeitig fordern die USA im Rahmen der NATO eine gerechtere Kostenverteilung durch mehr finanzielle Beiträge der europäischen Allianzpartner.

Da sich die außenpolitischen Bestrebungen Chinas und der USA also weitgehend gegenseitig ergänzen, steht für Schweller einem harmonisch-friedlichen Übergang von der unipolaren hin zu einer multipolaren Ordnung (wenn man Russland als weniger starke Großmacht mitberücksichtigt) nichts im Wege. China wird das Machtvakuum des US-Rückzugs füllen, während die USA eine kostengünstigere New Grand Strategy des Offshore-Balancing prüfen werden. Dabei werden die USA versuchen, die Balancing-Kosten in erster Linie auf die chinesischen Nachbarstaaten abzuwälzen (Buck-Passing) sowie durch einen globalen Truppenabzug weitere Kosten einzusparen. Die USA werden außenpolitisch versuchen, hauptsächlich von US-Boden aus zu operieren und nur noch in Übersee eingreifen, wenn die Bedrohung durch China so groß wird, dass die anderen asiatischen Staaten die Balancing-Last nicht mehr alleine stemmen können.

Fazit: Mearsheimers Prognose bewahrheitet sich

Beide Theorien bieten plausible Argumente sowohl für einen friedlichen als auch kriegerischen Aufstieg Chinas. Entscheidend scheint, ob man einen Blick auf die Innenpolitik von Staaten wirft oder nicht. Spätestens seit der Abwahl von US-Präsident Donald Trump scheint der von Schweller diagnostizierte introvertierte Nationalismus zumindest in den außenpolitischen Entscheidungskanälen wieder in den Hintergrund getreten zu sein. Wenngleich auch Joe Biden entgegen vielen Erwartungen in Afghanistan eine bedeutsame Rückzugsentscheidung getroffen hat.

Aus heutiger Sicht scheint sich Mearsheimers pessimistische Prognose (von 2014!) immer mehr zu bewahrheiten. Bereits gegen Ende seiner Amtszeit hat Trump auch mit Unterstützung aus dem demokratischen Lager einen neuen amerikanisch-chinesischen Handelskonflikt vom Zaun gebrochen. Biden führt diesen bis dato konsequent fort – wenn auch in deutlich diplomatischerem Jargon. Ferner hat der russische Angriff auf die Ukraine und der daraus resultierende neue Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen den Anschluss Russlands an eine US-geführte Anti-China-Koalition verunmöglicht. Hingegen rücken Russland und China immer enger zusammen, was einem strategischen Albtraum für die Containment-Ambitionen der USA im asiatischen Raum gleichkommt.

Auch vor diesem Szenario hatte Mearsheimer bereits früh gewarnt: Basierend auf seinen neorealistischen Überlegungen wies er eindringlich darauf hin, dass eine ungebremste NATO- und EU-Osterweiterung, nicht nur eine ernsthafte Gefahr für die Stabilität des internationalen Systems darstellt, sondern Russland im Falle eines militärischen Konflikts mit dem Westen geradewegs in die Arme Chinas treiben wird.[5]

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[1] Schweller, Randall (2018). Opposite but Compatible Nationalisms: A Neoclassical Realist Approach to the Future of US–China Relations, The Chinese Journal of International Politics, 23–48.
[2] Mearsheimer, John J. (2014a). The Tragedy of Great Power Politics. Updated Edition. New York, London: W.W. Norton & Company.
[3] Eine Ausnahme bilden Allianzen, die aber in erster Linie als temporäre Zweckbündnisse gegen eine größere externe Sicherheitsbedrohung anzusehen sind (Externes Balancing).
[4] Dieser letzte Punkt lässt sich allerdings nicht unmittelbar aus der offensiven neorealistischen Theorie ableiten, da er subsystemische respektive innenpolitische Faktoren in den Fokus rückt.
[5] Mearsheimer, John J. (2014c). Why the Ukraine Crisis Is the West's Fault: The Liberal Delusions That Provoked Putin. Foreign Affairs, 93(5),77-84.