Der Weg zur Knechtschaft

Auch Olaf Scholz ist ein Fan Hayeks

| 16. April 2024
IMAGO / Chris Emil Janßen

Es wäre an der Zeit, dass die Sozialdemokratie die „Anti-System Politics“ nicht den Rechten überlässt. Dazu allerdings wäre ein Paradigmenwechsel notwendig, für den das Personal fehlt.

Nicht wenige waren überrascht, dass der dem Parteibuch nach sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz dem Begründer der neoliberalen Konterrevolution, Friedrich-August-von-Hayek, seine Aufwartung machte. Scholz hatte die Einladung der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung zum 80sten Jubiläum des Werks „Der Weg zur Knechtschaft“ (diesen Weg meinen Hayek und seine Anhänger in jeder Abkehr von der Herrschaft des Marktregimes zu erkennen), nicht etwa ausgeschlagen, sondern angenommen. Vermutlich fühlte er sich geschmeichelt.

Auch ich war zunächst überrascht. Ein Sozialdemokrat beim Klassenfeind? Das ist lange her. Bereits seit dem Ende der 1990er Jahre, unter anderem im Gefolge des Desasters, welches die Sozialdemokratie in Frankreich unter Francois Mitterrand in einer bereits recht weit globalisierten Welt erleben musste, hat sich die Sozialdemokratie zum Neoliberalismus bekannt und sich von ihren Ambitionen der Bändigung der Marktdynamik durch „Sozialprotektionismus“ verabschiedet.[1]

Für schon neoliberal Imprägnierte wurde die nur mehr nominelle Sozialdemokratie zu einer „Marke“, mit Hilfe derer sich Wahlen gewinnen lassen. Lang ist’s her. Hoffnungsvolle Sozialdemokraten schickten sich an, aus der Not eine Tugend zu machen und die Konservativen und Liberalen in der Hofierung des Kapitals zu überbieten – weil genau diese „Wirtschaftskompetenz“, so die neue, marktgläubige Überzeugung, ihren sozialdemokratischen Ambitionen am besten diene.

Auch Scholz, bekanntlich als SPD-Generalsekretär federführend bei der Agenda 2010 dabei, hatte sich belehren lassen. In den späten 1980er Jahren, als Scholz Vizevorsitzender der Jusos war, hatte er dem Vorsitzenden, Willi Piecyk, bei irgendeinem Streit noch zugerufen: „Weil du den Kapitalismus nicht so sehr hasst wie ich!“ Innerhalb dieser rund 15 Jahre tat der Wettbewerb (vor allem der globale Standortwettbewerb, den die Neoliberalen zuvor von den Fesseln befreit hatte, die ihm die sozialdemokratisch geprägte Politik der Nachkriegswirtschaft angelegt hatte) sein Werk, als „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) zu dienen und den Menschen, auch der Politik, zu sagen, was sie tun sollen und für richtig zu halten haben. Was auf maximale Heteronomie, also Unfreiheit hinausläuft.

Nun ist Scholz bereits seit gut 20 Jahren bekehrt und so nahm er, heute als Kanzler (hier seine Rede) die „Aufgabenbeschreibung“ bereitwillig an, die ihm von Hayek als einem selbsternannten „original thinker“ zugewiesen wurde – nämlich als „Pragmatiker“ „der Freiheit“. Hayek selbst sah sich als „Philosoph“ (wohl eher: als Philosophenkönig), der die „Grundbegriffe“ (bzw. die Leitprinzipien) formuliert, „die das Denken des einfachen Mannes und auch der politischen Führer bestimmt und ihr Handeln leitet“.[2]

Wie sich Scholz leiten lässt, zeigt sich wie folgt: Da es keine „Freiheit von wirtschaftlicher Notwendigkeit“ geben darf[3], darf die Klimakatastrophe, so Scholz, nicht etwa durch weniger Produktion von (unnützem?) Zeug abgewendet werden, obwohl dies doch eigentlich nahe läge,[4] sondern durch noch mehr Produktion und folglich Konsum (der vor allem oben an- bzw. abfällt). Ungeachtet der Expertendiskurse, die eine klimapolitisch hinreichende absolute Entkopplung des CO2-Ausstoßes vom BIP-Wachstum ins Reich der Illusionen verweisen,[5] möchte Scholz am Wachstumskurs festhalten, meint diesen aber hinreichend „klimafreundlich organisieren“ zu können.

Klar, in den Kreisen, in denen er sich bewegt – persönlich und medial – würde ein Votum für „de-growth“ bzw. eine „Reduzierung der [bzw. unnötiger und in besonderem Maße klimaschädlicher] industriellen Aktivitäten“ (Expertenrat für Klimafragen) nur Kopfschütteln auslösen.[6] Denn eine Abkehr vom Wachstum würde den Kapitalverwertungsprozess, um dessen „Freiheit“ es ja letztlich geht, zum Erliegen bringen. Und er würde eine ganz neue Ausrichtung der Politik erfordern, für die heute einfach, soll eine soziale Katastrophe vermieden werden, das entsprechend aufgestellte Personal fehlt.

Warum wir weiter wachsen müssen, obwohl in Deutschland (von den Eliten abgesehen) praktisch niemand mehr meint, das Land als Ganzes müsse „wohlhabender“ werden, deutet Scholz mit dem Hinweis auf „Disruptionen“ an. Gemeint ist offenbar das „Zerstörerische“ am (für andere) „schöpferischen“ Wettbewerb. Diese „Disruptionen“ werden als unabänderliches Faktum präsentiert („Es ist die Wahrheit“) und bilden den Ausgangspunkt aller Politik. Entweder würden „Wachstumsbremsen gelöst“, wozu vor allem die Hofierung des Kapitals zähle („Angebotspolitik“), oder es drohe Armut und Niedergang, denn ansonsten wären „nicht mehr viel Einkommen zu erwarten“. Eigenartig, dass in diesem Zwang zum immer Mehr nicht ein Widerspruch zum Freiheitspathos erblickt wird.

Aber woher kommt denn diese „Disruption“, die – in den Worten Hayeks – „die Leute dazu nötigt, rational (sprich: marktkonform) zu handeln, um sich selbst zu erhalten“? Nun, unter anderem just aus dem „Freihandel“, dem sich Olaf Scholz selbstverständlich verschrieben hat. (Als einer der letzten, wie er keck im Kreise finanziell gut ausgestatteter Huldiger „freier Märkte“ ergänzt, was als Hinweis auf den Überbietungsanspruch neoliberalisierter Sozialdemokraten gedeutet werden darf.) Denn „freier Handel“ sorge für „mehr Innovation und niedrigere Preise“. Dumm nur, dass niedrigere Preise für die einen systematisch auch niedrigere Einkommen für die anderen bedeuten.[7] Denn man zahlt ja nun weniger an den, dem man vorher mehr gezahlt hat. Und da haben wir sie, die „Disruption“.

Selbstverständlich kommt es Scholz nicht in den Sinn, diesen Zusammenhang zu sehen. Auch verrät er uns nicht, wie denn „freier Handel“ (übrigens: auch im Inneren) für Preissenkungen „sorgt“. Nun, offenbar durch Verdrängung. Es würde einfach zu viele Fragen aufwerfen, zu formulieren: „Freier Handel zwingt zu Innovation und niedrigen Preisen“ – übrigens: durch die vormalige „Innovation und niedrige Preise“ seitens der Angreifer.

Das Ergebnis ist eine Politik, die sicherstellt, dass „die Menschen sich ständig den Anpassungen unterwerfen müssen, die der Markt von ihnen verlangt“ (Hayek). Und die nicht etwa daran geht – durch Sozialpolitik oder Regulierung – Schutz vor diesen Zwängen zu bieten.

Gleichwohl sei Sozialpolitik nötig und „dem Sozialstaat“ keine Absage zu erteilen. Auch Hayek selbst habe sich ja für eine „Mindestsicherung“ ausgesprochen – offenbar, weil und insofern ohne eine solche ‚wertvolles Humankapital verschwendet‘ werden könnte, falls die Leute einfach verhungern. Abgesehen davon ist Hayek davon überzeugt, dass Ungleichheit bzw. Einkommensverluste „höchst erfreulich“ seien, da erst sie zu weiteren Einkommenserzielungsanstrengungen zwingen, woraus Wachstum folge. Das „Volkseinkommen“ werde eben, so fasst Paul Samuelson diesen Gedanken, systematisch „durch die Unterlassung von Umverteilungsmaßnahmen maximiert“.

Sozialpolitik sei, so Scholz, zum einen nötig, um „die klügsten Köpfe weltweit“ anzulocken – auf dass das deutsche Exportkapital vom Standort Deutschland aus weitere Märkte erobern bzw. ausländische Einkommenspositionen vernichten kann. Zum anderen, um „Populisten und Extremisten“ (gemeint ist offenbar vor allem die AfD) den Wind aus den Segeln zu nehmen, da diese Partei bekanntermaßen weiter überdurchschnittlich von Leute gewählt werden, die ihre Rente oder ihr Lebensstandard gefährdet sehen. Nötig sei dies, weil „diese Populisten und Extremisten“ ein „Risiko auch für die wirtschaftliche Entwicklung“ darstellten. Würden sie kein solches „Risiko“ für die Kapitalverwertung darstellen, könnte man sich in dieser Logik zumindest diesen Teil der Sozialpolitik sparen.

Auffällig ist, dass von Scholz kein anderen denn marktkonforme, der Standortsicherung und den Kapitalverwertungschancen dienliche Argumente ins Feld geführt werden. Alles, was die Politik tut, muss mindestens marktkonform, allenfalls marktneutral, aber es darf niemals marktwidrig sein. Sozialpolitik ist nicht nötig, weil die Leute es verdienen, weil es unanständig ist, dass die Leute in einer reichen Gesellschaft wie der unsrigen darben, weil ein Leben ohne soziale Sicherheit Stress ist, weil sie von den Gierigen via Wettbewerb verdrängt wurden. All dies spielt keine Rolle mehr.

Kein Wunder, dass es um die neoliberalisierte Sozialdemokratie schlecht steht. (Im Osten des Landes steht die SPD teilweise knapp davor, an der 5-Prozenthürde zu scheitern.) Dies vor allem, weil ihre „angebotsorientierte“, also kapitalhofierende Politik, die auch sie seit nunmehr gut 30 Jahren betreibt, genau die „starke soziale und politische Polarisierung in der westlichen Welt“ befeuert, die die kanadische Polizei in einer geleakten (und weitgehend geschwärzten) Studie vor „Unruhen“ warnen lässt, „sobald die Bürger die Hoffnungslosigkeit ihrer wirtschaftlichen Situation erkennen".

Es wäre an der Zeit, dass die Sozialdemokratie die „Anti-System Politics“ (Jonathan Hopkin) nicht den Rechten überlässt. Dazu allerdings wäre ein Paradigmenwechsel notwendig, für den, wie gesagt, das Personal fehlt, weil entsprechende zündende Ideen praktisch nirgends verankert sind. Voraussetzung wäre ein Kanzlerkandidat, der die Stärke aufbringt, „der Vollendung des hayekianischen Gesellschaftsmodells der Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft“ (Wolfgang Streeck) eine Absage zu erteilen.

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[1] Die an Karl Polanyi angelehnte Grundthese Hopkins besagt, dass eine Politik, die auf soziale Schutzmaßnahmen gegen die zerstörerischen Kräfte des Wettbewerbs verzichtet, zu Gegenreaktionen in Form von systemkritischen politischen Gegenströmungen führt, sei es von links oder, wie heute zumeist, von rechts. Siehe Hopkin, Jonathan: Anti-System Politics. The Crisis of Market Liberalism in Rich Democracies, Oxford 2020.
[2] zit. nach Ötsch, Walter Otto: Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Das Elend des Martkfundamentalismus, Marburg 2019., S. 137.
[3] Hayek, Friedrich August. von: The Pure Theory of Capital, London 1941, S. 408.
[4] Verbrauchsreduktionen – vor allem natürlich beim „Überkonsum“ der Hocheinkommensbezieher – sind der rascheste und unmittelbarste Weg, den Klimakollaps abzuwenden. Eine Dekarbonisierung der nach wie vor zu rund 80 Prozent fossilen Energiebereitstellung wird in den wenigen Jahren, die uns zur Verfügung stehen, nicht zu schaffen sein. Dies erst recht angesichts derzeit durch die Decke schießender Temperaturanstiege, die die Forscher überraschen – und bestürzen. Das CO2-Budget ist offenbar noch viel geringer, als die offizielle Klimaforschung bislang annahm.
[5] Ein Schlaglicht dazu: Würde die Minderheit derjenigen Industrieländer, die eine absolute Entkopplung der Emissionen vom Wachstum hinbekommen haben, so weitermachen wie bisher, so würde sie 220 Jahre benötigen, um ihre Emissionen um 95 Prozent zu reduzieren. Sie würden dabei 27-mal mehr emittieren, als es ihrem fairen Anteil für die Erreichung vereinbarter Klimaziele entspräche. Und dabei ist ihre historische Verantwortung noch nicht einmal einbezogen. Vgl. Vogel, Jefim/Hickel, Jason: Is green growth happening? An empirical analysis of achieved versus Paris-compliant CO2-GDP decoupling in high-income countries, in: Lancet Planet Health 2023; 7: e759-769.
[6] Eine solche Reduktion diente dem doppelten Zweck der unmittelbaren Emissionsreduktion einerseits, des Freischaufelns von Kapazitäten für die Dekarbonisierung andererseits. Ob damit technisch eine BIP-Schrumpfung oder gar eine Steigerung verbunden wäre, steht auf einem anderen Blatt
[7] Wer annimmt, diese gelte zwar für Preissenkungen durch Lohndrückerei, nicht aber für materielle Produktivitätssteigerungen aus „innovativer“ Technik, übersieht den daraus erwachsenden Preiswettbewerb. Was den Interbranchenwettbewerb um die „neue Ware“ (Schumpeter) – dank „innovativer“ Produkte – anbelangt, so stufte Schumpeter diesen als „um so viel wirkungsvoller“ bzw. zerstörerischer als den reinen Preiswettbewerb ein, „wie es ein Bombardement ist im Vergleich zum Aufbrechen einer Tür“. Schumpeter, Josef Alois: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl., Tübingen, 1993, S. 140.